Kitabı oku: «Les Misérables / Die Elenden», sayfa 10
VII. Wie es im Herzen eines Verzweifelten aussieht
Versuchen wir es klar zu legen.
Die Gesellschaft muß dergleichen Dinge ihrer Beachtung würdigen, denn sie giebt ja den Anlaß zu ihrer Entstehung.
Jean Valjean war, wie schon erwähnt, ohne Bildung; aber doch auch kein Dummkopf. Seinem Verstand erleuchtete ein natürliches Licht. Das Unglück, das aufhellend wirkt, verstärkte dieses schon vorhandene Licht. Die Stockschläge, die Last der Kette, die Qualen der Zellenhaft, die Ueberarbeitung, die Härte seiner Lagerstätte zwangen ihn Einkehr in sein Gewissen zu halten und nachzudenken.
Er unterwarf also seinen Fall einer sorgfältigen Prüfung und lud zunächst sich selber vor das Tribunal seines Gewissens.
Als Resultat der Untersuchung ergab sich, daß er kein ungerecht bestrafter Unschuldiger war. Er gestand sich ein, daß er zu weit gegangen, daß er sich etwas Tadelnswerthes hatte zu Schulden kommen lassen. Man hätte ihm das Brod vielleicht nicht abgeschlagen, wenn er darum gebeten hätte. Er konnte warten, bis man es ihm aus Mitleid schenkte, oder er es mit seiner Hände Arbeit verdiente. Der Einwand, daß ein Hungriger nicht warten könne, war auch nicht stichhaltig. Denn es ist selten, das; ein Mensch wörtlich Hungers stirbt. Glücklicher oder unglücklicher Weise kann der Mensch viel aushalten, in moralischer und physischer Hinsicht, ohne zu sterben. Er hätte sich also gedulden sollen, was auch im Interesse der Kinder das Beste gewesen wäre. Es war eine Thorheit, daß er, schwach wie er als Einzelner war, gewaltthätig gegen die Gesellschaft wurde und sich einbildete, der Diebstahl werde ihn aus dem Elend retten. Auf dem Wege, der zur Schande führt, konnte er doch nicht aus dem Elend herauskommen! Kurz er sah ein, daß er nicht recht gethan hatte.
Nun warf er die Frage auf, ob er allein schuld an seinem Unglück sei. Ob das nicht eine bedenkliche Sache war, daß es ihm, einem Arbeiter, an Arbeit, ihm, einem fleißigen Menschen, an Brod gefehlt habe. Ob ferner, nachdem das Vergehen begangen und eingestanden war, die Strafe nicht übertrieben hart ausfiel. Ob das Gesetz nicht zu weit gegangen in der Bestrafung, wie er in seiner Verschuldung. Ob nicht auf der einen Wagschale, derjenigen, auf der die Sühne lag, ein Uebergewicht vorhanden war. Ob nicht die übermäßige Härte der Strafe das Vergehen aufhob und nicht das Verhältnis umkehrte, so daß jetzt die richtende Gewalt die Stelle des Verbrechens einnahm, der Verurtheilte und Schuldige sich als derjenige Theil erwies, dem Unrecht widerfahren war, als Gläubiger, nicht mehr als Schuldner. Ob die Strafe, samt ihren, wegen der Fluchtversuche auferlegten Verschärfungen sich nicht schließlich zu einer Art Attentat des Stärkeren gegen den Schwächern, zu einem Verbrechen der Gesellschaft gegen ein Individuum zuspitzte, zu einem Verbrechen, das sich täglich wiederholte, das neunzehn Jahre lang begangen wurde.
Er fragte sich auch, ob die Gesamtheit das Recht habe, die Folgen der unvernünftigen staatlichen Einrichtungen und der unerbittlichen Härten des Gesetzes dem Einzelnen aufzubürden, und einen armen Teufel in die Enge zu treiben zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, zu wenig Arbeit und zu viel Strafe.
Ob es nicht eine Ungeheuerlichkeit sei, daß die Gesellschaft gerade die vom Zufall am wenigsten Begünstigten so behandle, also gerade diejenigen, die am meisten der Schonung bedürften.
Nachdem er diese Fragen gestellt und gelöst, sprach er das Urtheil über die Gesellschaft.
Es lautete, daß sie seines Hasses schuldig sei.
Er machte sie für sein unglückliches Loos verantwortlich und sagte sich, er werde vielleicht sich nicht bedenken, eines Tages Rechenschaft von ihr zu verlangen. Er erklärte in seinem Innern, es bestehe kein Gleichgewicht zwischen dem Schaden, den er verursacht, und demjenigen, den man ihm, zugefügt hatte. Er zog endlich das Facit, daß seine Bestrafung zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit war.
Der Groll kann thöricht und abgeschmackt sein, wer erzürnt ist, hat dazu nicht immer einen zulänglichen Grund; aber entrüstet ist man nur, wenn man in irgend einem Punkte Recht hat. Jean Valjean empfand Entrüstung.
Ueberhaupt hatte ihm die Gesellschaft nur Böses zugefügt. Wenn sie ihm ihr Antlitz zukehrte, geschah es nur um Zorn zu bekunden, auf ihn loszuschlagen, was sie »Gerechtigkeit« nannte. Die Menschen hatten sich um ihn nur bekümmert, um ihn zu martern. Bei jeder Berührung mit ihnen fiel ein Schlag auf ihn. Seit seiner Kindheit, seitdem er seine Mutter verloren, seitdem er von seiner Schwester getrennt war, nie war ihm ein freundliches Wort, nie ein wohlwollender Blick gespendet worden. Die endlosen Qualen befestigten in ihm schließlich die Ueberzeugung, das Leben sei ein Kampf, indem er den Kürzeren gezogen habe. Er hatte keine andre Waffe, als seinen Haß. Diese beschloß er im Gefängniß möglichst scharf zu machen und sie mitzunehmen, wenn er in die Welt hinausgehen würde.
In Toulon gab es eine, von den Ignorantinern gehaltne Schule, wo den Sträflingen, die sich freiwillig dazu meldeten, das Notwendigste gelehrt wurde. Jean Valjean nahm an diesem Unterricht theil, und lernte im Alter von vierzig Jahren lesen, schreiben und rechnen. Er hatte die Empfindung, daß eine Stärkung seines Verstandes auch seinen Haß stärken würde. Bildung und Klugheit eignen sich nicht blos zur Förderung des Guten, sondern machen auch das Böse mächtiger.
Leider richtete Jean Valjean nicht nur die Gesellschaft, die schuld an seinem Unglück war; er richtete und verurtheilte auch die Vorsehung, die die Gesellschaft geschaffen.
Auf diese Weise schritt er während seiner neunzehnjährigen Qual und Sklaverei auf dem Wege der Erkenntnis sowohl vorwärts, als auch rückwärts. Auf der einen Seite drang Licht, auf der andern Finsternis in seine Seele.
Jean Valjean, haben wir gesagt, war von Natur nicht schlecht. Als er ins Gefängniß kam, wer er noch gut. Er verurtheilte hier die Gesellschaft und fühlte, daß er bösartig, er verurtheilte die Vorsehung und fühlte, daß er gottlos wurde.
An dieser Stelle ist es schwer, einige Fragen, die sich mit Gewalt vordrängen, zurückzuweisen.
Aendert sich die menschliche Natur so vollständig und von Grund aus? Kann der Mensch, ein Geschöpf Gottes, das von Natur gut ist, durch Menschen in ein schlechtes Wesen umgewandelt werden? Kann die Seele durch die Ungunst des Schicksals ganz und gar umgemodelt werden? Kann das Herz eine Mißbildung erleiden und unter dem Druck eines übermäßigen Unglücks, unheilbar verunstaltet werden, wie das Rückgrat unter einem zu niedrigen Gewölbe? Glimmt nicht in jeder Menschenseele, glimmte nicht in Jean Valjeans Seele ein Funke, ein unzerstörbarer Bestandteil göttlichen Ursprungs, den das Gute beleben, zu strahlendem Glanze anfachen, das Böse aber nie vollständig auslöschen kann?
Die letzte dieser gewichtigen und schwierigen Fragen hätte wohl jeder Physiologe negativ beantwortet, und ohne sich zu bedenken, hätte er zu Toulon in den Ruhestunden, wenn Jean Valjean sich in seine Gedanken vertiefte, ihn gesehen, diesen trübseligen, ernsten, schweigsamen Galeerensklaven, diesen Paria der Gesetze, der auf die Menschen mit Zorn, diesen von der Civilisation Verstoßenen, der zum Himmel mit Unwillen emporblickte.
Sicherlich – wir können es uns nicht verhehlen – würde ein beobachtender Physiologe dieses Uebel für unheilbar erklärt haben; er hätte vielleicht diesen Kranken, der sein Leiden dem Gesetz verdankte, beklagt, aber eine Kur hätte er nicht versucht; er würde seinen Blick von den Abgründen abgewendet, die ihm aus dieser Seele entgegengähnten und wie Dante am Thor der Hölle, für dieses Dasein, das Wort »Hoffnung« ausgestrichen haben, das doch Gottes Finger auf die Stirn jedes Menschen geschrieben hat.
War sich Jean Valjean über seinen Seelenzustand so vollkommen klar, wie unsere Leser, wenn es uns gelungen ist, ihn richtig zu schildern? Erkannte er deutlich nach ihrer Entstehung alle die Stücke, welche die Bestandtheile seines sittlichen Elends bildeten? Hatte sich dieser rohe und unwissende Mensch klare Rechenschaft darüber gegeben, vermöge welcher Reihenfolge von Ideen er zu den öden, trostlosen Anschauungen gelangt war, die seinen geistigen Horizont einengten? War er sich dessen bewußt, was alles in ihm vorgegangen war und sich gegenwärtig in ihm regte? Diese Fragen wagen wir nicht zu beantworten; ja mir glauben, daß es nicht der Fall war. Es steckte zu viel Unwissenheit in Jean Valjean, als daß, selbst nach so viel Leiden, keine Unklarheit in ihm zurückgeblieben wäre. Zeitweise wußte er nicht einmal genau, was er eigentlich empfand. Jean Valjeans Geist war in Finsternis gehüllt und diese Finsternis verschleierte ihm sein Unglück sowohl, wie seinen Haß: Er haßte, sozusagen, blindlings darauf los. Er lebte und webte in diesem Dunkel, in dem er wie ein Blinder und Träumer umhertappte. Von Zeit zu Zeit nur, wenn urplötzlich in seinem Innern der Zorn wild auswallte, oder von außen ein neues Unglück über ihn hereinbrach, flammte in seiner Seele ein Licht auf und zeigte ihm all' die Schrecknisse des schaurigen Weges, auf dem er vom Schicksal verdammt war, durch dieses Erdenleben zu wandern.
War das Licht erloschen, so umgab ihn wieder finstere Nacht und er wußte nicht mehr, wo er war.
Eine Besonderheit der erbarmungslosen, also verthierenden Strafen besteht darin, daß sie den Menschen dumpf und stumpf machen, ihn verdummen und verwildern, ja bisweilen in ein reißendes Thier verwandeln. Daß in der That eine solche Veränderung einer Menschenseele dem Gesetz auf Rechnung zu setzen ist, beweisen zur Genüge Jean Valjeans wiederholte und hartnäckige Fluchtversuche. Er hätte dieselben, so hoffnungslos und unsinnig sie auch waren, immer wieder erneuert, so oft sich eine Gelegenheit bot, ohne einen Augenblick an die Folgen und die vorigen schlechten Erfahrungen zu denken. Er riß so ungestüm aus, wie der Wolf, der seinen Käfig offen findet. Der Instinkt rief ihm zu: »Lauf weg!« Die Vernunft hätte geboten: »Bleibe hier!« Aber einer starken Versuchung gegenüber schwieg die Ueberlegung und es blieb nur der thierische Instinkt übrig. War der Flüchtling dann wieder eingefangen, so hatten die neuen Strafen nur die Folge, daß sie seinen Sinn noch mehr verwirrten und verstörten.
Noch müssen wir erwähnen, daß ihm an Körperkraft kein einziger seiner Leidensgefährten nahe kam. Galt es ein Tau zu spinnen, eine Winde zu drehen, so leistete Jean Valjean so viel, wie vier Mann zusammengenommen. Er konnte ungeheure Lasten heben und auf dem Rücken tragen und ersetzte gelegentlich eine Wagenwinde. Eines Tages, als der Balcon des Rathhauses zu Toulon reparirt wurde, gab eine der wunderbar schönen Karyatiden von Puget, die jenen Balcon tragen, nach und drohte herunter zu fallen. Da trat Jean Valjean, der gerade zugegen war, heran und hielt die Karyatide mit seinen Schultern fest, bis die Arbeiter kamen.
Seine körperliche Gewandtheit übertraf noch seine Kraft. Manche Zuchthäusler, die unausgesetzt auf Flucht sinnen, bilden die Verbindung der Kraft und Geschicklichkeit zu einer wahren Wissenschaft aus. Tagtäglich wird eine geheimnisreiche Statik von den Gefangenen ausgeübt, die ewig mit Neid an den Flug der Fliegen und der Vögel denken. An einer senkrechten Fläche emporklimmen, Stützpunkte finden, wo ein Andrer kaum eine Unebenheit sieht, war für Jean Valjean ein Spiel. Er brachte es fertig in einer Ecke, indem er seine Rücken- und Kniemuskeln spannte, Ellbogen und Hacken in die schwachen Vertiefungen des Steins stemmte, sich bis zu dem dritten Stock eines Gebäudes hinaufzuziehen. Manchmal hatte er so das Dach des Gefängnisses erreicht.
Er sprach wenig und lachte noch seltner. Es bedurfte einer besondern Erregung, um ihn zum Lachen zu bringen. Dann war es, als höre man den Wiederhall eines grausigen Dämonengelächters. Für gewöhnlich sah er aus, wie wenn er eine schreckliche Erscheinung betrachte.
Dies war auch, im Grunde genommen, der Fall.
Neben den krankhaften Einbildungen, die ihm sein unausgebildeter und geängstigter Verstand vorspiegelte, drängte sich ihm die Vorstellung auf, daß etwas Ungeheuerliches auf ihm laste. In dem geistigen Halbdunkel, in dem er umherkroch, sah er jedes Mal, wenn er den Hals umwendete und den Blick emporrichtete, mit Wuth und Schrecken Gesetze, Vorurtheile, Menschen und Thatsachen zu einem unendlich hohen, grausig steilen Berge aufgeschichtet, dessen Umrisse sich seinem Blick entzogen, dessen Umfang ihn entsetzte, und der nichts Andres war, als was wir die Civilisation nennen. In diesem formlosen Wirrwarr unterschied er, bald in der Nähe, bald in der Ferne und auf unnahbaren Höhen, irgend eine lebhaft beleuchtete Gruppe oder Einzelerscheinung, wie den Profoß mit seinem Stock, den Gendarmen mit seinem Säbel, den Erzbischof mit der Mitra und ganz oben, von grellem Licht Übergossen, den Kaiser mit der Krone auf dem Haupte. Ihm däuchte, diese fernen Glanzgestalten machten die Nacht um ihn, statt sie zu erhellen, noch grausiger und dunkler. Alles dies, Gesetze, Vorurtheile, Thatsachen, Menschen, Institutionen, bewegte sich über ihm hin und her, nach jenen verwickelten und geheimnisvollen Gesetzen, die Gott der Civilisation vorgeschrieben hat, schritt über ihn hinweg und erdrückte ihn, ruhevoll und gemüthlich bei all seiner Grausamkeit und herzlosen Gleichgiltigkeit.
Was für Betrachtungen mochte wohl Jecin Valjean anstellen, wenn er über sein Verhältnis zur Welt nachdachte? Doch wohl Betrachtungen ähnlicher Natur, wie die eines Getreidekornes zwischen zwei Mühlsteinen, wenn ein Getreidekorn denken könnte.
Das Durcheinander von Spuk und Wirklichkeit hatte schließlich seinen Geist in einen absonderlichen Zustand versetzt.
Von Zeit zu Zeit hielt er plötzlich mitten in der Arbeit inne und fing an zu grübeln. Seine Vernunft, die im Laufe der Zeit zugleich reifer geworden und an Klarheit verloren hatte, empörte sich. Alles, was ihm widerfahren war, kam ihm sinnlos, was ihn umgab, unmöglich vor. Er dachte bei sich: »Es ist ein Traum.« Er sah dicht in seiner Nähe den Profoß und hielt ihn für ein Phantom, aber plötzlich erhielt er einen Stockschlag von dem Phantom.
Die sichtbare Natur existirte kaum für ihn. Man könnte beinah behaupten, daß es für Jean Valjean keinen Sonnenschein, keine schönen Sommertage, keine kühle Morgenröthe gab. Seine Seele befand sich, so zu sagen, in einer Art Kellerdämmerung.
Um schließlich das Gesagte, so weit dies angeht, kurz zusammenzufassen, konstatieren wir, daß Jean Valjean, ein harmloser Baumputzer in Faverolles, ein gefährlicher Zuchthäusler in Toulon, dank dem neunzehnjährigen Aufenthalt im Gefängniß, jetzt im Stande war, zweierlei Arten von Schlechtigkeiten zu begehen. Erstens eine rasch beschlossene, unüberlegte, instinktiv schlechte Handlung, eine Art Rache für erduldetes Leid; zweitens eine vorbedachte, aus den falschen Begriffen des Unglücks abgeleitete. Seine Entschlüsse durchliefen nach einander die drei Stadien, die nur gewisse Naturen durchmachen: Ueberlegung, Wille, Eigensinn. Seine Beweggründe waren gewohnheitsmäßige Entrüstung, Verbitterung, Auflehnung gegen die ganze Menschheit, auch gegen die Guten, Schuldlosen und Gerechten, – wenn es solche giebt. Der Ausgangs- und Anfangspunkt aller seiner Gedanken war der Haß gegen das von Menschen gemachte Gesetz; dieser Haß artet, wenn er nicht durch irgend ein, von der Vorsehung gewolltes Ereigniß in seiner Entwickelung gehemmt wird, in Haß gegen die Menschheit überhaupt, dann gegen die Thiere aus und giebt sich kund durch ein instinktives, unaufhörliches, bestialisches Verlangen, irgend einem lebenden Wesen zu schaden. Also bezeichnete Jean Valjeans Paß ihn nicht ohne Grund als einen sehr gefährlichen Menschen.
Von Jahr zu Jahr war sein Herz langsam, aber mit Notwendigkeit allmählich vertrocknet, und ebenso seine Augen. Als er das Gefängniß verließ, waren es neunzehn Jahre her, daß er eine Thräne geweint hatte.
VIII. Ein Mann über Bord!
Ein Mann über Bord!
Wer kehrt sich daran? Das Schiff bleibt nicht stehen. Der Wind treibt es weiter, und es muß seinen Weg fortsetzen. Es fährt vorbei.
Der Mann verschwindet in den Wellen und taucht wieder empor. Er ruft, streckt die Arme aus. Niemand hört ihn. Matrosen und Passagiere denken nur an den Sturm, der das Schiff erbarmungslos schüttelt. Keiner sieht den Verlornen, sein unglückliches Haupt ist nur ein Punkt in der unendlichen Wasserwüste.
Wie grauenvoll ist für ihn der Anblick jenes Segels, das vor ihm flieht! Er stiert ihm nach mit der ganzen Kraft seiner Augen. Aber wehe! Es wird kleiner, immer kleiner. Eben noch war er mit den andern Matrosen auf dem Deck und hatte Theil am Leben und am Licht. Und jetzt! Er glitt blos aus, er fiel, und nun ist es vorbei mit ihm.
Jetzt ist er ein Spielball der Fluthen. Sie weichen und gleiten unter ihm dahin, steigen empor und umtosen ihn, spritzen ihre Gischt auf ihn, wirbelten ihn herum, tauchen ihn unter und zeigen ihm die Finsternisse der Tiefe, umstricken seine Füße mit unentwirrbaren, unbekannten Gewächsen, dringen durch alle Poren, durch Mund und Nase in ihn hinein und wetteifern ihn zu verhöhnen, zu verderben.
Wohl wehrt er sich gegen ihren Haß. Er bietet alle seine schwachen Kräfte auf, die unerschöpflichen Naturgewalten zu bekämpfen. Er schwimmt.
Wo ist denn das Schiff? Da hinten, kaum noch sichtbar im fahlen Dämmerlicht des Horizonts.
Der Sturm rast weiter, die Fluthen dringen stärker auf ihn ein. Er richtet die Augen empor und sieht nur noch die fahlen Wolken.
Es fliegen wohl Vögel über dem unendlichen Wasserschwall, wie die Engel einherschweben über all der Noth des Erdendaseins; aber was können sie thun, ihm zu helfen? Das fliegt, steigt und zwitschert, und er, er stöhnt und seufzt.
Jetzt bricht die Nacht herein. Stundenlang schwimmt er schon; seine Kräfte gehen zu Ende. Das Schiff, das Ding, in dem Menschen waren, ist verschwunden. Er ist allein in der grauenvollen, dämmrigen Oede. Er sinkt. Er hebt sich, windet und krümmt sich. Er fühlt unsichtbare Mächte, die ihn hinabreißen wollen, und ruft.
Menschen sind nicht da. Wo ist Gott?
Er ruft. Um ihn und über ihm ist nur der Raum, das Wasser, Algen, Klippen, der Himmel; aber die sind alle taub und stumm.
Da packt ihn die Verzweiflung. Des unnützen Kampfes müde, entschließt er sich zu sterben und versinkt in die Tiefe der Vernichtung.
Diesem Manne, der hilflos auf dem Meere untergeht, gleicht auch der Unglückliche, den das erbarmungslose Gesetz zu geistiger und moralischer Vernichtung verdammt.
Auch die Seele, die, von der Gesellschaft über Bord geworfen, sich selbst überlassen bleibt, kann ihr Leben verlieren, und wer wird sie wieder erwecken?
IX. Neue Mißhandlungen
Als Jean Valjean das Zuchthaus verlassen durfte, als er die sonderbaren Worte vernahm: »Du bist frei!« durchbebte ihn ein unsägliches Wonnegefühl, und ihm war, als dringe endlich ein Strahl belebendes Licht tief in ihn hinein. Aber es währte nicht lange, so verblaßte der Schein. Der Gedanke an die Freiheit hatte ihn entzückt, er hatte gewähnt, nun beginne für ihn ein neues Leben. Bald aber merkte er, was für eine Freiheit das ist, die einen gelben Paß mitbekommt. ^
Die neuen Erfahrungen begannen schon im Zuchthaus selber. Nach seiner Berechnung mußte sich sein ersparter Verdienst aus hundertundeinsiebzig Franken belaufen. Freilich hatte er die Sonn- und Festtage abzuziehen vergessen, was einen Abzug von ungefähr vierundzwanzig Franken bedeutete. Wie dem aber auch sei, es wurden ihm noch andre Abzüge gemacht, soviel, daß er schließlich nur hundertundneun Franken fünfzehn Sous ausgezahlt bekam.
Er hatte diese Berechnung nicht verstanden und meinte, ihm sei Unrecht geschehen, oder um es ohne Umschweife zu sagen, er wäre geprellt worden.
An dem Tage, nachdem er in Freiheit gesetzt worden war, sah er in Grasse vor einer Destillation Leute, die Waarenballen abluden. Er bot seine Dienste an, und da die Arbeit drängte, wurde er ohne Weiteres engagirt, Er griff tapfer zu und sein Arbeitgeber schien mit ihn zufrieden zu sein. Da kam ein Gendarm des Weges, sah ihn und fragte nach seinen Papieren. Er mußte also seinen gelben Paß vorlangen. Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Kurz zuvor hatte er einen von den Arbeitern gefragt, wieviel sie bei dieser Beschäftigung pro Tag verdienten. »Dreißig Sous«, lautete der Bescheid. Am Abend meldete er sich, da er genöthigt war, am nächsten Morgen in aller Frühe weiter zu marschieren, bei seinem Arbeitgeber und bat um Bezahlung. Dieser sprach kein Wort und gab ihm nur fünfzehn Sous. Er protestirte, erhielt aber die Antwort: »Für so Einen, wie Dich, ist's genug.« Er wollte sich sein Recht nicht nehmen lassen. Da sah ihn der Destillateur scharf an und sagte: »Möchtest Du denn wieder ins Zuchthaus zurück?«
Auch hier konnte er sich als geprellt betrachten.
Hatte ihn der Staat, die Gesellschaft im Großen betrogen, so wurde er jetzt im Kleinen benachteiligt.
Die Entlassung bedeutete noch nicht die Freiheit. Kommt man aus dem Zuchthaus heraus, so hat man damit noch nicht die Verurtheilung abgeschüttelt.
So war es ihm in Grasse ergangen. Weiter oben haben wir gesehen, wie er in Digne aufgenommen worden war.