Kitabı oku: «Les Misérables / Die Elenden», sayfa 9
IV. Über die Käsereien in Pontarlier
Damit man sich eine Vorstellung machen könne, wie es an dieser Tafel herging, wollen wir eine Stelle aus einem Briefe von Fräulein Baptistine an Frau von Boischevron hier wiedergeben, in dem mit naiver Ausführlichkeit das Gespräch des Bischofs und des Galeerensklaven erzählt wird.
»Der Mann achtete auf Niemand und schlang immer nur sein Essen mit einer Gier hinunter, als wäre er nahe daran gewesen, vor Hunger umzukommen. Aber nach dem Abendessen sagte er:
»Lieber guter Herrgottspfarrer, das ist alles noch viel zu gut für mich, aber das muß ich sagen, die Fuhrleute, die mich nicht wollten mitessen lassen, leben besser als Sie.«
Unter uns gesagt, die Bemerkung hat mich verdrossen. Mein Bruder antwortete ihm:
»Sie müssen sich auch mehr anstrengen, als ich.«
»Nein,« meinte der Andre, »sie haben mehr Geld. Ich sehe wohl, Herr Pfarrer, Sie sind arm. Sie sind vielleicht noch nicht einmal Pfarrer? Wenn der liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer sein.«
»Der liebe Gott ist mehr als gerecht«, versetzte mein Bruder und fügte nach einer Weile hinzu:
»Also nach Pontarlier gehen Sie, Herr Valjean?«
»Mit Zwangspaß.«
So sagte er, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt.
Dann fuhr er fort:
»Morgen bei Tagesanbruch muß ich schon unterwegs sein. Das Marschieren ist jetzt beschwerlich. Wenn die Nächte kalt sind, so ist es am Tage heiß.«
»Sie kommen da in eine gute Gegend«, meinte mein Bruder. »Zur Zeit der Revolution ist meine Familie ruinirt worden, und ich habe mich damals zuerst nach der Franche-Comté geflüchtet, wo ich von meiner Hände Arbeit lebte. Ich hatte guten Willen und fand auch Beschäftigung. Man hat dort zu Lande die Wahl. Es giebt dort Papiermühlen, Gerbereien, Branntweinbrennereien, Oelmühlen, Uhrfabriken, Stahl- und Kupferfabriken, wenigstens zwanzig Eisenwerke, darunter vier sehr bedeutende in Lods, Châtillon, Audincourt und Beure.«
Ich müßte mich sehr irren, wenn dies nicht die Namen sind, die mein Bruder anführte. Hierauf aber brach er ab und wandte sich an mich:
»Liebe Schwester, haben wir nicht Verwandte in jener Gegend?«
Ich antwortete:
»Früher, ja! Unter Andern Herrn von Lucenet, Hauptmann bei den Thürgardisten zu Pontarlier vor der Revolution.«
»Ganz richtig«, erwiderte mein Bruder, »aber 1793 war es mit den Verwandten nichts, da mußte man sich auf sich selber und auf seine gesunden Arme verlassen. Ich habe gearbeitet. Sie haben in der Gegend von Pontarlier, wo Sie hingehen, Herr Valjean, eine ganz patriarchalische und ganz gemüthliche Industrie, liebe Schwester, nämlich Käsereien.«
Darauf setzte mein Bruder dem Manne, während er ihn zum Essen nöthigte, sehr ausführlich auseinander, wie die Käsereien eingerichtet sind.
»Sie zerfallen in zwei Klassen«, erläuterte er. »Die großen, die den Reichen gehören, mit vierzig bis fünfzig Kühen, und die sieben bis acht Tausend Stück Käse pro Sommer liefern, und die kleinen, genossenschaftlich organisirten, die von den Armen gebildet werden. Zu diesen thun sich die Bauern aus dem Mittelgebirge zusammen und theilen den Gewinn. Sie engagieren einen Käser, der dreimal täglich von den Mitgliedern der Genossenschaft die Milch in Empfang nimmt und die Quantität auf einem doppelten Kerbholz markirt. Gegen Ende April fängt die Fabrikation an; Mitte Juni werden die Kühe auf die Berge getrieben.«
Der Fremde wurde muntrer, während er aß. Mein Bruder schenkte ihm guten Mauves ein, von dem er selber nicht trinkt, weil es ein theurer Wein ist. Mein Bruder zeigte im Gespräche die Ihnen wohlbekannte Unbefangenheit und frohe Laune und richtete auch manche freundlichen Bemerkungen an mich. Auf die Beschäftigung des Käsers kam er oft zurück, als wollte er ihm aus zarte Weise zu verstehen geben, daß er sich so aus seiner Nothlage befreien könne. Eins ist mir noch aufgefallen. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, was das für ein Mensch war. Nun also, mein Bruder hat weder bei Tische noch überhaupt an dem ganzen Abend, mit alleiniger Ausnahme der Erwähnung Jesu Christi bei der Ankunft des Gastes, kein Wort fallen lassen, das den Mann erinnert hätte, wer er war, und ihn über den Stand meines Bruders belehrt hätte. Und es war doch eine schöne Gelegenheit, ein wenig Moral zu predigen und den Zuchthäusler seine bischöfliche Autorität nachdrücklichst fühlen zu lassen. Ein Andrer, der den Unglücklichen so in der Hand gehalten hätte, würde nicht blos getrachtet haben, ihm Nahrung für den Körper, sondern auch für die Seele zu spenden und hätte es für angemessen erachtet, ihm mit guten Rathschlägen und Ermahnungen gemilderte Vorwürfe zu machen oder hätte eine Aeußerung des Mitleids nebst einer Aufforderung sich fortan besser aufzuführen, fallen lassen. Mein Bruder dagegen fragte den Menschen nicht einmal nach seinem Geburtsorte oder seiner Lebensgeschichte. Denn seine Lebensgeschichte enthielt auch die Geschichte seines Vergehens, und mein Bruder ließ es sich offenbar angelegen sein, alles zu vermeiden, das Jenen an seine Schuld hätte erinnern können. Einmal sogar, als er von den Gebirglern bei Pontarlier sprach, deren Wohnungen dem Himmel nahe wären, die, weil schlicht und rechtschaffen, auch glücklich seien, brach er plötzlich seine Rede ab, aus Furcht, die ihm entschlüpfte Aeußerung könne seinem Gaste wehe thun. Ich habe hierüber gründlich nachgedacht und glaube jetzt zu verstehen, was in dem Herzen meines Bruders vorging. Er meinte offenbar, den Unglücklichen quäle der Gedanke an sein Elend auch ohnehin genug; es schien ihm geboten, ihm den Kummer zu verscheuchen, indem er ihn auf dieselbe Weise behandelte wie jeden Andern und ihn – wenn auch nur für einen Augenblick – in den Glauben wiegte, er wäre eben solch ein Mensch wie jeder Andre. Heißt das nicht die Pflicht der christlichen Liebe richtig verstehen, wenn man sich zartsinnig aller Moralpredigten und Anspielungen enthält und den wunden Punkt überhaupt nicht berührt? Dies war, dünkt mich, die Idee, von der sich mein Bruder leiten ließ. Allerdings hat er sich nichts merken lassen, auch mir gegenüber nicht. Er war durchaus derselbe, wie an jedem andern Abend und benahm sich Jean Valjean gegenüber ganz ebenso, als hätte er Hrn. Gédéon Le Prévost oder einen Landpfarrer zu Gaste gehabt.
Zu Ende der Mahlzeit, als wir eben die Feigen verspeisten, klopfte es an die Thür. Es war Mutter Gerbaud mit ihrem Kinde auf dem Arm. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie Mutter Gerbaud zu geben. Der Fremde achtete auf alles dieses nicht. Er sprach nicht mehr und schien recht abgespannt zu sein. Dann sagte mein Bruder, nachdem die arme, alte Gerbaud fortgegangen, das Dankgebet und wandte sich zu dem Gast mit den Worten: »Sie sehnen sich gewiß nach Ihrem Bett.« Frau Magloire deckte rasch ab und ich begriff, daß wir uns nach oben verfügen mußten, um ihn schlafen zu lassen. Indessen schickte ich Frau Magloire noch einmal hinunter mit einem Rehfell, das sie ihm auf sein Bett legte. Die Nächte sind eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es so alt ist, die ganzen Haare fallen schon aus. Mein Bruder hat es zu der Zeit gekauft, wo er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen, sowie auch das kleine Messer mit dem Elfenbeingriff, dessen ich mich bei Tische bediene.
Frau Magloire kam sofort wieder herauf, wir beteten in dem Zimmer, wo die Wäsche getrocknet wird und zogen uns dann, ohne ein Wort zu sprechen, jede in ihre Kammer zurück.
V. Furchtlose Seelenruhe
Nachdem der Bischof seiner Schwester eine gute Nacht gewünscht, nahm er von dem Tische einen der beiden silbernen Leuchter, gab den andern seinem Gaste und sagte:
»Herr Valjean, ich werde Sie jetzt nach Ihrem Schlafzimmer geleiten.«
Der Fremde folgte ihm.
Wie schon bemerkt, waren die Räume so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und den Alkoven zu gelangen, durch das Schlafzimmer des Bischofs hindurch mußte.
Als sie durch dieses Zimmer gingen, war Frau Magloire gerade im Begriff, das Silberzeug in dem, am Kopfende des Bettes befindlichen Wandschrank zu verschließen. Das war das Letzte, was ihr jeden Abend vor dem Schlafengehn zu thun oblag.
Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven, wo ein frisch bezogenes Bett bereit stand. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein Tischchen.
»Nun schlafen Sie wohl,« sagte der Bischof. »Morgen früh, bevor Sie aufbrechen, sollen Sie noch eine Tasse ganz frische Milch bekommen.«
»Danke, Herr Abt,« erwiderte der Gast.
Kaum hatte er diese friedfertigen Worte ausgesprochen, als ihn plötzlich und ohne Uebergang eine sonderbare Regung anwandelte, welche die beiden frommen Frauen, wären sie zugegen gewesen, mit eisigem Schreck erfüllt hätte. Noch heute wird es uns schwer, uns Rechenschaft davon zu geben, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Wollte er eine Warnung aussprechen, oder eine Drohung ausstoßen? Gehorchte er nur einem ihm unbewußten Triebe, den er selbst nicht verstand? Er wandte sich plötzlich um, verschränkte die Arme, betrachtete seinen greisen Wirt mit wilden Blicken und schrie mit rauher Stimme:
»Nanu, Sie geben mir wirklich ein Zimmer in Ihrem Hause, so dicht neben Ihrem?«
Er hielt inne, schlug eine laute Lache auf, die sich grausig anhörte und fuhr fort:
»Haben Sie Sich die Sache auch ordentlich überlegt? Woher wissen Sie, ob ich nicht vielleicht ein Raubmörder bin?«
Der Bischof antwortete:
»Das ist eine Sache, die den lieben Gott allein angeht.«
Damit hob er feierlich und indem er die Lippen, wie zum Gebet oder Selbstgespräch, bewegte, zwei Finger der rechten Hand empor, segnete den Gast, der sich nicht neigte und begab sich, ohne sich umzuwenden und rückwärts zu blicken, in sein Zimmer.
Wenn der Alkoven einen Bewohner hatte, war der Altar mit einem groben Vorhang, der sich durch das ganze Betzimmer hindurch zog, verhangen. Vor diesen Vorhang kniete der Bischof nieder und verrichtete ein kurzes Gebet.
Einen Augenblick darauf spazierte er in seinem Garten, versunken in die Betrachtung jener erhabnen, unerforschbaren Herrlichkeiten, die Gott des Nachts den Augen der Wachenden enthüllt.
Was den Gast betrifft, so war er dermaßen übermüdet, daß er nicht einmal Gebrauch machte von den frischen reinen Laken. Er blies nach Art der Zuchthäusler das Licht mit der Nase aus und sank vollständig angekleidet auf das Bett nieder, wo er sofort fest einschlief.
Es schlug Mitternacht, als der Bischof aus dem Garten in sein Schlafzimmer zurückkehrte.
Einige Minuten nachher schlief alles in dem Hause.
VI. Jean Valjean
Um die Mitte der Nacht erwachte Jean Valjean.
Jean Valjean entstammte einer Bauernfamilie der Provinz La Brie. In seiner Kindheit hatte er nicht lesen gelernt. Als er das Mannesalter erreicht hatte, war er Baumputzer in Faverolles. Seine Mutter hieß Jeanne Mathieu, sein Vater Jean Valjean oder Valjean.
Jean Valjean war, wie dies den an Liebe reichen Naturen eigen ist, von nachdenklicher Gemüthsart, ohne jedoch melancholisch zu sein, im Großen und Ganzen aber doch etwas schläfrig und matt. Im ersten Kindesalter verlor er schon seine Eltern. Seine Mutter starb an einem vernachlässigten Milchfieber, sein Vater, der gleichfalls Baumputzer war, an den Folgen eines Sturzes. Es blieb ihm nur noch eine Schwester, die älter war, als er, eine Wittwe mit sieben Kindern. Diese Schwester hatte Jean Valjean erzogen und ihn, so lange sie einen Mann hatte, ernährt. Aber der Mann starb, als das älteste von den Kindern erst acht und das jüngste ein Jahr alt war. Nun vertrat Jean Valjean, der sein fünfundzwanzigstes Jahr erreicht hatte, die Stelle des Vaters und ernährte seine Schwester. Dies betrachtete er als eine selbstverständliche Pflicht und wurde sogar ärgerlich, wenn man ihm wegen seiner Gutmütigkeit Lob spendete. So brachte er seine Jugend in schwerer, schlecht bezahlter Arbeit hin. Mit einer »guten Freundin« war er nie gesehen worden. Er hatte keine Zeit, an die Frauen zu denken.
Des Abends kam er mit zerschlagenen Gliedern nach Hause und aß, ohne ein Wort zu sprechen, seine Suppe. Oft fischte ihm seine Schwester, Mutter Jeanne, das Beste aus seinem Napfe vor der Nase heraus, das Stück Fleisch, den Speck, das Herz von dem Kohl und gab es ihren Kindern, und er aß dabei ruhig weiter, vorn übergeneigt, den Kopf fast im Napfe, um den seine langen Haare herumhingen, und schien nichts zu sehen. In Faverolle wohnte unweit von Valjeans Hütte eine Bäuerin, Marie-Claude genannt. Zu dieser Frau kamen bisweilen die ewig hungrigen Valjean'schen Kinder und holten, angeblich im Namen ihrer Mutter, eine Pinte Milch auf Borg, um die sie sich dann hinter irgend einer Hecke, oder in einem andern Versteck balgten, wobei sie sich die Schürzen tüchtig begossen. Hätte die Mutter Wind bekommen von diesen Spitzbübereien, so hätten die Missethäter erbarmungslose Hiebe besehen. Aber der sonst so barsche und brummige Jean Valjean pflegte hinter dem Rücken der Mutter die Milch der Frau Marie-Claude zu bezahlen und die Kinder entgingen der Züchtigung.
Er verdiente als Baumputzer achtzehn Sous den Tag, nachher verdang er sich als Schnitter, als Handlanger, Hirt, Hausknecht. Er quälte sich redlich und seine Schwester arbeitete ihrerseits auch nach Kräften, aber sieben Kinder sind nicht leicht durchzubringen. Allmählich umklammerte das Elend die bejammernswerte Familie immer fester. Da geschah es einst, daß ein strenger Winter das Land heimsuchte und Jean keine Beschäftigung fand. Die Familie hatte kein Brot, buchstäblich kein Brot. Dabei sieben Kinder!
An einem Sonntag Abend schickte sich Maubert Isabeau, der Bäcker an dem Kirchenplatz in Faverolles, eben an, sich zur Ruhe zu begeben, als er ein starkes Geräusch vernahm, das von dem vergitterten Schaufenster seines Ladens herkam. Er kam noch zu rechter Zeit, um einen Arm zu sehen, der durch die soeben zertrümmerte Vergitterung und die Glasscheibe in den Laden langte und ein Brot herausholte. Isabeau stürzte eilig hinaus, hinter dem Dieb her, der spornstreichs davonrannte, und holte ihn ein. Das Brot hatte der Mann weggeworfen, aber sein Arm war noch ganz blutig. Es war Jean Valjean.
Dies trug sich im Jahre 1795 zu. Jean Valjean wurde wegen nächtlichen Diebstahls mit Einbruch in bewohntem Hause vor Gericht gestellt. Er besaß ein Gewehr, das er trefflich zu brauchen verstand, denn er wilderte gern, was ihm jetzt großen Nachteil brachte. Gegen Wilddiebe besteht ein berechtigtes Vorurtheil. Der Wilddieb ist ebenso wie der Schmuggler, sehr nahe mit dem Räuber verwandt. Indessen trennt diese Leute noch eine weite Kluft von dem abscheulichen Mörder in den Städten. Der Wilddieb lebt im Walde, der Schmuggler im Gebirge oder auf dem Meere. In den Städten kann der Mensch in Folge der Sittenverderbniß blutdürstig werden; im Gebirge, auf dem Meere, im Walde wohl scheu und verschlossen, jedoch ohne stets alle Menschlichkeit abzustreifen.
Jean Valjean wurde schuldig erklärt. Der Wortlaut des Strafgesetzbuches ließ keine mildernde Deutung zu. Unsre Civilisation hat furchtbare Strafen, diejenigen insbesondere, wo kraft eines Richterspruches eine menschliche Existenz Schiffbruch erleidet. Trauervoller Augenblick, wo die Gesellschaft sich abwendet und die nicht wieder gut zu machende Verstoßung eines denkenden Wesens vollzieht! Jean Valjean ward zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurtheilt.
Am 22. April 1796 wurde in Paris der Sieg ausgerufen, den bei Montenotte der Obergeneral der in Italien kämpfenden Armee davon getragen, jener General, den die Botschaft des Direktoriums an den Rath der Fünfhundert Buona-Parte nennt; an demselben Tage wurde im Gefängniß Bicêtre eine große Kette Galeerensträflinge gebildet, in die auch Jean Valjean eingefügt wurde. Ein ehemaliger, jetzt neunzigjähriger Schließer entsinnt sich noch sehr gut jenes Unglücklichen, der in der Nordecke des Hofes angeschmiedet wurde. Er saß, wie alle Andern, auf der Erde. Er schien nicht zu begreifen, was mit ihm vorging; nur dessen wurde er inne, daß es etwas Schreckliches war. Vielleicht hob sich auch von all den unklaren Gedanken, die in seinem armen, unwissenden Hirn herumwirbelten, derjenige etwas deutlicher ab, daß die ihm angethane Grausamkeit alles Maß überschreite. Während ihm hinter dem Kopfe mit kräftigen Hammerschlägen der Bolzen seines Halseisens eingetrieben wurde, weinte er, weinte so heftig, daß es seine Worte erstickte und nur von Zeit zu Zeit stieß er hervor: »Ich war Baumputzer in Faverolles.« Dann hob er, während er weiter schluchzte, die rechte Hand in die Höhe und senkte sie, jedes Mal etwas tiefer wie vorher, als wenn er sie nacheinander auf sieben Kinder verschiedner Größe legen wollte, und aus diesen Handbewegungen schloß man, daß er nur gefehlt hatte, weil er für sieben Kinderchen Nahrung und Kleidung hatte beschaffen wollen.
Er wurde nach Toulon geschickt, wo er nach einer siebenundzwanzigtägigen Reise, die Kette am Halse, auf einem Karren, eintraf. Hier wurde er in die rothe Jacke gesteckt, und sein ganzes Leben, einschließlich seines Namens, ausgelöscht: Er war nicht mehr Jean Valjean, sondern Nummer 24601. Was wurde aus der Schwester und den sieben Kindern? Wer fragt nach so etwas? Was wird aus den paar Blättern des Baumes, den die Säge von seiner Wurzel getrennt hat?
Es ist immer dieselbe Geschichte, die armen Wesen, ihres Ernährers und Führers beraubt, gingen verloren auf dem Wege, auf dem die Menschheit einherwandert. Sie verließen ihre Heimat. Die Kirche, in der sie gebetet, das Feld, auf dem sie gespielt, vergaß sie; Jean Valjean selber vergaß sie nach einigen Jahren. Die Wunde in seinem Herzen vernarbte einfach. Kaum daß er während seiner ganzen Sträflingszeit ein einziges Mal von seiner Schwester Nachricht bekam. Dies geschah, wenn ich nicht irre, zu Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Auf welchem Wege diese Botschaft zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr. Irgend Jemand, der sie beide gekannt hatte, war seiner Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße bei der Kirche Saint-Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur noch das jüngste Kind, einen Knaben bei sich. Wo die anderen waren, wußte sie wohl selber nicht. Alle Morgen ging sie in eine Druckerei in der Rue Sabot, wo sie als Falzerin und Hefterin beschäftigt war. Sie mußte um sechs Uhr Morgens da sein, noch ehe im Winter der Tag anbricht. In demselben Gebäude war eine Schule, wo sie jeden Tag ihren siebenjährigen Jungen hinbrachte. Da sie aber um sechs Uhr in die Druckerei mußte und die Schule erst um sieben geöffnet wurde, so wartete das Kind auf dem Hofe eine Stunde lang im Finstern und in der Kälte. In die Druckerei wollte man ihn nicht hereinlassen, weil er im Wege sei. Die Arbeiter sahen des Morgens das arme kleine Wesen, wie es kaum fähig die Augen aufzuhalten vor Müdigkeit, auf dem Pflaster saß, oder über seinen Korb gebeugt, in einer Ecke schlief. Wenn es regnete, erbarmte sich seiner die alte Portierfrau und ließ es herein in ihre armselige Wohnung, wo nur ein schlechtes Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle standen. Da schlummerte das Kind in einer Ecke, dicht an die Katze geschmiegt, um nicht so zu frieren. Um sieben Uhr wurde die Schule aufgemacht, und der Kleine konnte hinein. Dies war es, was man Jean Valjean erzählte. Es war der einzige Blick, den er aus seinem Gefängniß auf das Schicksal seiner Lieben werfen durfte; dann hörte er nie wieder von ihnen sprechen.
Gegen Ende des vierten Jahres wurde Jean Valjean die Gelegenheit geboten, zu entspringen. Seine Kameraden halfen ihm, wie dies in einem solchen Ort des Elends gewöhnlich ist. Er entkam und irrte zwei Tage lang frei umher – vorausgesetzt, daß man es Freiheit nennt, wenn Einer wie ein wildes Thier gehetzt wird, jeden Augenblick sich angstvoll umwendet, beim geringsten Geräusch zusammenschrickt, sich vor allem Möglichen fürchtet, vor einem rauchenden Schornstein, einem Menschen, der vorbeigeht, einem bellenden Hunde, einem galloppierenden Pferde, vor dem Stundenschlag der Kirchturmuhr, vor dem Tageslicht, weil er dabei gesehen werden kann, vor der Nacht, weil er dann nichts sieht, vor den Chausseen, den Wegen, den Gebüschen, vor dem Schlaf. Am Abend des zweiten Tages wurde Jean Valjean wieder eingefangen, nachdem er die sechsunddreißig Stunden hindurch weder gegessen noch geschlafen hatte. Das Seetribunal verurtheilte ihn wegen dieses Vergehens zu einer Verlängerung seiner Strafzeit um drei Jahre, so daß er im Ganzen acht Jahre zu verbüßen hatte. Im sechsten Jahre kam die Reihe zu entspringen abermals an ihn. Er machte wieder einen Versuch, gelangte aber nicht einmal ins Freie. Er hatte beim Namensruf gefehlt. Es wurde der übliche Signalschuß abgefeuert, und in der Nacht fand ihn die Runde unter dem Kiel eines im Bau begriffenen Schiffes und nahm ihn trotz seines heftigen Widerstandes fest. Also Flucht und Widersetzlichkeit. Dieser von dem Strafgesetzbuch vorgesehene Fall wurde mit fünf Jahren bestraft. Machte dreizehn Jahre. Im zehnten Jahr kam er wieder an die Reihe, benutzte auch die Gelegenheit, hatte aber wieder keinen Erfolg. Drei Jahr für diesen Versuch. Summa: sechzehn Jahre. Endlich wagte er es im dreizehnten Jahre, wenn ich nicht irre, noch einmal und richtete weiter nichts aus, als daß er nach einstündiger Abwesenheit, wieder dingfest gemacht wurde. Drei Jahre für die vier Stunden, Summa: neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er aus dem Gefängniß entlassen, in das er 1796 eingesperrt worden war, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.
Eine kurze Anmerkung. Es ist das zweite Mal, daß dem Verfasser dieses Buches bei seinen Studien über die Strafgerechtigkeit die Entwendung eines Brodes als Ursache der Vernichtung einer menschlichen Existenz aufstößt, Claude Gueux hatte ein Brod gestohlen, Jean Valjean desgleichen. Laut einem statistischen Bericht ist in vier Fällen unter fünf der Diebstahl eine Folge des Hungers.
Jean Valjean hatte das Gefängniß schluchzend und Verzweiflung im Herzen betreten; als er es verließ, war er ein harter, finstrer Mann geworden.
Was war inzwischen in seiner Seele vorgegangen?