Kitabı oku: «Les Misérables / Die Elenden», sayfa 8
»Wer sind Sie?« fragte der Hausherr.
Der Fremde antwortete: »Ich komme von Puy-Moisson. Ich bin den ganzen Tag zu Fuß gegangen. 48 Kilometer. Würden Sie das wohl? Ich bezahle.«
»Einem rechtschaffenen Menschen, der bezahlte, würde ich schon Unterkunft geben. Aber warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«
»Die sind überfüllt.«
»Ist nicht möglich. Es war ja heute kein Markttag, kein Jahrmarkt. Sind Sie bei Labarre gewesen?«
»Ja.«
»Nun?«
Der Fremde antwortete verlegen: »Ich weiß nicht – Er hat mich nicht aufgenommen.«
Sind Sie bei Dingrich, in der Rue Chaffaut gewesen? Die Verlegenheit des Fremden nahm zu. Er stotterte:
»Der hat mich auch nicht aufgenommen.«
Das Gesicht des Bauern nahm einen Ausdruck von Mißtrauen an, er betrachtete den Fremden von oben bis unten und schrie plötzlich mit einer Art Entsetzen:
»Sind Sie etwa der Mann, der ...«
Er warf einen prüfenden Blick auf den Fremden, trat einige Schritte zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und hakte die Flinte von der Mauer los.
Bei den Worten: »Sind Sie etwa der Mann?« War die Frau von ihrem Sitz aufgestanden, hatte ihre beiden Kinder in die Arme genommen und sich eilig hinter ihren Mann geflüchtet, indem sie erschrocken nach dem Fremden blickte und etwas von »Räubern« murmelte.
Alles dies geschah in kürzerer Zeit, als erforderlich ist, sich den Vorgang vorzustellen. Nachdem er eine Zeit lang den Ankömmling im Auge behalten hatte, als hätte er eine Viper vor sich, kam der Hausherr in die Thür zurück und sagte:
»Mach', daß Du fortkommst.«
»Ein Glas Wasser. Aus Erbarmen.«
»Eine Kugel durch den Kopf gehört Dir!«
Damit warf er die Thür heftig zu, und der Abgewiesene hörte, wie innen zwei starke Riegel vorgeschoben wurden. Einen Augenblick darauf wurden die Fensterladen zugemacht, und nach außen drang ein Geräusch, als wenn eine eiserne Stange innen vorgelegt würde.
Unterdessen kam die Nacht immer näher. Es wehte ein kalter Wind von den Alpen her. Bei dem Schein des verlöschenden Tageslichtes bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die sich längs der Straße erstreckten, eine Art mit Rasen belegter Hütte. Er schwang sich schnell entschlossen über den Zaun in den Garten hinüber und ging auf die Hütte zu. Sie hatte statt der Thür eine schmale und niedrige Oeffnung und besaß Aehnlichkeit mit den Baracken, die sich die Chausseearbeiter längs der Landstraßen zu bauen pflegen. Er glaubte ohne Zweifel, sie gehöre wirklich einem Arbeiter; ihm fror und ihn hungerte. Den Hunger wollte er geduldig ertragen, aber er fand hier wenigstens ein Obdach gegen die Kälte. Dergleichen Behausungen sind für gewöhnlich des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich platt auf die Erde hin und kroch in die Hütte hinein. Es war warm darin, und er fand ein gutes Strohlager vor. Auf diesem blieb er eine Zeitlang lang ausgestreckt liegen, ohne sich rühren zu können – so groß war seine Müdigkeit. Dann aber machte er sich daran seinen Tornister loszuschnallen, der Bequemlichkeit halber und um ihn als Kopfkissen zu verwerthen. In diesem Augenblick ließ sich ein grimmiges Knurren vernehmen. Er blickte auf. Im Eingang der Hütte zeichnete sich der Kopf einer gewaltigen Dogge ab.
Er war in eine Hundehütte gerathen.
Er konnte sich auf seine Kraft verlassen, und wagte sich, den Stock als Angriffs-, den Tornister als Schutzwaffe benutzend, aus der Hundehütte heraus, nicht ohne die Löcher in seinen Lumpen noch weiter aufzureißen.
Auch aus dem Garten kam er glücklich heraus, rückwärts und indem er mit einem geschickten, den Stockfechtern abgelernten Manöver die Dogge von sich abwehrte.
Als er, nicht ohne Mühe, seinen Rückzug über den Zaun bewerkstelligt hatte und sich wieder auf der Straße befand, allein, ohne Nachtlager, ohne Obdach, von dem Strohlager und aus der elenden Hütte verjagt, sank er mehr, als er sich setzte, auf einen Stein nieder und stöhnte.
»Ich habe es nicht einmal so gut wie ein Hund!«
Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, zur Stadt hinaus, in der Hoffnung einen Baum, einen Schober zu finden, der ihm ein schützendes Obdach gewähren würde.
So schleppte er sich eine Strecke dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt. Als er sich weitab von jeder menschlichen Behausung fühlte, hob er die Augen auf und hielt Umschau. Er befand sich auf einem Acker, vor einem niedrigen Hügel, der mit Stoppeln bedeckt war und einem kurz geschornen Menschenkopf ähnlich sah.
Der Horizont war tief schwarz, nicht blos von dem Dunkel der heraufsteigenden Nacht, sondern es waren sehr niedrige Wolken, die auf dem Hügel selber zu lasten schienen und über den ganzen Himmel heraufstiegen. Da indessen der Mond zu scheinen begann und im Zenith noch etwas Abendhelle schwebte, bildeten diese Wolken oben eine Art weißliches Gewölbe, von dem sich ein Lichtglanz auf die Erde niedersenkte.
Die Erde war also heller erleuchtet, als der Himmel, was sich recht schaurig ausnahm, und der kläglich winzige Hügel hob sich matt und undeutlich von dem düstern Horizont ab.
Die ganze Aussicht war eine öde, abstoßende, armselige, unheimlich eingeengte. Auf dem Acker und auf dem Hügel nichts, als ein verkrüppelter Baum, der sich in einer Entfernung von wenigen Schritten, vom Winde durchschauert, hin und herkrümmte.
Unser Wanderer war sicherlich weit davon entfernt jene Empfindungs- und Denkweise zu besitzen, die das Gemüth feinerer Menschen für geheimnisvolle Natureindrücke empfänglich macht; allein dieser Himmel, dieser Hügel, diese Ebene, dieser Baum waren so schaurig, so wüst, daß er nach kurzem Besinnen seine Schritte hastig rückwärts lenkte. Es gibt Augenblicke, wo die Natur dem Menschen ein feindliches Gesicht zeigt.
Er kehrte auf demselben Wege wieder nach der Stadt zurück, und fand die Thore schon geschlossen. Denn Digne, das in den Religionskriegen Belagerungen ausgehalten hat, war noch 1815 von Mauern mit viereckigen Thürmen umgeben, die seitdem geschleift worden sind. Der Fremde ging durch eine Bresche in die Stadt hinein.
Es mochte jetzt acht Uhr Abends sein. Da ihm die Straßen unbekannt waren, marschierte er wieder ohne Plan und Ziel.
Auf diese Weise kam er an der Präfektur, dann an dem Seminar vorbei. Als er über den Domplatz ging, ballte er die Faust gegen die Kirche.
In der einen Ecke dieses Platzes befindet sich eine Druckerei. Dort wurden zum ersten Mal die Proklamationen des Kaisers und der kaiserlichen Garde an die Armee gedruckt, die von Napoleon selber auf der Insel Elba diktirt worden waren.
Vollständig erschöpft und hoffnungslos streckte sich der Obdachlose auf die steinerne Bank aus, die sich vor der Druckerei befindet.
In dem Augenblick trat eine alte Dame aus der Kirche und sah ihn im Schatten dort liegen. »Was machen Sie da, guter Freund?«
Er fuhr heftig auf: »Sie sehen ja, gute Frau, ich lege mich schlafen.«
Die gute Frau, die auf diese Benennung ein volles Recht hatte, war die Frau Marquise von R.
»Auf diese Bank?«
»Ich habe neunzehn Jahre lang auf einer hölzernen Matratze gelegen, so kann ich auch einmal auf einer steinernen schlafen.«
»Sie sind Soldat gewesen.«
»Ja wohl, gute Frau.«
»Warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«
»Weil ich kein Geld habe.«
»Leider habe ich nur vier Sous bei mir.«
»Geben Sie sie mir.«
Die Marquise gab ihm das Geld und fuhr fort: »Mit so wenig können Sie keine Unterkunft in einer Herberge bekommen. Aber haben Sie's wenigstens versucht? Sie können doch nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen, Sie haben ohne Zweifel Hunger und frieren. Man hätte Sie aus Mitleid aufnehmen können.«
»Ich habe an alle Thüren geklopft.«
»Und?«
»Sie haben mich überall hinausgeworfen.«
Die gute Frau berührte den Mann am Arme und zeigte ihm ein kleines niedriges Haus, das auf der andern Seite des Platzes neben dem bischöflichen Palast stand.
»Sie sagen, Sie haben an alle Thüren geklopft?«
»Ja.«
»Auch an die da drüben?«
»Nein.«
»Nun dann, klopfen Sie einmal da an.«
II. Alltagsweisheit und Philosophie
An demselben Abend war der Herr Bischof nach seinem Spaziergange in der Stadt lange auf seinem Zimmer geblieben. Er arbeitete damals gerade an einem größeren Werke über die Pflichten, das leider unvollendet geblieben ist. Zu diesem Zwecke sammelte er alles, was die Kirchenväter und andere Autoritäten über diesen bedeutungsvollen Gegenstand gesagt haben. Sein Buch zerfiel in zwei Theile; erstens die Pflichten Aller; zweitens die Pflichten des Einzelnen, je nach seinem Stande, Berufe, Alter, Geschlecht u. s. w. Die Pflichten Aller, lehrte er, sind die wichtigsten. Sie zerfallen in vier Unterarten, die uns Sankt Matthäus bezeichnet: die Pflichten gegen Gott (Ev. Matth. Kap. 6), gegen sich selbst (Ev. Matth. Kap. 5 V. 29 und 30), gegen den Nebenmenschen (Ev. Matth. Kap. 7 V. 12).
Was die übrigen Pflichten anbelangt, so hatte der Bischof sie in andern Schriften der Bibel gefunden; die der Herrscher und Unterthanen in der Epistel an die Römer; die der Richter, der verheirateten Frauen, Mütter und jungen Männer, in der Epistel des heiligen Petrus; die der Ehemänner, Eltern, Kinder und Diener in der Epistel an die Epheser; die der Gläubigen in der Epistel an die Ebräer; die der Jungfrauen in der Epistel an die Korinther. Alle diese Vorschriften faßte er mit mühseligem Fleiße zu einem übersichtlichen Ganzen zusammen, das er den Gläubigen widmen wollte.
An diesem Abend arbeitete er noch fleißig um acht Uhr und schrieb, ein großes offenes Buch über den Knieen, in unbequemer Haltung auf kleinen Zetteln, als Frau Magloire hereinkam, das Silbergeschirr aus dem Wandschrank zu holen. Ein Weilchen nachher, als er merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht auf ihn wartete, klappte er sein Buch zu, stand vom Tische auf und begab sich in das Speisezimmer.
Es war dies ein rechteckiger Raum mit Kamin, Eingangsthür nach der Straße zu und einem Fenster, das auf den Garten hinausging.
Frau Magloire hatte in der That schon gedeckt und plauderte, während sie im Zimmer hantierte, mit Fräulein Baptistine.
Auf dem Tische, der sich nahe dem Kamin befand, stand eine Lampe und in dem Kamin brannte ein leidlich gutes Feuer.
Man kann sich leicht eine Vorstellung machen von den beiden Frauen, die beide sechzig Jahre hinter sich hatten: Frau Magloire klein, gut beleibt, lebhaft; Fräulein Baptistine sanft, hager, schwächlich, etwas größer, als ihr Bruder, in einer Robe von flohfarbener Seide, wie es 1806 Mode war, die sie damals in Paris gekauft hatte, und die immer noch vorhielt. Um uns einer volksthümlichen Redewendung zu bedienen, – die aber trotz ihrer Kürze inhaltsvoller ist, als eine seitenlange Beschreibung, – so hatte Frau Magloire das Aussehen einer Bäuerin und Fräulein Baptistine das einer Dame. Frau Magloire trug eine in Röhrenfalten gelegte weiße Haube, um den Hals ein Sammetband mit einem goldnen Kreuz, auf dem ein Herz lag, dem einzigen Frauenjuwel übrigens, das sich im Hause befand. Bekleidet war sie mit einem schneeweißen Brusttuch, einem Kleide aus grobem schwarzen Wollstoff mit weiten kurzen Aermeln, einer roth und grün karrirten Kattunschürze, die mit einem grünen Bande um die Taille gebunden war, und deren gleichartiger Latz an den oberen Ecken durch zwei Stecknadeln festgehalten wurde. Dazu an den Füßen grobe Schuhe und gelbe Strümpfe, wie sie von den Frauen in Marseille getragen wurden. Fräulein Baptistines Robe war nach Mustern aus dem Jahre 1806 zugeschnitten; mit kurzer Taille, engem Rock, Achselbändern, Patten und Knöpfen. Ihre grauen Haare verbarg sie unter einer Kräuselperrücke à l'enfant. Frau Magloires Gesichtszüge ließen auf Klugheit, Lebhaftigkeit und Herzensgüte schließen; nach den ungleich aufgezogenen Mundwinkeln und nach der Oberlippe, die dicker war als die untere, zu urtheilen, mußte sie brummig und rechthaberisch sein. In der That führte sie Sr. Bischöflichen Gnaden gegenüber, wenn Dieselben schwiegen, eine bei allem Respekt freimüthige Sprache; aber sobald Sr. Gnaden das Wort ergriffen, gehorchte sie, wie wir schon oben gesehen haben, so passiv wie ihr gnädiges Fräulein. Fräulein Baptistine, that dann nicht einmal den Mund auf. Sie beschränkte sich darauf, zu gehorchen und ihrem Bruder zu Gefallen zu handeln. Auch in ihrer Jugend war sie nicht hübsch gewesen. Sie hatte große, blaue, hervorstehende Augen und eine lange, gebogene Nase; aber ihr ganzes Antlitz, ihr ganzes Wesen athmete eine unbeschreibliche Güte. Von jeher sanftmüthig veranlagt, hatte sie sich durch herzerwärmende Tugenden des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung allmählich zur Heiligen vervollkommnet. Von Natur nur ein Lamm, hatte die Religion sie zu einem Engel gemacht. Armes frommes Fräulein! Welche theure Erinnerungen weckt Dein sanftes Bild in dem Gedächtniß Derer, die Dich kannten!
Was sich nun an jenem Abend in dem Hause des Bischofs Alles ereignete, hat Fräulein Baptistine so oft erzählt, daß sich mehrere Leute, die noch heute leben, an alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, genau erinnern können.
Frau Magloire sprach, als der Bischof in das Speisezimmer trat, mit großer Lebhaftigkeit über ihr Lieblingsthema, das ihr Herr geduldig über sich ergehen zu lassen pflegte, nämlich über die Klinke der Straßenthür.
Sie hatte während sie Einkäufe für das Abendessen besorgte, gar schlimme Neuigkeiten gehört. Es hieß ein Strolch, ein gefährlicher Landstreicher sei angekommen und treibe sich gegenwärtig in der Stadt herum, und wer heute Abend spät nach Hause komme, dem könne leicht etwas Unangenehmes begegnen. Die Polizei thue leider ihre Schuldigkeit nicht, indem der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister keine Freundschaft hielten und es gerne sähen, wenn ein Unglück passiere. Das würde ihnen eine prächtige Gelegenheit geben, den Andern als den schuldigen Teil hinzustellen. Die gescheidten Leute sollten also hübsch selber über ihre Sicherheit wachen. Selbstredend müsse ein Jeder sein Haus verschließen, verriegeln, verrammeln und ja die Thüren ordentlich zumachen.
Frau Magloire betonte das Wort Thüren mit großem Nachdruck; aber der Bischof, den in seinem ungeheizten Zimmer gefroren hatte, saß vor dem Kamin, und wärmte sich; abgesehen hiervon hing er noch andern Gedanken nach. Er beachtete also Frau Magloires energischen Wink nicht besonders, und sie sah sich genötigt, ihn zu wiederholen. Da mischte sich Fräulein Baptistine in das Gespräch und fragte, um es Frau Magloire recht zu machen, ihrem Bruder aber nicht zu mißfallen:
»Lieber Bruder, hast Du gehört, was Frau Magloire erzählt?«
»Zum Theil, ja!« antwortete er, drehte seinen Stuhl halb um, hielt die Hände auf die Kniee und wandte sein freundliches, gemüthlich heiteres Gesicht, das von unten durch den Lichtschein des Kaminfeuers hell beleuchtet war, der alten Magd zu. »Nun, erzählen Sie! Was geht denn vor? Was denn? Wir schweben also wirklich in einer furchtbaren Gefahr?«
Frau Magloire begann ihre ganze Geschichte von vorn, wobei sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, die Farben recht stark auftrug. Es solle sich zur Zeit ein Bummler, ein zerlumpter Kerl, ein gefährlicher Bettler in der Stadt aufhalten. Er hätte bei Jacquin Labarre nächtigen wollen, der aber hätte ihn abgewiesen. Dann sei er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und dann habe er in den Straßen herum gestrolcht. Ein Kerl mit einem wahren Galgengesicht!
»Was Sie sagen!« meinte der Bischof.
Daß er so bereitwillig auf ihr Gespräch einging, ermuthigte Frau Magloire. Deutete sie sich dies doch als ein Zeichen, daß er anfing, Furcht zu bekommen. Sie fuhr also triumphirend fort:
»Ja, ja. Bischöfliche Gnaden, so steht's. Diese Nacht passirt ganz gewiß ein Unglück in der Stadt. Jeder sagt das. Leider thut die Polizei ihre Schuldigkeit nicht. (Diese Wiederholung, um einen wirksamern Eindruck zu machen.) Ein Gebirgsland, und nicht einmal des Nachts Laternen in den Straßen! Geht man aus, so umgiebt Einen eine Finsterniß, als stäke man in einem Sack. Und ich, Bischöfliche Gnaden, behaupte, und das gnädige Fräulein behauptet auch ...«
»Ich behaupte gar nichts«, fiel ihr das Fräulein ins Wort. »Was mein Bruder thut, ist wohlgethan.«
Aber Frau Magloire beachtete nicht den erhobenen Einspruch.
»Wir behaupten also, daß dieses Haus ganz und gar nicht sicher ist, und wenn Bischöfliche Gnaden erlauben, hole ich den Schlosser, Paulin Musebois, und lasse ihn die alten Riegel wieder an der Thür anbringen. Sie sind noch da, und die Arbeit ist im Handumdrehen gemacht. Riegel brauchen wir, wäre es auch nur für diese Nacht. Denn eine Thür, die der erste Beste von außen aufklinken kann, nein, so was schreckliches giebt's nicht mehr. Dabei haben Bischöfliche Gnaden die Gewohnheit und rufen immer gleich: Herein! Und in der Nacht – Herr, erbarme Dich! braucht auch Keiner erst um Erlaubnis zu bitten.«
In demselben Augenblicke wurde heftig an die Thür geklopft.
»Herein!« rief der Bischof.
III. Heldenmüthiger Gehorsam
Die Thür ging auf, heftig, weit auf, und hereintrat der uns schon bekannte Fremde, der Wandrer, den wir vorhin auf der Suche nach einem Obdach beobachtet haben.
Er trat ein, that noch einen Schritt und blieb stehen, ohne die Thür hinter sich wieder zuzumachen. Den Tornister auf dem Rücken, den Stock in der Hand, das entschlossene grimmige Gesicht vom Kaminfeuer beleuchtet, war er eine furchtbare, unheimliche Erscheinung.
Frau Magloire hatte nicht einmal so viel Kraft übrig, um laut aufzuschreien und stand wie angewurzelt mit offnem Munde da.
Fräulein Baptistine hatte sich beim Eintritt des Vagabunden nach ihm umgewendet. Sie fuhr zusammen vor Schreck, wandte aber dann allmählich das Gesicht nach dem Kamin hin, wo ihr Bruder saß, und alsbald nahmen wieder ihre Züge die gewohnte Ruhe und Heiterkeit an.
Der Bischof faßte den Ankömmling ruhig ins Auge.
In dem Augenblick, als er den Mund aufthat, wohl um nach dem Begehr des Fremden zu fragen, stützte Dieser beide Hände auf seinen Stock, ließ seine Augen über den greisen Herrn und die beiden Frauen irren und sprach, ohne die Anrede des Bischofs abzuwarten, mit lauter Stimme:
»Die Sache ist die. Ich heiße Jean Valjean. Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave. Ich habe neunzehn Jahre im Bagno verlebt. Vor vier Tagen bin ich in Freiheit gesetzt worden und jetzt auf dem Wege nach Pontarlier, meinem Bestimmungsort. Vier Tage marschiere ich nun schon, von Toulon aus. Heute habe ich achtundvierzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Diesen Abend, wo ich in diesem Ort angekommen bin, habe ich in einem Gasthaus einkehren wollen, aber sie haben mich hinausgewiesen, von wegen meinem gelben Paß, den ich im Stadthaus vorgezeigt habe. Das mußte ich nämlich. Dann bin ich wieder in eine Herberge gegangen. Da hat's wieder geheißen: Raus mit Dir. Keiner hat mich haben wollen. Dann bin ich nach einem Gefängniß gegangen. Der Schließer hat mir nicht aufgemacht. Dann bin ich in eine Hundehütte gekrochen. Da ist der Hund gekommen, hat mich gebissen und mich weggejagt, gerade als wäre er ein Mensch. Es war als wüßte er, was für Einer ich bin. Dann bin ich querfeldein gegangen und wollte unter freiem Himmel übernachten. Der Himmel war aber nicht frei, er hing voll Wolken und ich dachte, es würde regnen, und einen Gott, der den Regen nicht herunterfallen läßt, mir zu Gefallen, giebt's ja doch nicht. Da bin ich wieder nach der Stadt zurückgegangen und wollte mir einen Thorweg suchen. Auf dem Platz hier habe ich mich auf eine Steinbank niedergelegt Da ist eine Frau gekommen, hat mir dies Haus gezeigt und hat gesagt: Klopfe mal da an. Das habe ich gethan. Was ist das für ein Haus? Eine Herberge? Ich habe Geld. Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Was ich mir in neunzehn Jahren, in meiner Sträflingszeit, mit meiner Arbeit verdient habe. Ich kann alles bezahlen. Mir soll's nicht drauf ankommen. Ich habe ja Geld. Ich bin sehr müde, achtundvierzig Kilometer, und hungrig. Darf ich hier bleiben?«
»Frau Magloire,« sagte der Bischof, »noch ein Gedeck!«
Der Vagabund trat drei Schritte, an die Lampe heran, die auf dem Tische stand. »So ist das nicht,« hob er wieder an, »Sie verstehen mich gewiß nicht. Ich bin ein Galeerensklave, ich komme aus dem Bagno.« Er zog ein großes gefaltetes Papier aus der Tasche. »Hier,« und er faltete es aus einander, »mein Paß. Ein gelber. Das hat den Zweck, daß ich überall, wo ich hingehe, weggejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen. Ich hab's im Bagno gelernt. Da ist eine Schule, da können die hingehen, die's wollen. Da können Sie's lesen. »Jean Valjean, aus dem Gefängniß entlassener Sträfling, gebürtig aus ... Das ist Ihnen egal, ob Sie das wissen oder nicht ... ist neunzehn Jahre im Bagno gewesen. Fünf Jahre wegen Diebstahl mit Einbruch, vierzehn Jahre, weil er vier Mal hat entspringen wollen. Ein sehr gefährliches Subjekt.« So! nun wissen Sie's. Jedermann hat mich rausgeschmissen. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das hier eine Herberge? Kriege ich hier was zu essen und Unterkunft für die Nacht? Haben Sie einen Stall?«
»Frau Magloire, beziehen Sie das Bett im Alkoven mit neuen Laken.«
Wir haben schon auseinandergesetzt, wie die beiden Frauen zu gehorchen pflegten. Frau Magloire ging also hinaus, das zu thun, was ihr geheißen war.
»Herr Valjean, nehmen Sie Platz und wärmen Sie Sich. Wir speisen sofort, und während der Essenszeit wird Ihr Bett zurecht gemacht.
Jetzt begriff der Vagabund. Auf seinem bisher finstern und grimmigen Gesicht war plötzlich eine unsagbare Verwundrung, Zweifel, Freude zu lesen. Mit einer Ueberstürzung, als wäre er irrsinnig geworden, stieß er die Worte hervor:
»Wahrhaftig! Sie behalten mich hier! Sie jagen mich nicht fort? Einen ehemaligen Sträfling? Sie sagen: Herr Valjean, nicht Du? Mach, daß Du fortkommst, Du Hund Du! So sagen sie immer zu mir. Ich glaubte wirklich, Sie würden mich rausjagen. Deswegen habe ich ja auch gleich gesagt, wer ich bin. Das ist mal eine gute Frau, die mich hierher gewiesen hat. Ich kriege was zu essen! Und ein Bett mit Matratze und Laken wie alle andern Leute! Ein Bett! Neunzehn Jahre habe ich in keinem Bett gelegen! Sie sagen nicht, daß ich wieder fortgehn soll. Ihr seid gute Leute. Aber ich habe Geld. Ich will alles richtig bezahlen. Verzeihung, Herr Gastwirt, wie heißen Sie? Ich bezahle, so viel Sie wollen. Sie sind ein braver Mann, Sie sind doch Gastwirt, nicht wahr?
»Ich bin ein Priester, der hier wohnt.«
»Ein Priester! Ein guter braver Priester! Dann verlangen Sie kein Geld von mir? Sie sind der Pfarrer von der großen Kirche da drüben? Nun natürlich! Jetzt erst sehe ich Dummkopf das Käppchen,«
Während seiner Rede hatte er Tornister und Stock in eine Ecke gestellt, den Paß wieder eingesteckt und sich gesetzt. Fräulein Baptistine betrachtete ihn mit freundlichen Blicken. Er fuhr fort.
»Sie sind menschlich, Herr Pfarrer, Sie haben keine Verachtung gegen mich. Wie gut das ist, so ein guter Priester! Also haben Sie's nicht nöthig, daß ich was bezahle?«
»Nein! Behalten Sie Ihr Geld. Wieviel haben Sie? Sagten Sie nicht hundertneun Franken?«
»Und fünfzehn Sous!«
Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Und wieviel Zeit haben Sie gebraucht, das zu verdienen?«
»Neunzehn Jahre!«
»Neunzehn Jahre!«
Der Bischof seufzte tief.
Der Fremde fuhr fort. Ich habe noch mein ganzes Geld. Seit vier Tagen habe ich nur fünfundzwanzig Sous ausgegeben, und die habe ich in Grasse verdient. Da wurden Wagen abgeladen und dabei habe ich geholfen. Da Sie Abbé sind, so muß ich Ihnen sagen, wir hatten auch einen Geistlichen im Gefängniß. Und einmal habe ich auch einen Bischof zu sehen gekriegt. So Einer, den Sie Ew. Bischöfliche Gnaden nennen. Er war aus Marseille. Das ist ein Pfarrer, der über den andern Pfarrern ist. Entschuldigen Sie, ich drücke mich schlecht aus, aber was versteht Unser Einer von so was! – Er hat die Messe gelesen, mitten im Bagno, vor einem Altar, er trug ein spitzes goldnes Ding auf dem Kopf. Das glänzte mal im Sonnenlicht: Wir waren an drei Seiten aufgereiht, uns gegenüber die Kanonen mit angezündeter Lunte. Wir konnten nicht gut sehn, er war zu weit ab, da hinten. Und was er gesagt hat; verstand man auch nicht. Das ist ein Bischof.«
Während er noch sprach, war der Bischof aufgestanden und hatte die offen gebliebne Thür zugemacht.
In demselben Augenblick kam auch Frau Magloire mit dem Gedeck wieder zurück.
»Möglichst nahe am Kamin!« befahl der Bischof. Und zu seinem Gast gewendet: »In der Nacht weht ein kalter Wind in den Alpen. Sie friert gewiß, Herr Valjean?«
Jedes Mal, wenn er mit seiner freundlichen Stimme das höfliche »Herr« aussprach, leuchtete es auf in dem Gesicht des Unglücklichen. Der Klang dieses Wortes wirkt auf einen Sträfling, wie der Anblick eines Glases Wasser, das man einem Verdurstenden darreicht. Wer in der Schande steckt, lechzt nach Achtung.
»Die Lampe leuchtet schlecht!« bemerkte mit einem Mal der Bischof.
Frau Magloire verstand den Wink, holte aus dem Schlafgemach Sr. Bischöflichen Gnaden die beiden silbernen Leuchter und stellte sie auf die Tafel.
»Herr Pfarrer,« sagte der Gast, »Sie sind recht gut. Sie verachten mich nicht. Sie stecken Ihre feinen Kerzen für mich an. Ich habe Ihnen aber doch nicht verschwiegen, wo ich herkomme, und daß ich ein elender Mensch bin.«
Der Bischof, der neben ihm saß, berührte sanft seine Hand. »Sie konnten es unterlassen mir zu sagen, wer Sie sind. Dies ist nicht mein Haus, sondern das Haus Jesu Christi. Wer hier herein will, den fragt diese Thür nicht, ob er einen Namen, sondern ob er einen Kummer hat. Sind Sie leidbedrückt, hungert und dürstet Sie, so sind Sie willkommen. Und danken Sie mir nicht, sagen Sie nicht, daß ich Sie in mein Haus aufnehme. Hier wohnt Niemand, außer wer einer Zufluchtsstätte bedarf. Ich sage Ihnen, Sie, der Sie hier vorbeigehen, haben mehr Anrecht auf den Schutz dieses Hauses, als ich selber. Alles, was hier ist, gehört Ihnen. Wozu brauche ich Ihren Namen zu wissen? Uebrigens haben Sie einen Namen den ich wußte, bevor Sie mir Ihren Namen nannten.«
Der Gast machte große Augen vor Verwundrung.
»Wahrhaftig? Sie wußten, wie ich heiße?«
»Ja, Sie heißen mein Bruder!«
»Hören Sie,« Herr Pfarrer, rief der Gast »Ich hatte gehörigen Hunger, als ich hier hereinkam, aber Sie sind so gut, daß ich – ich weiß nicht, wie das kommt, meinen Hunger nicht mehr fühle.«
Der Bischof sah ihn an und fragte:
»Sie haben wohl viel Schlimmes durchgemacht?«
»Ach ja! In der rothen Jacke, die Kanonenkugel am Bein, ein Brett zum Schlafen, Hitze, Kälte, Arbeit, Stockschläge. Eine doppelte Kette, wenn man so gut wie gar nichts verbrochen hatte. In die Einzelzelle, wenn man mal ein Bischen aufmuckte. Auch im Bett noch, wenn man krank war, behielt man die Kette. Die Hunde, die Hunde sind glücklicher. Neunzehn Jahre lang. Ich bin sechsundvierzig Jahre alt. Und jetzt zu guter Letzt der gelbe Paß. Ja ja!«
»Ja, Sie kommen aus einem Ort des Jammers. Hören Sie auf meine Worte. Es wird im Himmel mehr Freude herrschen über die Thränen eines reuigen Sünders, als über das weiße Gewand hundert Gerechter. Wenn Sie aus jenem Ort des Leidens mit Gedanken voll Haß und Groll gegen die Menschen kommen, so sind Sie zu bemitleiden; hegen Sie aber Gedanken des Wohlwollens, der Sanftmuth und der Friedfertigkeit, so sind Sie ein besserer Mensch, als der Beste von uns.«
Währenddem hatte Frau Magloire das Essen aufgetragen. Eine Suppe bestehend aus Wasser, Oel, Brod und Salz; etwas Speck, ein Stück Hammelfleisch, Feigen, frischer Käse, und ein großes Roggenbrod. Außerdem hatte sie aus eignem Antrieb eine Flasche alten Mauves spendirt.
Bei diesem Anblick überflog plötzlich die Züge des Bischofs jene Vergnügtheit, die gastfreundlichen Menschen eigen zu sein pflegt. »Zu Tische!« kommandierte er lebhaft. Er lud, wie er zu thun pflegte, wenn er einen Gast zu Tische hatte, den Vagabunden ein zu seiner Rechten Platz zu nehmen, und Fräulein Baptistine setzte sich ruhig und unbefangen links von ihm.
Dann sprach der Bischof das Tischgebet und schöpfte seiner Gewohnheit gemäß die Suppe aus. Der Gast fiel gierig über seinen Teller her.
Plötzlich bemerkte der Bischof: »Mich dünkt, es fehlt irgend etwas auf dem Tische.«
In der That hatte Frau Magloire nur die drei durchaus nothwendigen Bestecke auf die Speisetafel gelegt. Wenn aber der Bischof einen Gast hatte, so war es der Brauch des Hauses, daß die sechs silbernen Bestecke auf dem Tische prangen mußten. Diese kindliche Prahlerei mit einem so bescheidnen Luxus muthete angenehm an in diesem Hause, wo die Armuth für wohlanständig galt.
Frau Magloire verstand die Bemerkung des Bischofs, ging ohne ein Wort zu sagen hinaus und alsbald erglänzten auf dem Tischtuche die drei andern Bestecke.