Kitabı oku: «Doomscroll», sayfa 3
Letztes Aufbäumen
„Verdammt, ihr habt die Seele eines jeden Einzelnen für ein fragwürdiges Wirtschaftsmodell zu Grabe getragen. Und das habt ihr nun davon... nichts gelernt habt ihr, wieder nichts...“
Der Alte versucht sich vergeblich im Bett aufzurichten. Fixierung und Schläuche verhindern die Eigenleistung. Selbstverantwortlichkeit unterbindende Maßnahmen erschweren das letzte Aufbäumen. Verstört und wüst röchelnd ringt und schnappt er nach Luft, ein fürchterliches Brennen durchfährt seine Brust gleich einem Feuerstrom. Ein Neuronenfeuer zerrenden und stechenden Schmerzes. Geräuschlos sinkt sein Kopf ins Kissen. Langsam schließen sich die verdrehten Augen. Als würden sie sich, in eine formlos klaffende Leere starrend, vom Leben selbst abwenden und durch ihr Erlöschen dem begrenzten Raum des sinnlichen Sehens noch ein letztes Mal verweigern. Die tönende Technik hält die Frequenz. Ohnehin überlastetes Personal stürmt nicht herbei. Jede Hilfe kommt zu spät. Des Häuptlings Geist hat sich, in der großen dunklen Wolke, die er doch kommen sah, aufgelöst. Wie jäh doch das Ende über die Alten hereinbricht, sie ohne großes Tohuwabohu zur Ahnenschaft befördert. Nur das herbstliche Licht wird ewig strömen und unter strahlendem Fluten noch nach den Seelen der Verstorbenen greifen.
Leere Phrasen, Thesen und luftleere Räume
Als zu Beginn des eingeleiteten Resets alle erdenklichen Sicherheiten und Gewissheiten vor unseren Augen platzten, herrschte nackte Angst. Welcher zündende Funke nun die kollektive Panik in Massenhysterie umwandeln würde, war nur noch eine rein ästhetische Frage. Der Bürgerkrieg stand vor der Tür. Davon abgesehen führte sowieso ein jeder seinen kleinen Kampf um die ihm zustehende gesicherte Vormachtposition. Russland operierte scheinbar wieder in feindlicher Aktivität, Trump sprach bereits von der dunkelsten Stunde der Menschheit, das RKI von der Ruhe vor dem Sturm und der Arche vor der nächsten Flut. Der Einzelhandel kämpfte gegen die absurden Quadratmeter-Regelungen, die Schulen blieben weiterhin geschlossen, Parkbänke mit weiß rotem Flatterband vor strafbarer Nutzung gesichert, während Staatsorgane über Microsoft organisierte Kulturrevolutionen, Lockdown-light, soft sowie medium, XXL und ähnliche zukunftsmelodiöse Schikanen austüftelten.
Die Kinder, sie litten nicht nur unter den Ausgangsbeschränkungen und Bewegungsmangel. Und von einer eventuellen Impfpflicht wollte plötzlich keiner mehr reden. Eine Etappe kollektiver Verdrängung folgte der nächsten. Etappen, zu denen der gebeutelte Bürgersinn durchatmen konnte. Die Hartnäckigen, zunehmend als rechte Idioten Verschrienen, forderten unnachgiebig die Grundrechte zurück. Sie forderten weitgehend friedlich demonstrierend ihr Recht auf Ausübung der freien Meinungsäußerung ein und wollten obendrein wieder ungehindert ihrer Wirtschaftlichkeit nachgehen, ausgehen, tanzen, flanieren, in den Urlaub fahren, fliegen, reisen und frei sein. Ohne doofe Schnabelkappe wollten sie doch bloß weiter konsumieren, Kultur leben, bespaßt und bespielt sein, in gemeinsamer Übereinkunft Gesellschaft und Kultur weiterbetreiben. Wer wollte schon langfristig in den Mitmenschen eine potentielle Lebensgefahr wittern? Das war einfach nicht vorgesehen, auch wenn einige da eifrig mitmachten. Ohne Immunitätsausweis an den Garda See fahren, dass war es, was ihr Leben schließlich lebenswert machte. Allein dafür lohnte es sich seine neue Verfassung zu erstreiten. Das war und ist noch heute ihre Vorstellung von Glück. Natürlich der Gardasee, nicht die richterliche Gebundenheit an eine stabile Verfassung. Und hatten sie denn nicht fleißig mit zur Bekämpfung des Virus beigetragen? Man beachte Italien, Schweden, Brasilien, die USA. Wir Deutschen, ja wir besiegen den Virus, unterstützt von Durchhalteparolen des RKI. Die schleichende Digitalisierung und technische Durchwirkung des gesamten Kulturraumes steht noch bevor. Halten Sie noch ein bisschen aus. Die Maßnahmen müssen leider noch einmal verschärft werden. Nur zu ihrer Sicherheit. Für ihr Wohlergehen. Für ihre Gesundheit. Ihr Überleben. Helfen sie uns, damit wir ihnen auch weiterhin helfen können. Gemeinsam sind wir stark.
Der Häuptling war gegangen, hatte sein unvollendetes Werk den Küken hinterlassen. Nun lag es an ihnen, ob sie weiter auseinanderdriftend, sich gegenseitig erschlagen oder aber, dem weisen Rat des Verschiedenen folgend, den gewaltlosen Kampf aufnehmen würden. Den Kampf gegen den Feind im eigenen Innern, gegen die Durchseuchung der eigenen Seele, der Entfremdung des modernen Verbrauchers vom Wert der eigenen Produktphilosophie.
Küken, zieht gemeinsam in den friedfertigen Kampf gegen euren ureigenen faschistoiden Wesenskern.
Er hatte dem Häuptling zugehört, hatte ihn um Geduld gebeten und sich seine wirre Rede, die sehr wohl konstruktive Elemente beinhaltet hatte, gefolgt. Doch das Herbstlicht hatte er nicht mehr erlebt. Der Häuptling hatte sich den irdischen Kreisen entzogen und er als Küken würde dessen Worte in Ehren halten.
Wer fragt sich hier was?
Waren die Gumpenjucker, die sich trotz strenger Verordnungen hin und wieder an den Buchenegger Wasserfällen einfanden, im vereinenden Moment ihrer adrenalingetränkten Rudelbildung, nicht ebenfalls neotribal organisiert? Ekstatisch und dionysisch wie zu allem bereite Kämpfer sprangen sie noch in das kälteste Wasser. Und zählten nicht auch all die dort draußen unlängst vom Glauben abgefallenen und coronös Geschädigten letztlich zu den friedlichen Kriegern des Lebens!? All die Coronösitäten, Absurditäten und Kuriositäten menschlicher Vielfalt. Auch jene, die blindlings ihre Rechte Einforderten, die jäh Erwachten und die zulange unbedacht die auferlegten Missstände Hinnehmenden. Und schließlich all die Verarschten, durch quasi-demokratische Prozesse Verblödeten und Ausgestochenen. All die sich hinter ihren Einweg-Maulkörbchen, Individual-Schnabeltüten und bunt verzierten Schnutenmützen versteckenden Verschreckten und sich unmündig eingerichtet Verstörten - waren sie nicht alle tief in ihren Herzen Stammesmitglieder eines großen starken und autark organisierten Stammes? Eines Stammes ohne vorgeschobene, sich in fremden Interessen verlierende Volksvertreter an der Spitze, die ihre Untertanen mundtot machten, entmutigten und unter fragwürdigem Banner der Volksgesundheit regelrecht entmündigt hatten.
Ein komplexer, der Einfachheit entkoppelter Leviathan, der alles Verständliche saugte, alles in Mehrwert ersäufte und verschlang, trieb schon zu lange sein hässliches Unwesen. All die Landwirte, Handwerker, zu niederen Stände und zu hoch angesiedelten Intellektuellen - waren sie nicht allesamt gelackmeierte Nomaden? Postmoderne Umtriebige, eingelullt und weichgespült. Dem Glauben an ihr Selbst beraubt, da alles seinen Preis hatte, nichts mehr einen Wert. All die Sportler und Arbeitsamen mit ihren industriell gefertigten Hilfsmitteln, Gerätschaften und Werkzeugen - waren sie nicht einst allesamt stolze Krieger gewesen? Selbstgefertigte Werkzeuge und Waffen, eingetauscht gegen einen kleinen Allround-Computer und ausgestattet mit vielerlei künstlichen Bedürfnissen, gekoppelt an eine reiche Produktpalette aufgezwungener Wertigkeiten, die nichts als sinnlose Industrien rechtfertigten und die ohnehin einlullende Scheinzufriedenheit und Entfremdung der User weiter begünstigten. Wo waren sie nur, all die solidarisch vereinten Kämpfer des Überlebens, die Einforderer grundlegender Bedürfnisse und Rechte? Bleiche verängstigte Menschlein oder eben vor Wut schäumende, aufgepumpte Wutbürgeradern und Schreihälse in Muskelshorts zierten die Monitore. Ein Panorama und denkwürdiger Querschnitt der Gesellschaft. Was außer ihrer fahrigen Definition von Freiheit und Frieden einte diese Leute? Hatte es für sie denn überhaupt jemals so etwas wie eine intuitive moralische Instanz, eine Übereinkunft des Gewissens gegeben? Eine geistige Bruderschaft regionaler Zusammenschlüsse? So etwas wie diese verschriene völkische Übereinkunft, in deren Imagination die moderne Rechte so gerne schwelgte. Oder war hinter dieser Verkitschung einstiger Ahnenschaft und der Idealisierung vorindustrieller Zeiten, all der überschaubar vital strahlenden Männlichkeit, der praktisch ausgerichteten manuellen Tätigkeit mit echten Materialien, all den bemühten Tönen um den Erhalt und der vorrangigen Gesundheit der Familien, der Böden, denn nichts als territorialer sowie permanenter Stellungs- und Gesinnungskrieg die Regel? Und waren nun folglich denn auch all diese Outdoor-Freaks und feschen Alpinisten, die nun unsere postmodernen Gefilde durchstachen und durchkreuzten, nichts weiter als braungebrannte, drahtige und narzisstische Kletteraffen, allesamt breitgetretene Grenzerfahrungen im frisierten Schädel, oder aber einte sie letztlich doch mehr als allein das Narrativ absoluter Outdoorbekleidungs-Konformität und industriell gefertigtem sowie gestilltem Erlebnis-Heißhungers? Fühlten sie tief in ihrem Wesen denn nur annähernd etwas, was sich über den Rahmen ihrer zwangs-individualisierten Bedürfnisse hinaus Solidarität nennen ließe?
Was für statisch festzumachende Werte bildete ihre Gesinnungsübereinkunft, ihre Einheit? Und wie stand es um ihre wahre Manneskraft und Weiblichkeit? Verschossen sie sich da nicht gewaltig mit ihrem technokratisch anmutenden Gestrampel für Gesundheit und spirituelle Unabhängigkeit? Strampelten sie sich nicht allesamt, Schritt für Schritt, weiter hinein in den kollektiven Niedergang? Schaufelten sie sich nicht unmerklich ihr wohltemperiertes Grab in der Digitalisation eines Gesundheitsregimes, dass es einfach nur zu gut mit ihnen meinte. Niemand mochte heute die Galeere der geistigen Erschöpfung noch manuell voran peitschen. In Zeiten von wohldosierten Cyberattacken verrenkt man sich beim Peitschen nicht mehr den Arm. Das Hobby dem Körper, die Arbeit dem Hirn.
Der innere Nomade, der auch in ihm nahezu domestiziert und erloschen war, versuchte wieder Fuß zu fassen. Langsam aber sicher geriet er in Bewegung, wagte den Versuch eines ersten vorsichtigen Schrittes.
Sofern der allzu deutsche Hang zur Romantisierung auf verklärte Untergangsverliebtheit trifft, gipfelt das entweder in radikale, bis hin zu faschistoiden Tendenzen, zu ewig links-bekannter Moniertheit oder aber zu neotribalem Idealismus. Alles war zu begrüßen außer das Gestern, der Status Quo-Übereinkunft.
In Maffesolis Forschung findet sich kein eindeutiger Beweis für die Existenz eines universellen Narratives, demzufolge der postmoderne Nomade über die kulturell angelegte Eingebung einer Sinnes- beziehungsweise Gesinnungsübereinkunft verfügt und sich aus dieser folglich ein Fundament besagter Einheit und Einstimmigkeit für ideell orientierte Gemeinschaftsmodelle ergeben würde. Daraus resultiert eine inhärente Distanz zu festgelegten Wertigkeiten und mythologischen Begrifflichkeiten wie etwa die der Ehre und des Gewissens. In welcher Tradition von Ehre, des besten Wissens sowie Gewissens, vermag der unstete, sich vor der Wertigkeit schützende Nomade denn schon einzurichten? Ist dies bei dem ganzen heillosen Durcheinander denn überhaupt noch sein Anliegen? Ob der postmoderne Nomade nun, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse, ein Freund der Bodenreform sein sollte oder nicht, für eine entschärfende präventive Umverteilung einzutreten habe oder nicht, das lässt sich nicht vorwegnehmen. Der Tradition von Ehre und Gewissen stellt Maffesoli die permanente experimentelle Verschmelzung des Individuums mit der “konfusiellen Ordnung korrespondierender Elemente“ gegenüber. Mit einfachen Worten: Maffesolis Theorie zufolge war er offen für alles.
Waldbewohner oder Transhumanist – Somewhere oder Anywhere?
Tendenziell liebäugelte Gandalf eher mit der radikalen Praxis des Neotribalismus. Zwar strebte er im Kern eine kummunitaristische Gemeinschaft an, schloss langfristig die Beteiligung an Aktionen, die den Zerfall des erschöpften Systems beschleunigen würden, nicht kategorisch aus. Zum Erhalt der Lebensgrundlagen, seien diese auch noch so primitivistisch motiviert, gehöre der gesunde Widerstand eines jeden Stammesmitglieds gegen destruktive Außenmächte, sofern diese das Erblühen der Gemeinschaft bedrohten oder gar zu unterdrücken versuchten. Somit war für Gandalf geklärt, inwieweit diverse Arten des Verlusts ( ja selbst die von jeglichem Glaube abgefallene Weltsicht der sogenannten modernen Gesellschaft mit ihren krankhaften Verfeinerungs-tendenzen, die Abkehr vom Glauben an die Säkularisierung mit endfinalem Pathos zur Überschätzung demokratischer Werte und folglich auch die ganze Politikverdrossenheit, genährt durch die entgrenzten Interessen dem Gemeinwohl entkoppelter Großindustrien) erst zu dieser innovativen Rückbesinnung des aufkeimenden Primitivismus geführt hatten und folglich für dessen Heraufkunft zur Verantwortung heran gezogen werden mussten. Zur Abtrünnigkeit und schließlich zum endgültigen Ausstieg ganzer Volksschichten würden die heutigen Entwicklungen seines Erachtens nach bald führen. Langfristig würde eine gewaltige Umlagerung von Wert und Besitz unausweichlich stattfinden. Hinsichtlich dieser beeindruckenden, da gleichsam verschleierten Werteverschiebung, sei die derzeitige Umrüstung des Analogen ins Digitale ein reines Kinderspiel. Ein Nebeneffekt, den die Mehrheit als einen ihr Leben erleichternden Zugewinn geltend mache. Doch aus gesamt-philosophischer Sicht ergäbe sich für die Gesellschaft einfach kein zurück mehr. Folglich hielt er auch nicht viel von Maffesolis postmodernem Nomadentum, wenngleich er dessen Annäherung an die soziale Frage durchaus akzeptierte - er selbst wähnte sich bereits angekommen. Das selektive Prinzip der Somewheres und Anywheres hielt er für ein enorm gefährliches neuartiges Vergesellschaftungsprinzip abgehobener Gefühls-Ästethen, die die Gesellschaft mit ihren perversen Phantasien in zwei, sich konträr gegenüberstehende Klassifizierungen des zukünftigen Menschen zerteilt. Wer derart innovativ und sektiererisch zugleich denke, der durchschnitt in Gandalfs Augen blindlings das aus natürlichem Material geflochtene Seil, das Tier und Übermensch bis dato wenigstens noch im materiellen Sinne verband.
„Nun geht der Technisch-Versierte daher, seziert und operiert am Naturzustand herum, durchtrennt das Seil und wähnt sich auf der richtigen Seite - die der Zukunft. Er erklärt den ortsansässigen, mit der Scholle verwurzelten Mensch zum Tier, also zu einem Untermensch, der der überholten Vergangenheit angehöre, während er selbst, den Herausforderungen technischer Innovation folgend, sich als omnipotenten Weltenretter und bevorzugt durch ein gestaltetes Morgen strömenden Anteilnehmer verstehen will, der überall und nirgendwo unter hocheffizienter Flexibilität sein Zuhause zu installieren wisse.
Sollten sie doch in ihm einen hängengebliebenen Somewhere sehen. Ihn würde man nicht so schnell vertreiben. Vor allem nicht die der Technik verfallene Zukunftsvision weltverbesserischer NGOs, gefolgt vom Angebot durchgeknallter, milliardenschwerer Schirmherren und Weltenretter. Heimat war für ihn noch lange kein Auslaufmodell, beworben von irgendwelchen verlorengeglaubten, dem Gestern nachtrauernden Somewheres. In der steten Entfernung von Heimat und Boden lag für ihn keine Zukunft. Ein leeres Versprechen war diese weitere Entfremdung von Mensch und Natur hin zum Typus des unabhängigen, multilateral agierenden Anywheres, der zur Erholung gelegentlich einen auf geerdeten Somewhere machte.
Und auch die moderate Tendenz des Neotribalismus konnte ihn ehrlich gesagt mal kreuzweise. Kreuzweise konnte ihn auch der Pfaffe zu Oberstaufen, der Bürgermeister, der Förster, die Jäger, die Almgenossenschaft - sie alle waren schlichtweg blind. Blind für das Eigentliche. Doch die Menschen, sie hatten nun einmal unterschiedliche Vorlieben. Ein Blinder würde gerne sehen, während ein Sehender nur selten erblinden mochte.
All diese frühgeschädigten Interessen blinder Menschen, die naturgemäß auch die subkulturellen Aussteigerkulturen mit ihrer Destruktivität befielen und regelrecht zum Scheitern zwangen und dabei große Töne von einer glanzvoll sicheren Zukunft spukten, in der wir doch alle an einem Strang ziehen würden – in alledem erkannte er einen gewaltigen Schwindel. So gesehen bedeuteten ihm all die schönen Reden dieser schwer gebeutelten Leute, die sich bei ihm einfanden, meist nichts weiter als es auch schlussendlich Maffesolis theoretisches Schwärmen vom neotribalen Siegertypus tat. In seinen Ohren nichts als leere Phrasen.
Der Anywhere, der hier und da, wenn es ihm danach ist - etwa im Urlaub oder auf kreativer Exkursionsreise zum Erwerb altem Wissens und zur Erlangung neuer Ideen - einen auf Somewhere macht und der Somewhere, der gelegentlich finanziell vom Retro-feeling des Anywheres zerrt und zugegeben auch liebend gern ein Vollblut-Anywhere wäre - das war also das Arrangement für ein zukünftiges Miteinander. Ihr Plan für ein besseres Morgen.
Von der Kulturindustrie gesteuerte Konsumenten mussten seiner Ansicht nach erst zu wahrer Menschwerdung finden. Und um diese Leistung zu vollbringen musste man nicht zwingend ein Anywhere sein. Im Gegenteil. Als Somewhere hatte man sich vermehrt im Verzicht zu üben, während man als sogenannter Anywhere eben ein Lebtag lang in seiner Bevormundungslogik verharrte, überall und nirgendwo sich einzurichten wusste und somit mehr und mehr den Draht zur Herkunft einbüßte und dabei das Leben anderer gefährdete, daran herumzerrte und dabei das für einzig richtig empfundene Leben erwartete.
Und wenn wir schon dabei sind: Satt hatte Gandalf auch das Freihandelsabkommen, den kalten Krieg der digitalen Umstrukturierung, heuchlerische Empörung der Massen sowie der verantwortlichen Eliten, ohnmächtiges Gejammer besagter Opfer, Kleinmut und Niedertracht, falsche Empörung und Humanismus, all das etabliert blinde Gesinde eines verlogenen, an sich selbst sterbenden Gesterns, das obendrein auch noch vom Anywhere-Dasein schwärmte wie Maffesoli vom postmodernen Nomaden.
Und erst dieses Wischi Waschi aus Alt und Neu. Nein. Auch mit dieser Vermischungs- und Green-Washing-Kultur konnte er nicht mitgehen. Auch er habe zulange am Versuch des Einens schier unvereinbarer Gegensätze festgehalten und zu lange gehadert. Nun aber war er sich sicher: Altes hatte sich bewährt und würde diesen Vorzug vor so mancher Innovation auch weiter leisten. Altes hatte sich schließlich bewährt. Zu synkretistisch kamen sie daher, diese milden Versöhnungs- und Verbrüderungsversuche zwischen Gestern und Morgen, Alt und Neu. Ob in der Produktion von Gütern, der Architektur, der Philosophie. Das neue war für ihn einfach noch zu formal und zu unbewehrt. Und der Mitte zugewandte Sinnesverschmelzungen führten sowieso unweigerlich zu diversen Legierungen, was nicht immer förderlich sei. Entweder überlebt zuletzt der Hybride, die Mischkultur oder die Reinheit des allerhöchsten Fixstoffes. Aber das war nichts weiter als das ewig gestrige Prinzip überholter Rassenlehre und eben doch allzu nahe am Denkmodell postmoderner Eugenik angesiedelt. Hierin kam er nicht weit. Hierbei handelte es sich nur um eine unheilvolle Verschmelzung aus alten und neuen Ideologien. Diese verwirrende Logik der Verschmelzung von Altem und Neuem sprengte den Rahmen des Denkbaren wie die Unendlichkeit. Selbst noch die sichtbare Endlichkeit sprengte den Rahmen des Vorstellbaren. Wenn doch vereinfacht betrachtet alles eins war, dann war diese komplizierte These gleichzeitig nur schwer zu akzeptieren. Das musste er sich wieder einmal mehr eingestehen. Somewhere und Anywhere als ein im Kern einheitlich beschaffenes Seelenwesen zu denken überstieg schlichtweg seine derzeitigen mentalen Handlungsspielräume. Durchaus hätte er sich auch mit etwas primitiveren Aussichten auf ein etwas einfacher gestricktes Leben zufrieden gegeben. Unendlichkeit und Endlichkeit - beides unvorstellbare Artefakte menschlichem Unmuts und Strebens zugleich. Und obendrauf diese ewig wiederkehrenden und traurigen Konfrontationen mit den allzu menschlichen Erwartungen der neuen Mitglieder.
Gekommen war er um zu bleiben. Kein Unheil dieser Welt würde ihm sein Areal streitig machen. Kein Großindustrieller und kein Bürgermeister, weder identitätsnaher Jäger noch hyperaktiver Umweltschützer. Genau genommen erwartete er auch von den Mitgliedern diese Loyalität. Dass sie - würde es darauf ankommen - ihr Anliegen auch verteidigen würden. Sicher, in einer freigewählten Gemeinschaft konnte man derlei Forderungen nicht stellen und erst recht nicht von einem jeden Individuum unaufgefordert erwarten. Soweit die Crux. Auf Chorgeist und Binnenkultur setzten einst die Stammesfürsten. Er war jedenfalls angekommen. Und zu einer Enteignung von Land und Besitz würde es nicht kommen.
Damals - als er noch bei seinem bürgerlichen Namen genannt wurde - wollten ihn seine Studienkollegen als WG-Mitglied für sich gewinnen. Nichts zu machen: Mit Fertig-Pizza mampfenden Trotteln wollte er schon damals nicht die Küche teilen. Und erst recht nicht die Toilette. Derlei löbliche Eigensinnigkeiten hätten ihn schon damals nahezu in die Vereinsamung getrieben, hätte er nicht rechtzeitig seine fehlerhafte Gesinnung erkannt. Man musste den privaten Raum bis aufs Äußerste öffnen, ihn ins Öffentliche überführen, um sich schließlich von der Knechtschaft des Geistes zu befreien. Sein damaliger Sinneswandel jedoch war keineswegs mit Automatismus zu verwechseln. Ohne die Erkenntnis, Privateigentum auf ein Minimum reduzieren zu müssen, um schließlich das Bewusstsein in klärender Leere zu schärfen, wäre es niemals zu diesem Projekt gekommen. Ein Haus im Süden. Vielleicht eine rustikale Hütte in den Bergen. Ein Chalet. Reisen. Zerstreuung und gut. Aber dazu ist es nicht gekommen. Berufen war er.
Seine Eltern hatten sich an der konventionellen Landwirtschaft systematisch nieder geschuftet, was dazu führte, dass sich sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn bereits in jungen Jahren festigen durfte und seinen Sinn für nachhaltiges Wirtschaften erst schärfte. Unmittelbar nach einem abgeschlossenen Agrarwirtschaftsstudium hatte er den elterlichen Hof übernommen, um, getrieben von übermütigem Eifer, auf biologischen Anbau umzurüsten, was für die Familie alles andere als ein leichter Schritt gewesen war. Doch dieser durch ihn begangene Schritt sollte über alles Weitere entscheiden.
Doch dieses Standbein war nun weggebrochen. Wie doch so vieles weggebrochen und Neues in sein Leben getreten war. Die vom Markt abhängige biologische Landwirtschaft hatte er, als das mit dem Virus begonnen hatte, von heute auf Morgen auf Eis gelegt. Innerhalb eines Jahres hatte er dann das ehemalige Bauernhaus, durch einen Kraftakt gewagter und tatkräftig angegangener Neuorientierung, in ein provisorisch ausgebautes Basislager für Neuankommende verwandelt.