Kitabı oku: «Doomscroll», sayfa 4
Initiationsritus oder der Liebe letzter Rückhalt
„So so, jetzt haben sie also den Stoff, aus dem heute die Träume sind.“
„Welche Träume?“
„Natürlich die Träume der Massen! Sie sehnen sich nach dem Stoff der Freiheit, der Sicherheit und der Gesundheit. Der neue Impfstoff, auf den doch die meisten Hygieneextremisten da draußen bereits sehnlichst warten. Ihre Erlösung, ihr aller Traum. Oder willst du etwa behaupten, dein Traum - vorausgesetzt du verfügst über einen solchen - würde einer anderen Natur entspringen?“
„Das will ich nicht behaupten. Er äußert sich mal mehr oder weniger vehement!“
„Ach ja, ist das so? Und was tust du, um die Vehemenz des aufkommenden Willens zu stillen?“
Ich springe unten am Wasserfall kopfüber ins kalte Wasser oder klopfe spontan an den Pforten deines neugegründeten Stammes an!“
Gandalf schmunzelte, was nicht bedeuten musste, dass er sich auch amüsierte.
„Na dann such dir einen Schlafplatz aus. Es wird sich schon was finden!“
Hiermit war ich aufgenommen. Ein euphorisches Zugehörigkeitsgefühl jedoch blieb aus. Das Ganze war - wie sagt die Jugend so schön: etwas spuki. Nicht, dass ich eine Gefühlsäußerung wie Geborgenheit, Übereinkunft und Zugehörigkeit erwartet hätte - sie begrüßt hätte ich allemal. Nur das mit dem Einfinden in die Angehörigkeit und Übereinkunft mit einer gemeinsamen Sache war mir nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Kurz: Wie offen gegenüber verbrüdernden Gesprächen ich auch sein sollte, so war ich gleichsam auch auf Abstand gebürstet. Die Rudelwärme mit all ihren Vorzügen war nicht mein Anliegen, wie gesund diese auch zumindest etwa während der Durchschreitungen gewisser Spannungsfelder sein mochte.
Vorerst schlug ich mein Lager etwas hangaufwärts auf. Ein Hoch dominierte die Großwetterlage. Trockener Föhnwind aus dem Süden hatte sich zu der in Oberallgäuer Nordhanglagen nur sehr bedingt anzutreffenden lauen Abendluft hinzu gesellt. Die Gefahr, des Nachts vom Regen überrascht zu werden war demnach geringer einzustufen, als die, von einem der streunenden Hunde sowie durch eines der zuweilen euphorisch pulsierenden Mitglieder versehentlich geweckt zu werden.
Außer dem fernen Gitarrenspiel am Feuer sowie einzelnen Babygreinen war nichts Außergewöhnliches zu vernehmen. Nur der Ruf des Waldkauzes klang schriller als mir während des Einschlafens lieb war. Doch immerhin war ich hier zu Gast auf einer weitläufigen und abschüssigen Lichtung. Um mich her bildete dichter Wald die Regel. Ich war angekommen, angekommen in der Enklave meines verbleibenden Lebens.
Mein bestehendes Interesse an Gandalfs Gemeinschaft lag letztlich an meiner ausweglosen Lage. An der Schieflage der Demokratie, der Lage unserer Beziehung. Und nicht zu vergessen: an der inneren Verfasstheit, dem begangenen Verrat am einst eigens gesteckten Ideal.
Wir alle wussten doch nur zu genau, wie es um uns bestellt war. Gandalf und die Mitglieder wussten, wie es um die Grundrechte stand. Hierin gab es eindeutige Parallelen zu meiner Beziehung und der Gemeinschaft zu ziehen. Nur dass wir Beide uns nur wenig gemeinsame Zukunftschancen einräumten, während die Gemeinschaft derzeit noch an eine wie auch immer geartete Zukunft zu glauben vermochte. Das war dann auch der Anlass meines Aufbruchs. Der Versuch zu lernen, wieder an die Zukunft zu glauben. Wie lange war es her, dass er mit Menschen zusammen gewesen war, die noch wahrhaftig an das Gute oder zumindest an nur irgend etwas Gutes glaubten. Von Zeit zu Zeit braucht das der Mensch. Mitmenschen mit einem naivem Glanz in den Augen. Dem Abglanz ihres Glaubens. Daher mein Zurücktreten. Und so wie es in der letzten Zeit um den heilsamen Glanz im Auge unserer Beziehung stand - im Auge so vieler an der vorherrschenden Sprachlosigkeit verbrennender Beziehungen - war mir dieser Schritt nicht sonderlich schwer gefallen.
Dass sie sich und mit sich ihre Welt nie aus ihren Angel heben und sich ihrer Träume ermächtigen würde, hatte sie ihrem ureigenen Pessimismus zu verdanken. Diesem war es dann auch zu verdanken, dass ich mich einmal mehr in Bewegung gesetzt, mich in die Nähe der Wasserfälle navigiert und all meine Sinne auf eine unbedingt notwendige Veränderung geschärft hatte. Es sind diese Momente, die einen unweigerlich vorantreiben, weiter mit sich nehmen, ohne dass wir vom näheren Ziel sowie der genauen Richtung etwas wüssten. Bis uns alsbald erneut unerwartete Prüfungen zu schürfen beginnen. Und wie gerne hätte ich mich an ihr weiter wund gescheuert, im idealisierenden Erhöhungsprozess rundum erneuert. Erneuert an dieser Zweisamkeits-Prüfung. Wir wussten, dass wir uns verlieben, uns wahrhaftig lieben lernen würden, um uns ebenso auch wieder zu verlieren. Nicht an Gandalfs Gemeinschaft hatte sie mich, hatte ich sie, hatten wir uns verloren. An dem Glauben, etwas Neues und Nachhaltigeres beginnen zu müssen, hatten wir uns verloren. Und gleichsam am Unglaube, das Alte lästerlich gewordene Dasein für ein neues Morgen gänzlich abwürgen zu müssen. Dies war also das Spannungsfeld, das wir zu durchschreiten hatten, dabei ins Straucheln geraten waren, um uns darauf selbst als ein Teil des alten Lebens abzuwürgen. Und ob das Morgen ein Wir beinhalten und uns gar bereitstellen würde, es durch uns weiter erkämpft werden sollte im lodernden Licht neuer Lebensqualität – das war ebenso unsicher wie jeder weitere Schritt in Richtung meines jäh erfolgten Freiheitstriebes.
Blökende Nörgler waren sie. Alle miteinander. Ob nun für oder gegen etwas genörgelt wurde. Es gab genug Futter für berechtigtes Klagen. Solange Sorge und Furcht nicht in Hass umkippen würde, sofern man die Maske für einen Moment aus dem Gesicht entfernte, konnte durchgeatmet werden. Irgendwann jedoch musste sich die Ohnmacht entladen, ungebremst, vehement, despotisch und gnadenlos. Zu lange wurde genörgelt, das wahre Gesicht versteckt. Auch um dieser Entladung bewusst vorzubeugen, war er hier.
Weil sie sich so eindringlich auf den Weg gemacht hatte, sich und ihr Leben in ihm zu retten - dafür hatte er sie lieben gelernt. Ein klassisches Motiv. Hinzu gesellten sich gemeinsame Vorstellungen über ein künftiges Zusammenleben, die zunehmende und innige Verschmelzung von Humor, Kunstsinn, die lyrisch anmutende Liebe ihrer Herzen zur Naturerscheinung. Doch alles, was sich allzu gern verschlingt frisst sich schließlich auf und tilgt sich in sich selbst. Und um dies zu vermeiden, hatte er die kleine utopische Gemeinschaft Gandalfs dem vorprogrammierten Zerfall im abgeschirmten Zweierpack vorzuziehen versucht.
Zerfall, Vorziehen, Versuch. Er wusste, dass sein vages Experiment den Zerfall nicht aufzuhalten vermochte und nicht auch nur ansatzweise der Liebe zu ihr vorzuziehen wäre. Zerfall, Vorzug. Wie er sich eingestehen musste, waren das schon sperrige Worte für sein heiliges Empfinden. Seine Schwäche, sie verlangte wohl weiterhin nach waschechter Zweisamkeit.
Nach all den rührenden Versuchen gepeinigter Selbstrettung, die er in seinem Leben bereits unternommen hatte, blieb nur noch die Einsamkeit oder eben die Zweisamkeit. Man rettete sich vor sich selbst in der Liebe zu einem anderen Menschen. Soweit unser Liebesverständnis. Vielleicht war das tatsächlich das ganze entwaffnende Geheimnis der Liebe. Der profane Sinn und Zweck des griechischen Urton-Klumpen-Modells, der Verschmelzung der einstmals geeinten Geschlechter. Das auseinandergerissene Wesen Mensch dürstet weiterhin nach solider Eintracht. Nach solider Einstimmigkeit des Gewissens. Das Auf und Ab der Gezeiten hat es dem Zerfall durch die Entzweiung zu nahe gebracht.
Darin liegt wahrlich kein Vorzug. Der Vorzug liegt aber auch nicht im Rückzug aus der Öffentlichkeit ins abgeschottet private Liebesglück. Oder etwa doch? Ach was ist schon privat, was öffentlich. Bei Gandalf (wieso nur dieser alberne Name) gibt es da keine eindeutig gezogene Trennlinie. Was bisher reine linksalternative Esoteriktheorie war, wird bei ihm unlängst umgesetzt. Privateigentum ist nicht untersagt. Es ist schlichtweg unerwünscht, was geradezu unter Beweis stellt, wie sehr doch ein jedes Mitglied unter der materiellen Last des bisherigen Lebens gelitten haben mochte. Wie durch ein stilles Einvernehmen hatten sie sich - unterstützt durch Gandalfs Anleitung - dazu entschlossen, so einfach und mit so wenig Mitteln wie möglich, den Übergang in ihr primitivistisches Projekt zu gestalten. Und mit etwas gesunden Abstand betrachtet sah es ganz danach aus, dass die meisten Mitglieder den Vorzug des angewandten Primitivismus durchaus positiv überrascht begrüßten.
Emigranten des Geistes
Bei Harry war ich mir da nicht so sicher. Mochte auch ihn das Unbehagen in der Hochkultur zu einem zurückbesinnten Leben in der Natur verdonnert haben? Harry war in seinem früherem Leben Theaterschauspieler gewesen, zuletzt auf einer Bühne in Stuttgart, bis Corona sein Ensemble einschmolz wie 5G-Sendetürme die Hirne letzter verbliebener Kleinbauernbestände. Wir alle tragen zuweilen Hirne mit uns herum, die schrumpeligen Sultaninen gleichen. Nun war er jedenfalls mit am Set, doch weshalb es ihn hierher verschlagen hatte, wollte sich mir nicht erschließen. Vermutlich war sein Beitritt maßgeblich motiviert durch die bedrohte Existenz seiner Schauspieler-Karriere. Eine Art existentieller Koller, welcher in erster Linie ledige, geschiedene oder schlichtweg überdrüssige, sich auf der ewig zerrenden Suche nach vitalisierenden Energien umher geisternde Charaktere befällt. Zudem - und das konnte man energetisch ohne jede spirituelle Vorkenntnis deutlich spüren - galt er der neugegründeten Gemeinde als der auserwählte Sündenbock, worin er tatsächlich eine fabelhafte, geradezu wie für ihn maßgeschneiderte Rolle einnahm. Er hatte sich vom fleißigen Scrollen und Wischen seines Touchscreens, sowie vom beschäftigten Zurückstreichen seiner grau melierten Kunstdarstellerlocken nicht wirklich befreit, was vielen Stammesgenossen ein Dorn im Auge war, indem sie in Harrys glatt-designtem Gebaren ihr ideell ausstaffiertes Zukunftsidyll mit dem infamen Einfluss der abgeschüttelten Vergangenheit konfrontiert sahen. Somit erfüllte auch er seine Funktion mit bravour.
Das Gesamtkonzept schien allen schlüssig. Gandalf bildete den Wegweiser, das Glaubensangebot. Seine derzeitige Vertraute, Margot, ehemalige Kulturbeauftragte, nun linke Hand - über allem subtil schwebend wie der zürnende Geist einer zur Ohrfeige ausholenden Muttersmutter - Firstlady des neuen Morgens, worauf dann annähernd hundert Individuen jeglichem Alters folgten, mehrheitlich deutsche Paare sowie ledige Frauen und Männer, darunter drei syrische Emigranten, vier Österreicher und ein Schweizer Pärchen.
Segregation, Integration, Assimilation und Marginalisierung bilden die vier Säulen, bzw. Formen der Akkulturation, welche die Migrationsforschung als das methodische Hinführen oder die individuelle Anpassung an eine bestehende Kultur definiert.
Wir fördern das was uns behagt, den Rest blenden wir aus. Selbstmarginalisierung steht der Assimilation an veränderte Lebensgrundlagen gegenüber. Eine kulturelle Adoleszenz jagt die andere. Ziellose Verwerfungen, Verschiebungen und Umlagerungen sind die Folge. Und wieder folgt eine neue Phase der Individuation. Unermüdlich ermüdend. Eine x-te verflixte Neugeburt folgt der soeben erst geborenen Idee, große Affekte und Gefühle wie pubertäre Omnipotenzphantasien. Der Schmerz, rührend aus der Trennung von psychischen sowie sozial umhegten Räumen der Kindheit, durchtränkt unsere heimatlosen Herzen, flutet überreizte Hirne leergefegter Ideologien. Eine ewige Adoleszenz, Heimatverlust, Existenzangst, drohendes Scheitern.
Auch ich war und bin ein postmoderner Hanswurst. Kulturpessimist, innerer Nomade und somit ewiger Adoleszenzler. Der Apfel fällt nicht weit von des Häuptlings Stamm. Deformierungs - sowie deutliche Umlagerungsprozesse hatten sich an Körper, Geist und Seele zu schaffen gemacht, worauf selbst meine Freiheitsdefinition unterjocht war vom klaffendem Zeitgeist. Wenn erst die Realität einem zerbrochenen Spiegel gleicht, dessen Scherben verstreut auf dem Boden liegen und der sich dem Begehen sowie Stehen unweigerlich entzieht, gar widersetzt, sich aufwirft, Risse bildet, alsbald jäh klafft, um sich daraufhin nahezu unmerklich zu verschieben, so fällt die Orientierung an Halt gewährender Fixpunkte durchweg aus. Ohne Fixpunkte aber trudelt der Mensch ins Leere. Diese Leere hatte mich, hatte Harry, hatte all die Darsteller auf der Bühne der Realität zusammengeballt, die Gandalf uns stellte. Ödnis hatte uns in das Reich blütenblättriger Hoffnungen geführt. Emigranten des Geistes, Randexistenzen, die auf ihrer 'Flucht', der Verschiebung ins Abseits, am Rand des Abbruchs tanzend, allein durch ihren puren Lebensdrang der grassierenden Gleichschaltung entgegen zu wirken versuchten, indem sie das Abseits zum Zentrum ihrer derzeitigen Auffassung für nachhaltige Lebenskunst avancierten.
Überbevölkerung und Konsequenzen
Durch den Rückzug ins Private lässt sich das Unbehagen inmitten einer zerfallenden Kultur über einen gewissen Zeitraum hinweg überbrücken. Darauf findet sich das Individuum, je nach konditionalisierter Frustrationsgrenze, mehr oder weniger organisiert, an den Pforten neu orientierter Sozialisierung ein. Das Ideal sozial varitabler Strukturen ist ebenfalls wie die Liebe Motor und Antrieb artspezifischer Selbsterhaltungsprozesse. Wir überdauern das Dunkel, um uns im Lagerfeuerschein früher Sozialisation wiederzufinden. Das sind die vor der Desillusion verschont gebliebenen Randbezirke und Ruhezonen unseres Glaubens an uns selbst, ja gar an unsere dem Untergang geweihte Art. Und während Transhumanismus-Experten und allerlei gewiefte Technokraten unser Gehirn entschlüsseln und nebenbei das Universum erobern, finden sich Rückbesinnende oberhalb der Buchenegger Wasserfälle ein, um etwa über den nachhaltigen Umgang mit der Fruchtfolge in Wort und Tat zu transformieren.
Das im eigenen Garten angelegte Gemüsebeet erwies sich mehr als ein Alibi vor mir selbst, weniger als ergiebige Grundlage ein Stück Autarkie zurückzuerobern. Ein rührender Versuch, nichts weiter. Es spiegelte im Angesicht einer beschämenden Verlorenheit mein eigenes Wesen wieder. Das Beet stand bereit, trug, wenngleich imaginäre, so doch keine reifenden Erdfrüchte. Zeichens der Entfremdung von essenziellen Arbeitsprozessen durch lange zerrende Arbeitstage, erwies sich mir, als Einzelperson, der Gemüseanbau als ein hoffnungsloses Unterfangen. Dieser Fakt, Bestandsaufnahme des Moments, der mir meine dezimierte Begabung, nachhaltige Arbeitsprozesse effizient zu etablieren aufzeigte und unweigerlich unter die Nase rieb, dass ich doch ein Gartengestalter in Lohnarbeit war und kein autarker Ökobauer, hatte mich auf den entlastenden Gedanken gebracht, spätestens im kommenden Frühjahr einer Solidarischen Landwirtschaft beizutreten. Kurz darauf hatte ich von Gandalfs Projekt erfahren.
Zentrifugalkräfte, verursacht durch die Trägheit der Körper, vergiftete Wahrheiten allerorts. Medial vertrieben wie Minderheiten aus annektierten Regionen, entsandt in alle Welt, desperate Lebensgrundlagen, ihrer solidarischen Zugehörigkeit beraubt, vermarktet und verwurstet, Zerstreuung und Konsum, Blasenbildung und alltägliche Selbsteinschränkung – durch all diese Artefakte der Zersetzung, hatte auch ich mir den Zugang zu den ersehnten Feldfrüchten durch ein vorwiegend in der Theorie verhangenes Dasein verwehrt. Theoretisch sowie praktisch jedoch war mein Beet ein Schneckenparadies, von Wildkraut und Co besiedeltes Brachland. Eine Gründüngung für zukünftige Verwilderung. Ein Abstrich meiner Seele und Außenaufnahme, die Einblick ins Innerste gewährte. Alleine ließ sich nicht viel Handfestes ernten und einbringen. Ein paar Dutzend Radieschen, etwas Kopfsalat, Kartoffeln und Rüben, einige wenige Kohlsorten. Die Goldenen Gaben lagen im goldenen Wagen im Supermarkt, her gekarrt aus aller Herren Länder. Das Ideal des eigenen Gemüseanbaus wurde mit jedem Einkauf zermalmt im Eifer zertrümmerter Aufmerksamkeiten.
In diesem Haufen voll zertrümmerter Aufmerksamkeiten mussten auch all die Mitglieder erwacht sein, mussten sich inmitten dieses Trümmerfeldes neu entdeckt und von Teilbereichen reflektierender Scherben widergespiegelt haben. Wüste Fratzen mochten ihnen dabei ins schweißgebadete Antlitz gestarrt haben, da nach Liebe trachtende Herzen auf unfruchtbaren Böden bluteten, bis sie sich schließlich selbst reanimierten, auferstanden, die Umstände sie revitalisierten, sie sich sehnten nach der Rückeroberung ihrer kindlichen Unschuld, ihrer ewig währenden Unschuld.
In den ersten fruchtbaren Gesprächen mit diversen Mitgliedern hob sich eine Kernthese des gandalfschen Kosmos deutlich hervor: die These der Einkinder-Beziehung, der Sterilisation sowie der unbedingten Verhütung. So sehr sich mir die Theorie auch durch die klaren Worte einiger Mütter aufdrängte, so nachvollziehbar war dann auch deren Annahme, durch Regulierung, Geburtenkontrolle, bewusstes Entsagen und fein sensorische Achtsamkeit den Herausforderungen unserer Zeit entschieden entgegenzuwirken. Verspätete evolutionäre Frühwarnsysteme, nannte Gandalf die als ein Opfer an Erdenmutter Gaia zu erachtenden Regularien scherzhaft, ja gar Zeremonien der Achtsamkeit, wenngleich derlei Disziplin der Natur einer jeden intakten Spezies widerstreben mochte. Die meisten Mitglieder jedoch hatten diese strikte These als rational annehmbar akzeptiert, andere wiederum konnte Gandalf erst nach langen hitzigen Diskussionen zumindest Offenheit und Toleranz abgewinnen, welche er ebenfalls als eine Art Tribut erachtete, das zu zollen die Gemeinschaft den Anforderungen für ein besseres Morgen wappnen würde. Die meisten schienen die Theorie bereits in ihre alltägliche Lebenspraxis eingewoben zu haben, was ehrlich gesagt meinen libertär ausgerichteten Vorstellungen und Erwartungen deutlich widerstrebte. Anmerken ließ ich mir diesen desillusionierenden Seitenhieb nicht.
Gandalfs Söhne lebten wie der Großteil aller Scheidungskinder bei ihrer Mutter. Über die Kinder sprach er wenn überhaupt dann nur sporadisch, jedenfalls nicht direkt. Er hatte sich wohl - seinen kryptischen Anspielungen nach - mit seiner Familie bis aufs Äußerste zerworfen. Daher waren wohl auch keine näheren Berührungspunkte sowie verpflichtende Familienaktivitäten mehr vorgesehen, die ihn davon abgehalten hätten, sich mit voller Hingabe in das Projekt zu stürzen und den Anforderungen des Existenz sichernden Gemüsebaus zuzuwenden. Hinsichtlich seiner allabendlich an uns gerichteten Darbietungen, gab es hierin keinen Zweifel. Es war davon auszugehen, dass auch er seine beiden Söhne an die Datenkraken supersplatternder Informationskonzerne verloren hatte. Diese Pathologie hatte nahezu alle Familien erfasst, wenn nicht geradezu dahingerafft. Man konnte dem Geschehen nur mit entrückter Klarheit beiwohnen oder sich einer Sucht unterwerfen, einer Sucht des Vergessens. Zu variabel war das Diktat der Ohnmacht, zu weitläufig das Netz der hungrigen Spinne. Das wir unsere eigene Existenz mittlerweile mehr verwalten als sie zu Leben, vermag zu diesem entsetzlichen Zersetzungsprozess beitragen und zusätzlich Binnenangst schüren. Hatespeek, Gangsterrap, Virologen, der Digitalisierung untergebene Oberbürgermeister und Schulleiter, die Strategien der neuen Normalität, Smartcitys auf der einen, Landsturm mit feuchtem Smarthome-Dream auf der anderen Seite, all das war nicht auszuhalten und doch hatte die Agenda längst über die eingeschlagene Richtung entschieden. Den Rest würden die Algorithmen übernehmen. Man konnte nun tatenlos sportiv oder phlegmatisch passiv weiter vibrieren oder man schloss sich einer Sache an oder gründete wiederum Alternativen. Noch funktionierte der Rechtsstaat, ebenfalls in Form verwalteter Existenz zum Nachteil lebendiger Substanz.
Eine Gesellschaft wird pathologisch, sofern sie sich ihres naturgemäßen Habitats entfernt. Hier definiert bereits Rousseau den Zeitgeist der Postmoderne lange vor ihrer endgültigen Heraufkunft. Durch den aufkeimenden, aus der Aufklärung resultierenden Kulturpessimismus, welcher davon ausgeht, dass der kulturelle Zerfall wie eine obsessive Sehnsucht nach Umorientierung in die Welt hineinzuströmen vermag, somit zwangsläufig zur Konzeption überschaubarer sozialer Strukturen führen müsse, ist zwar anzuzweifeln, er aber arbeitete daran. Arbeiteten sie miteinander, unverbindlich und frei und aus der Krise heraus.
All die vom Kapitalismus sich zuletzt Abgewandten, die Enttäuschten, die in Seminarwelten ein mildes Lächeln sowie mannigfaltig ihre alternativ-therapeutischen Raffinessen kultivieren,
der sympathische Frührentner aus der Nachbarschaft,
der junge Gartenbaumeister hinter Dreitagebart mit Hang zum Alkoholismus,
der peppig schnittige Revoluzzer, Linguistikprofessor und ewige Student zugleich, Poetry Slamer und Buchautor,
all die in Gumpen juckenden Jungbauern,
die nach Berlin, Leipzig sowie Freiburg abgerückten Kulturschaffenden und Konsum-Süchtigen,
all die an Prekariat und Markt zerbrochenen, an Haushalt und Familie gebundenen Krieger,
all die an ihren Ehen gescheiterten, zerbrochenen Elendshäuflein, beflügelten Schwärmer und Losgelösten, geflügelte Worte Umschwärmende,
all die gefallenen Engel der Individualisierung, der Atomisierung, des kollektiven Sinnesschwunds,
all die Akteure des vergangenen Gesterns - organisieren mussten sie sich. Ein jeder unter ihnen musste lernen selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu agieren. Nur so konnte das Diktat des Marktes und der Macht zu Gunsten einer lebenswerten Zukunft gesprengt werden. Davon waren die Mitglieder um Gandalfs solidarisches Landwirtschaftsprojekt überzeugt. Selbst Harry schien hierin zuzustimmen. Ohne Überzeugung versagt die Rhetorik der eigenen Sprache. Doch keine Überzeugung ist wirklich wahr. Und das wusste Gandalf. Ja, es blieb ein Spiel mit dem Feuer der Unwissenheit. Aber auf was, wenn nicht auf das Experiment, sollte er sich schon berufen.
Das mit dem Primitivismus war so eine Sache. Dem derzeit vorherrschenden Meinungskanon der Humanisten und Demokraten galt er als Barbarei oder sie erkannten in seinen Auswüchsen nichts weiter als den repressiven Aufbau primitiver, kleinregionaler Machtstrukturen. Auch hatte man bereits einiges über die sogenannten Reichsbürger gehört, die scheinbar, von Außen betrachtet, einer ebenfalls auf Autarkie setzenden Philosophie folgend, einen beachtlichen Stamm gegründet hatten. Unser Areal lag höchstens dreißig Kilometer Luftlinie von dem der Reichsbürger entfernt. Sie hatten sich etwas weiter südlich, jenseits des Hochgrates, im Bregenzerwald angesiedelt. Dort sollten sie über weite Nutzflächen in günstiger Südausrichtung - obendrein mit uneingeschränktem Nutzungsrecht einiger Quellen - verfügen, während ein Großteil der gandalfschen Äcker und Weidegründe an steilen, nur mühselig zu bewässernden Nordosthängen eher mangelhaft ausgerichtet waren. Nun mag man sich fragen, was die Reichsbürger ausgerechnet nach Österreich verschlagen hatte. Nach den anhaltenden Unruhen, die sich über gesamt Europa und darüber hinaus über den gesamten Erdball erstreckt hatten, hatte sich in der österreichischen Landesregierung ein unerwartet heftiger Rechtsruck ergeben, der einem klassischen Putsch nicht unähnlich war. Jedenfalls hatte die neue Regierung unweigerlich eine radikale Bodenreform zugunsten aller österreichischer Familien - bevorzugt aus den unteren Schichten sowie der Mittelschicht - erlassen, wobei sogenannte Sinnesgenossen aus Deutschland, als Zuwanderer durchaus erwünscht waren. Die Gesinnung jener zugesiedelten Reichsbürger jedoch hatte mich bisher davon abgehalten, den österreichischen Kolonisten meine bescheidene Aufwartung darzubieten. Mit ihrer pathetischen Vorliebe für Odin-Kulte, der koträr zu ihrer entschlossenen Brutalität verlaufende Verkitschung der Anastasia-Lektüre sowie der als evolutionär und naturgemäß angelegte Zwang feste familiäre Stammesstrukturen zu bilden, konnten die ostdeutschen Zuwanderer bei mir nicht punkten. Mit der Familie war ich bereits durch und Odin sowie Wladimir Megre, Autor der Anastasia-Buchreihe, war nie mein Typ gewesen. Bei Gandalf genoss ich trotz Nordostausrichtung sowie biologisch dynamisch hochgehaltenen Verhütungs-strategien gewisse Vorzüge. Aber, was rede ich!? Wie lange war ich denn hier - vier Tage? Und was war nochmal mein Anliegen? Gemüsebau? Frauen? Wahre Umorientierung und Verzicht? Von einer klaren Antwort auf diese Frage war ich weit entfernt. Zudem quälte mich allmählich der Gedanke an mein Auto, oben am rückgebauten Wanderparkplatz. Hatten es die Behörden mittlerweile kostspielig abschleppen lassen? Vielleicht hatten sich auch bereits aufgebrachte Anrainer über die Scheibenwischer hergemacht und den Lack zerkratzt, gar die Scheiben eingeschlagen. Jedenfalls beunruhigte mich dieser verräterische Materialklotz, an dem ich doch noch bis vor wenigen Tagen hing wie ein schwer gebeutelter, künstlich am Leben gehaltener Coronapatient an Beatmungsschläuchen. Und an dem ich und in diesem ich vielleicht auch bald wieder hängen werde - leergefegte Innenstädte und Landstriche durchkreuzend - während der nächsten, bereits medial groß angekündigten Welle.
Den Reichsbürgern wurde eine deutlich aggressivere Abschottungsstrategie nachgesagt. Die Österreichischen Behörden hatten mittlerweile jegliche Verfahren gegen die ebenfalls aggressive Bebauung der Landesparzellen, die durch den regen Zustrom aus Deutschland stetig anwuchsen, eingestellt. Selbst die widerrechtliche und völlig unbehelligt rege Versiedelung sowie die Fremdnutzung landwirtschaftlicher Grünflächen schienen die österreichischen Behörden entschlossen übersehen zu wollen. Die Reichsbürger hatten bei den anfänglichen Versuchen seitens der Behörden, das Gelände zu räumen, nicht lange gefackelt. Mit diversen Kalibern sollen sie das Feuer auf die Beamten eröffnet haben, worauf diese sich deutlich zur Wehr gesetzt hatten. Wie durch ein Wunder soll dabei nicht eine einzige Person verletzt worden sein. Und das Gelände wurde bis heute nicht geräumt. Die Regierung hatte nicht wie erwartet mit der Räumung und sofortigen Festnahmen reagiert. Aus taktischen Gründen schien sie sich mit der Schießerei abgefunden zu haben. Nicht ein einziger Strafbefehl wurde erlassen. Darüber hinaus hatte sich die österreichische Regierung auch mit diversen anderweitig rechtlichen Grenzüberschreitungen arrangiert und weitere Gesetze, zum Schutz des auf Basis der Bodenreform gegründeten Nationaliberalismus erlassen.
Letztlich hat die Wiener Politik den Reichsbürgern somit den Rücken gestärkt. In den Medien - auffällig einhellig in den deutschen Printmedien - wurde das Spektakel um die Schießerei nahe Bezau als die wundersame Schlacht ums neue Reich auf dem Hubertusbichl ausgeschlachtet.
All das klang sehr unglaubwürdig und doch musste es sich so zugetragen haben. Die Reichsbürger bauten weiterhin fleißig ihre Festung aus, während die Behörden ihnen dazu den Weg bereiteten. Oder sie sahen angeordnet weg oder hatten Wichtigeres zu tun. Vielleicht gründete ja bereits in der Bodenseeregion ein Heer an dunkelhäutigen flüchtigen jungen Männern ein maoistisch-selbstverwaltetes Basislager zukünftiger Emigration. Das postmoderne Nomadentum war schließlich ein globales Thema.
Das alles mag nun wohlwahr wie ein grell überzeichnetes Asterixcomik daherkommen und doch hatten die Gallier die Römer in die Flucht geschlagen. Man hatte so seine Medien, seine Späher, seine Informanten. Allein auf die Medien konnte man sich ja nicht verlassen. Und doch war man hier, oberhalb der Wasserfälle, annähernd isoliert. Die deutschen Behörden ließen uns trotz des Gewaltsausbruchs der Reichsbürger im nahen Nachbarland friedlich unseren Verrichtungen nachgehen. Schließlich gab es zwischen den Reichsbürgern und uns keine direkte Verbindung. Auch hielt Gandalf das Maß baulicher Maßnahmen sehr gering, was seiner Philosophie der Einfachheit eine gewisse doppelte Glaubwürdigkeit verlieh und uns, als erwünschter Nebeneffekt, die Behörden vom Hals hielt. Bald aber würde auch er expandieren müssen. Durchaus war das gandalfsche Projekt den Behörden ein Dorn im Auge. Eine Entwicklung, der sie sich nur auf Rechtswegen, also durch die erwartete Ausweitung drakonischer Maßnahmen, zu entledigen wussten. Dazu bedurfte es noch weiterer Gesetzesbeschlüsse, um dem alternativen Treiben auf Gandalfs Lichtung ein baldiges Ende zu setzen. Das war nicht unwesentlich, die Politik - so vermuteten wir derzeit - war daran, weitere Schritte einzuleiten im Kampf gegen sich ihrem Gesundheitsdiktat entziehende Aussteiger, Kolonisten, Impfverweigerer und sonstige Lebensreformer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie uns mangels vorzuweisender Hygienekonzepte als dem Kollektiv, also dem Allgemeinwohl unzuträgliche und potentielle Gesundheitsgefährder - subversiv, konspirativ und verächtlich - einstufen würden. Dann erst würde der Räumungsbefehl drohen, konnten sie uns den Garaus machen. Und ob wir uns am jüngsten Tag dann im Ton vergreifen oder gar - - wie die Reichsbürger zur Wehr setzen würden, stand noch aus. Heimliche Sympathien zumindest an der kompromisslosen Zielstrebigkeit, die diese gewalttätigen Querulanten an den Tag legten, war in unseren Reihen zwar leise und - trotz vorgeschobenem Pazifismus - doch hier und da deutlich zu vernehmen. Würde Gandalf im Ernstfall kapitulieren oder die uralte Flinte, die er irgendwie von seinem Vater vermacht bekommen hatte, aus dem Schrank holen und im Affekt alles aufs Spiel setzen und sein im Wesen pazifistisches Ideal über den Haufen werfen? Würde er gar - sofern es darauf ankäme - mit den Reichsbürgern kooperieren, etwa einen Korridor bilden, der den regen Austausch zwischen den Stämmen gewährleisten würde? Quasi einen Oberallgäuer Ho-Chi-Minh-Pfad als Versorgungsroute interaktivem Austauschs in die Wege leiten? Und würde Harry schließlich sein Smartphone beiseite legen, sein Haar zurückzustreichen, um darauf mit gefletschten Zähnen, der Bedrohung seines Lebens - dem Gipfel der Destruktivität - in die garstige Fratze zu fauchen?