Kitabı oku: «Die falsch gestellten Weichen», sayfa 12

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Somit betritt der Brite den Kontinent mit buchstäblich ‚gemischten‘ Gefühlen. Er ist dann ‚ganz wo anders‘.14) Er fühlt sich dann nur zu oft moralisch überlegen aber intellektuell unterlegen. Er ist in Wirklichkeit weder das eine noch das andere, doch muß man einräumen, daß die oberen Mittelschichten bei uns eine viel bessere Allgemeinbildung genossen haben,15) und der Südeuropäer zwar nicht besser, aber schneller denkt, was tatsächlich rassisch-biologisch-nervlich bedingt ist. (Er ist auch der schnellere und gewandtere Autofahrer.)16) Doch fühlt sich der Engländer bei uns unsicher, weil er die Reaktionen des Kontinentaleuropäers nicht voraussehen kann, und diese Voraussicht allein schafft Vertrauen.17) Sprachlich ist er auch deswegen gefesselt, weil es ihm seine Hemmungen oft nicht erlauben, sich in einer Sprache auszudrücken, von der er weiß, daß er sie nicht gut beherrscht und er sich lächerlich machen könnte. (Abgesehen davon lernt er fremde Sprachen nicht gern, denn schon ein altes englisches Sprichwort sagt: He who speaks two languages is a rascal.) In diesem Überlegenheits-Unterlegenheitsdilemma liegt eine große politische, besser gesagt, außenpolitische Schwäche, die wir auch mutatis mutandis beim Amerikaner finden, der auf der nordamerikanischen, von drei Ozeanen und zwei großen Meeren umspülten, Großinsel lebt.

Doch in einem gewissen Moment „abdiziert“ auch der sich sehr anderen Völkern überlegen fühlende Brite, und er sagt sich dann streng und nüchtern, daß er von seinem Piedestal herabsteigen muß. Der Ausländer, the alien,18) kann in Wirklichkeit nicht wirklich minderwertig sein; er ist im Grunde ein genau so edler, kluger und anständiger Mensch wie der Brite und sollte als solcher behandelt werden, sollte auch für dieselben gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen „reif“ sein. Das ist natürlich so formuliert ein Unsinn. Der alien ist aus einer Reihe von Ursachen nun einmal wirklich ein anderer Mensch, und in der britischen Außenpolitik hat dieser Dualismus, dieses jähe Umkippen von einem Unsinn zum anderen, schwere Enttäuschungen und Niederlagen hervorgerufen. Doch aus zerstörten Illusionen lernen manchmal Einzelne, Völker aber nie.

Je niedriger die soziale Schichte, desto stärker sind – nicht nur in England – die Vorurteile. Lloyd George, ein „kleiner Mann“, Methodist-Baptist, Waliser ohne public school Erziehung, sah in den Ausländern queer devils,19) aber auch Stanley Baldwin, ein anderer Premier, war nicht viel besser: Nachdem er seinen Abschied genommen hatte, gestand er Douglas Woodruff in 10 Downing Street, wo er schon die Koffer gepackt hatte, daß er der glücklichste Mann auf dem Erdboden sei. Warum? „Weil ich nie mehr in meinem Leben etwas mit einem Ausländer zu tun haben werde!“20) Und dieser Mann hatte in einer der kritischesten Zeiten eine führende Stellung in einem Weltreich. Die Insularität – gar keine so „splendid isolation“! – Englands hat wahrlich keine Grenzen.

Das sind alles Dinge, die man sich vor Augen halten muß, um die britische Außenpolitik der Vergangenheit richtig zu verstehen. Dem Insularismus mit dem Wunsch sich abzusondern und zurückzuziehen steht allerdings auch ein Messianismus gegenüber, der zwar schwächer als der amerikanische oder russische, sicherlich auch weniger aggressiv als der deutsche ist („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“), aber immer stark genug war, um allen Ortes Unheil auszulösen, denn dank der universalen Anglomanie wurde dem britischen Druck nur geringer Widerstand entgegengesetzt. Dieser britische Messianismus hat sich vielleicht am konkretesten in der British-Israel-Society geäußert, die uns glauben machen will, daß die Briten der verlorene zwölfte Stamm Israels und deshalb zur Weltherrschaft berufen wären. Doch auch der Wunsch, die Hoffnung, daß man alle Völker der Welt in britisch-politischem Sinn sanft und artig umerziehen könnte, ist offen oder versteckt, bewußt oder unbewußt immer da gewesen. Dabei aber hat (trotz allem Cant) der Engländer einen echt moralistischen Zug, der auch in der Außenpolitik immer wieder (zumal auch fatal) zum Ausdruck kommt; dem Unterdrückten, dem underdog, sollte immer und überall geholfen werden. Keine Beschwerde auf dem weiten Erdenrund fiel deshalb in England auf taube Ohren, und es wäre verfehlt zu glauben, daß nicht auch Anklagen gegen die britische Herrschaft in England ihre Anwälte fanden. Es haben Briten gegen die Unterdrückung der Iren genau so wie gegen die Verwaltung in Indien protestiert. Freilich, manchmal fanden auch unwürdige Anliegen irregeleitete Verteidiger, was nicht zu vermeiden war; Engländer haben oft für gute, aber auch manchmal für schlechte Sachen als Freiwillige ihre Haut zu Markt getragen.21) Man muß anerkennen, daß während des Zweiten Weltkriegs in England Stimmen gegen den unbeschränkten Vernichtungskrieg aus der Luft sehr laut geworden waren.22) Neben dem Cant gab es immer auch große Ehrlichkeit und größten Bekennermut. So ist auf den britischen Inseln nicht wie in Skandinavien oder Norddeutschland die katholische Kirche sang- und klanglos untergegangen: Die Agonie der Kirche dauerte dort fast 180 Jahre und einzelne Gruppen „überwinterten“ trotz größter Unterdrückung, Einschränkung und Verfolgung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als die ersten Erleichterungen kamen.23)

Die unterschwelige Angst vor dem Kontinent, von dem immer eine Invasion drohen konnte – die letzte fand 1066 statt –, vor einer neuen Armada, beherrschte einen guten Teil der Außenpolitik bis auf unsere Tage. Daher auch das in der Außenpolitik so beliebte Konzept des balance of power, des Gleichgewichts der Mächte am Kontinent. Dieses Prinzip des Divide et Impera hat aber auch jedwede Einigung Europas auf friedlicher oder kriegerischer Basis vereitelt, schaffte aber wiederum innerhalb Englands einen Antieuropäismus, der heute zwar zurückgedrängt, aber lange noch nicht abgestorben ist. Man findet ihn sowohl auf der äußersten Rechten als auf der äußersten Linken mit den verschiedensten Vorzeichen, aber doch gemeinsamer Wurzel.

Die Schotten fühlen sich sehr anders als die Engländer; sie glauben zwar, nicht geographisch, aber kulturell am Kontinent zu sein. Die vorherrschende Konfession Schottlands ist nicht die episkopale Church in Scotland, sondern die Church of Scotland, die presbyterianisch ist und deshalb als echte Schwesterkirche der reformierten Glaubensgemeinschaften der Niederlanden, Frankreichs, der Schweiz und Ungarns betrachtet wird. Auch der Prozentsatz der Katholiken in Schottland ist höher als in England; nicht nur haben wir dort eine relativ größere irische Einwanderung, sondern auch rein katholische Dörfer (manche mit gälischer Sprache) auf den Hebriden und in den Highlands, kein einziges aber in England. Der Geist des Relativismus und des Kompromisses, den Engländern so teuer, ist in Schottland viel weniger vorhanden.24)

Alldies gilt noch viel mehr für Irland, das einst den halben Kontinent missioniert hatte; die irischen Mönche hatten nicht nur große Teile der deutschen Länder bekehrt,25) sondern hatten auch in Rom ihren Einfluß spirituell und theologisch geltend gemacht.26) Nach den Siegen Cromwells und Wilhelms III. (durch Schomberg in der Schlacht am Boyne-Fluß, 1690) sind zahlreiche irische Adelige in das katholische Europa geflohen, wo sie im Militär und in der Politik wichtige Rollen spielten. Man denke da nur an Generäle wie Butler, Browne, McNevin-O’Kelly, Nugent, MacDonald, MacMahon, Politiker wie O’Donnell und Taaffe oder Kirchenfürsten wie O’Rourke. Doch gerade wegen der konfessionellen Intoleranz der Engländer (und auch der Schotten) war die Integrierung Irlands in das „Vereinigte Königreich“ stets problematisch geblieben und führte schon vor der erschwindelten Vereinigung des irischen mit dem britischen Parlament (1801) zu Rebellionen und schließlich zu Aufständen großen Stils. Unbereinigt und eine offene Wunde am Vereinigten Königreich ist das Problem Nordirlands oder, um genauer zu sein, Nordostirlands, denn der nördlichste Punkt Irlands liegt am Rande der Republik.27)

Die größere Kontinentalnähe Irlands merkte man vor allem bei dem Referendum über den Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft. 83 Prozent sprachen sich hier dafür aus. (Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gingen in England-Schottland beim vorletzten Mal hingegen nur 37 Prozent zu den Urnen.)

16. DAS PULVERFASS: DER ALTE BALKAN

Wie entwickelte sich der Balkan in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg? Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war noch die ganze Balkanhalbinsel mit der Ausnahme Dalmatiens und der Ionischen Inseln in türkischen Händen, doch wurde die eigentliche Herrschaft in den „Schwarzen Bergen“ („Montenegro“, Crna Gora) von Bischöfen der Familie Petrović-Njegoš, den Wladykas, ausgeübt. Die Erbfolge ging von Onkeln auf Neffen über. Nach den napoleonischen Kriegen errangen die Serben der Šumadija, des Waldlandes südlich der Donau und Save, eine Autonomie. Geführt wurden sie vom „Schwarzen Georg“, dem Kara Ðorđe, der eine moralische und materielle Hilfe von den österreichischen, genauer gesagt, von den ungarischen Serben genoß. Wie wir schon sagten, lebten zahlreiche Serben in Kroatien-Slawonien und in Südungarn, wohin sie aus der Großtürkei geflohen waren. Deren kirchliches Zentrum war Karlowitz (Sremski Karlovci) im östlichen Slawonien, deren kultureller Mittelpunkt aber Wien. Vuk Stefanović Karadžić, der die serbische Zyrilliza durch weitere Buchstaben ergänzte und eine serbische Schriftsprache zu schaffen bestrebt war, hatte hauptsächlich in Wien gewirkt, wo er auch gestorben ist.

Im tiefen Süden der Balkanhalbinsel rührten sich alsbald die Griechen, die sich mit viel Sympathie aus allen Kreisen Europas, nicht aber der Stockkonservativen, die Freiheit erkämpften. Sie errangen sie aber nur für den Peloponnes, Attika, Böotien und die anliegenden Teile. (Auch die Unabhängigkeit Belgiens wurde von den Konservativen1) keineswegs begrüßt.) Man fürchtete „Veränderungen“ und wollte an dem Status Quo nicht rütteln. Freilich war dieses noch sehr kleine, freie Griechenland von der Verwirklichung der Megale Idea, der Wiedererrichtung des byzantinischen Reiches mit Konstantinopel als Hauptstadt, noch sehr weit entfernt. Eine verrückte Idee? Nicht ganz. Damals waren die Griechen immer noch die größte ethnische Gruppe in der „Kaiserstadt“, und auch die Ostküste der Ägäis war überwiegend von Griechen besiedelt. Smyrna war selbstverständlich eine überwiegend griechische Stadt.

Hier muß man sich auch vor Augen halten, daß sich das alte „kaiserliche“ Osmanenreich zwar durch große Brutalitäten auszeichnete, daß die Sultane immer wieder scheußlichen Palastintrigen zum Opfer fielen,2) sich immer wieder sadistische Revolutionen und Verschwörungen ereigneten, im Staat aber dennoch eine nationale und politische Toleranz eigener Prägung herrschte. So wurden die Massaker der Armenier erst wirklich bestialisch, als die Türkei sich demokratisierte und die Jungtürken mit ihrem Schlagwort „Einigkeit und Freiheit“ die Regierung übernahmen. Diese waren allerdings noch nicht so ‚fortschrittlich‘ wie die „Kemalisten“, die nach dem Ersten Weltkrieg die Monarchie abschafften und durch eine laizistische Republik ersetzten.

In der alten Monarchie konnten die christlichen Minderheiten trotz ganz bestimmter gesetzlicher Beschränkungen bei nur einiger Geschicklichkeit reich werden oder auch in der Verwaltung Karriere machen. So waren die Gouverneure der Donaufürstentümer (Walachei und Moldau), die „Hospodare“, fast immer Griechen aus dem Phanar, einem Stadtteil Konstantinopels. Die Finanzen, ja, das Kapital, lagen zum allergrößten Teil in den Händen von Griechen, sephardischen Juden, Levantinern,3) Armeniern und Europäern. Auch in der Diplomatie spielten die Nichttürken eine große Rolle. So war der letzte kaiserliche Botschafter in Washington, Blacque-Bey, schottischer Abstammung. Er trug einen Fez, war aber dem Glauben nach Katholik.4)

Lange konnten am Balkan die Christen, die dort die Mehrheit bildeten und den gelegentlichen Ausschreitungen der türkischen Soldateska, der Janitscharen und später der Baschi-Bosuks ausgeliefert waren, niedergehalten werden. Die Christen hatten keine tragenden Oberschichten, denn diese waren von den Türken entweder ausgerottet oder auch zum Islam bekehrt worden. Daher auch die häufigen slawischen, albanischen oder griechischen Namen der Paschas. In Bosnien war die kroatische Oberschichte, die dem Bogomilismus gehuldigt hatte, weitgehend islamisiert worden. Bosnien hatte gegen die Türken, durch eine überaus friedliche Ketzerei geschwächt, kaum nennenswerten Widerstand geleistet. „I pade Bosna bezuzdaha – und Bosnien fiel ohne einen Seufzer“, wie es in einem Lied hieß. Diese islamisierten Kroaten behandelten ihre christlichen Konationalen einschließlich der Serben als Rayah, als Herde, als Kmeten („Knechte“). Ähnliches geschah in Zentralalbanien, während in Bulgarien ganze Gebiete (ohne sich sprachlich zu verändern) islamisierten. Diese mohammedanischen Bulgaren wurden Pomaken genannt. Wir müssen uns also den Balkan vor 1878 als ein Gebiet vorstellen, in dem es eine ganze Reihe von teilweise türkisierten und islamisierten Enklaven gab. Der Islamisierung widerstanden also Unterschichten, die nördlich des Griechentums fast rein bäuerlichen Charakters waren; sie wurden natürlich moralisch, aber auch „national“ vom Klerus unterstützt. Das lockere Benehmen der Balkanvölker in der Kirche kommt von dem Umstand her, daß man sich nur in der Kirche vor den Türken sicher wußte: Da war man ganz „unter sich“.

Doch die ganz große Verzahnung der nichttürkischen Balkanvölker bildete schon recht früh ein Hindernis zu ihrer Befreiung. Zwar war der gemeinsame Haß gegen den asiatischen Zwingherrn da, aber auch zugleich sich überschneidende nationale Aspirationen, was sich besonders im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bemerkbar machte. Rußland (und nicht mehr Österreich) erschien aus kulturellen und konfessionellen Gründen der Protektor der Balkanchristen. Die österreichische Präsenz machte sich nur noch bei den Serben fühlbar. Bemerkenswerterweise war die erste Dynastie der serbischen Fürsten die Familie Karađorđević, Abkommen des Schwarzen Georg. Sie war im Geruch, eher pro-österreichisch als russophil zu sein. Das kostete ihr auch den Thron. Nun kam die Familie Obrenovic mit russischem Etikett auf den Thron, doch wurde sie mit der Zeit austrophil. Die furchtbaren türkischen Massaker unter den Bulgaren in den Siebzigerjahren führten die russische Intervention herbei, die mit der Niederlage der Türken endete; es war aber dies, da die Türken gute Soldaten sind, ein bitterer Krieg und kein leichtes Abenteuer. Die Russen diktierten dann den Frieden von San Stefano (einem Vorort von Konstantinopel), der praktisch das Ende der türkischen Herrschaft am Balkan bedeutete. Ein Großbulgarien, in dem alle Bulgaren vereint waren, sollte entstehen.

Das aber brachte die Großmächte auf den Plan. Bismarck trat im Kongreß von Berlin (1878) als „ehrlicher Makler“ auf, und Rußland, das in Europa lediglich Südbessarabien zurückgewann, durfte zwei türkisch-armenische Kreise, Kars und Ardahan, annektieren. Doch da man in Berlin den Traum eines ethnisch-historischen Bulgariens zerbrach – und zwar nur deswegen, weil man in dem wiedererstandenen Bulgarien eine russische Satrapie vermutete –, steuerte man die neueste Geschichte des Balkans in eine falsche Richtung. Die Serben wurden ausdrücklich ermuntert sich in der Richtung von Saloniki auszudehnen und damit das vorwiegend bulgarische Makedonien einzuheimsen. Serbien erhielt 1878 nicht nur Nisch mit einer gemischten serbisch-bulgarischen Bevölkerung, sondern auch Pirot, das rein bulgarisch war: schon dadurch wurde Serbien auf eine südliche Bahn gelenkt. Doch auch die Donaumonarchie tendierte ein wenig demselben Ziel zu: sie wurde ermächtigt, Bosnien und die Hercegovina mit dem „Sandshak“ Novipazar (zwischen dem erweiterten Serbien und Montenegro) militärisch und auch zivil zu verwalten. Doch die Besetzung dieser drei Gebiete der Türkei mit ihrer großen islamischen Minderheit erwies sich als kein militärischer Spaziergang: Die Moslems wehrten sich bitter, und die christliche Bevölkerung wagte es kaum, den Österreichern zu Hilfe zu kommen. In seinen Memoiren erzählt ein k.u.k. Offizier, wie er an der Spitze der vorrückenden Truppen einen alten Moslem Beg, der zurückgeblieben war, fragte, ob die Bosniaken sich denn nicht vor der österreichischen Armee fürchten. Nein, keineswegs. „Vor wem fürchtet ihr euch denn?“ „Nur von den Montenegrinern.“5)

Der Türkei verblieb auf europäischem Boden ein immerhin 169 000 Quadratkilometer großes Territorium, das unmittelbar der Hohen Pforte unterstand. In Bosnien und der Hercegovina wie auch im Fürstentum Bulgarien zwischen dem Balkan und der Donau war die Souveränität des Sultans nur mehr auf dem Papier. Auch die Landschaft südlich des Balkan-Gebirges mit dem fragwürdigen Etikett „Ost-Rumelien“, erst 1908 vom Königreich Bulgarien formell annektiert, war nominell unter türkischer Oberhoheit. Thessalien wurde erst in den Achtzigerjahren von der Türkei an Griechenland abgetreten. Doch gerade dieses weiterhin noch türkische Gebiet mit einer türkischen Minderheit sollte später zum Zankapfel der wiedererstandenen christlichen Staaten werden, vor allem aber das makedonische Kernstück. Dort fand 1903 ein (hauptsächlich von Bulgaren getragener) Aufstand statt, der aber von den Türken niedergeschlagen werden konnte. Die I. M. R. O., die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“, wollte hier eine „Schweiz des Balkans“ aus Bulgaren, Griechen, Kutzo-Wlachen, Albanern und Türken errichten, aber die Türkei behielt vorläufig noch die Oberhand. Nur eine Allianz der christlichen Balkan-Nationen konnte die Türkei auf ein Mindestmaß in Europa reduzieren…

Aus einer Reihe von Gründen spielte der Balkan als Bedrohung des europäischen Friedens eine so folgenschwere Rolle. Da war erstens einmal die Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Rußland – und hinter der Habsburgermonarchie stand das Deutsche Reich. Der Bau einer Bahn nach Konstantinopel (über den sich der berühmte „Orient-Express“ bewegte) und dann von der anderen Seite des Bosporus in das damals noch türkische Mesopotamien, die sogenannte „Bagdadbahn“, erregte vor allem englische Gemüter. Der deutsche Einfluß in der Nähe Südpersiens und damit auch Indiens machte London nervös. Ein weiterer Faktor der Unruhe war das Problem der Meerengen, die von der Türkei kontrolliert wurden. Doch Rußland, stets bestrebt aus seiner Verschachtelung im Schwarzen Meer auszubrechen, trachtete, eisfreie Häfen in gesicherten Lagen zu bekommen,6) wiewohl England über eine russische Präsenz im Mittelmeer keineswegs entzückt gewesen wäre. Ein dritter Faktor war interner Natur: die große Leidenschaftlichkeit, Wildheit und auch Grausamkeit dieser aus jahrhundertelanger Sklaverei erwachten Völker, verbunden mit ganz spezifischen Gebietsansprüchen. So hätten zum Beispiel die Großmächte in unserem Zeitalter nie die skandinavischen Staaten gegeneinander ausspielen können. Anders aber war dies am Balkan, wo es keine klaren historischen, ethnischen oder religiösen Grenzen gibt. Ja, man kann sogar sagen, daß es keine einzige eindeutige Grenze am Balkan gibt, mit der einzigen Ausnahme der historisch--ethnischen bulgarisch-rumänischen Grenze an der unteren Donau, wobei allerdings die letzte Strecke in der Dobrudscha wieder strittig ist. Das äußerst harte Leben unter der türkischen Herrschaft, die Kargheit der Böden, das mancherorts grausame kontinentale Klima, das Fehlen der humanistischen Tradition, vielleicht auch die physisch-nervliche Erregbarkeit der Balkanrassen haben hier ein wahres Pulverfaß geschaffen.

Oft stellten die Großmächte in ihrem Spiel um die Vorherrschaft am Balkan auch falsche Spekulationen an. So wurde im sehr verkleinerten Fürstentum Bulgarien unter dem von Rußland geförderten Fürsten Alexander von Battenberg7) der russische Einfluß keineswegs vorherrschend. Dieser Fürst beschloß ganz einfach (so wie einst Louis Bonaparte in den Niederlanden), das Land ganz im Interesse seiner Einwohner zu regieren, was ihm den Unwillen Kaiser Alexanders III. zuzog, der alle Hebel in Bewegung setzte, um ihn zu stürzen. Um nach der äußerlichen Vereinigung des Fürstentums mit Ost-Rumelien die Unabhängigkeit seines Staates nicht zu gefährden, dankte Fürst Alexander ab. Sein Nachfolger, der Fürst und spätere „Zar der Bulgaren“, Ferdinand I. aus dem Hause Sachsen-Coburg-Koháry, war den Russen anfänglich auch nicht genehm, doch als Mitglied des Hauses Sachsen–Coburg genoß er die Sympathien der westlichen Mächte,8) und Nikolaus II., der Alexander III. nachgefolgt war, gab seinen Widerstand gegen ihn auf.

Nach der Schwächung der Türkei durch den italienisch-türkischen Krieg von 1911–1912 entschlossen sich die christlichen Balkanstaaten zu einem konzentrischen Angriff gegen die Türkei. Dabei fiel Bulgarien die Hauptrolle zu, und das bulgarische Heer erlitt auch die größten Verluste. Schließlich waren es größtenteils bulgarische Einheiten, die an der Çadalca–Linie vor Konstantinopel lagen. Die Serben waren entlang der Morawa und des Wardar–Tales vorgestoßen, die Montenegriner hatten sich auf Nordalbanien geworfen, die Griechen rückten auf Saloniki vor. Nach einem Waffenstillstand, der aber abgebrochen wurde, da die Türken konzessionsunwillig waren, ging der Kampf weiter. Schließlich mußte die Türkei Ostthrakien bis zur Linie Enos–Midia den Verbündeten überlassen. Dadurch blieben die Meerengen und das Marmara-Meer weiter bei der Türkei.

Als aber dann die Serben und Griechen das vorwiegend bulgarische Makedonien unter sich teilen wollten, kam es zu einem Krieg aller Verbündeten, zu denen noch die Rumänen und die Türken stießen, gegen Bulgarien. (Auch das ferne Montenegro griff in diesen ungleichen Kampf ein.) Gegen eine Allianz von fünf Staaten konnte Bulgarien nicht aufkommen. Zwar bekam es schließlich einen Zugang zur Ägäis, aber von Makedonien nur einen Zipfel, und zudem verlor es die südliche Dobrudsha an Rumänien, das am Balkan auch nicht leer ausgehen wollte. Diese große Tragödie trieb Bulgarien ganz automatisch in zwei Weltkriegen auf die Seite Deutschlands: Es war jetzt auf allen Seiten von Feinden umgeben.9)

Serbien kontrollierte nun Gebiete, die kaum serbisch waren: Die Makedonier Bulgariens wurden zu „Südserben“ erklärt, alle ihre Familiennamen wurden mit der Endung „ić“ versehen, bulgarische Bücher und Zeitungen wurden verboten. Der Umstand, daß Dušan der Große einmal über Makedonien und Nordgriechenland geherrscht hatte, wurde als historisches Alibi bei dieser Annexion verwendet. Die Unterdrückung der Makedonier war aber noch milde im Vergleich zur Verfolgung der größtenteils islamischen (und nur zu kleinem Teil katholischen) Albaner im Kosovo–Gebiet. Dort wurden sie zu Tausenden abgeschlachtet. (Letzte Massaker unter ihnen fanden unter Titos Régime in den Fünfzigerjahren statt.) Serbiens Drang nach dem Meer über albanisches Gebiet stieß jedoch auf den Protest der Großmächte. Ein Staat Albanien mit islamischer Mehrheit, katholischen und ostkirchlichen Minderheiten, sollte geschaffen und die Montenegriner aus dem eroberten Skutari (Shkodra) zum Abzug gezwungen werden. Hier wirkte sich die konkrete Zusammenarbeit des Dreierbundes zum ersten- und zum letztenmal aus.

Mit der Eroberung des überwiegend albanischen Kosovo-Gebietes war auch das Schlachtfeld in die Hände der Serben gefallen, auf dem die Unabhängigkeit des alten Serbiens in einer bitteren Niederlage ihr Ende gefunden hatte. Sultan Murad besiegte damals den König Lazar Hrebeljanović, wurde aber darauf in seinem Zelt von einem Serben (Obilić oder Kobilić) erdolcht. Dieser Tag, der Veitstag (Vidovdan), der 28. Juni 1389, spielt in der serbischen epischen Dichtung und in Liedern eine große Rolle. Im Osten Europas sind es oft nicht die Siege, nicht die Triumphe, die das Herz bewegen oder auch geistige Zäsuren hinterlassen, sondern Niederlagen und Katastrophen. Die polnischen und ungarischen Nationalhymnen drücken dies sehr deutlich aus.10) Das tragische Lebensgefühl des Ostens reagiert eben anders als das unsere. Und darum war auch die Eroberung des Amselfeldes durch die Serben die Erringung einer nationalen Gedenkstätte, die nun nationalistisch umgestaltet werden sollte.11)

Das alles aber gab dem serbischen Nationalgefühl einen gewaltigen Auftrieb – fünf Jahre nach der bosnischen Annexionskrise.12) Doch hatte jetzt das Königreich in seiner Bevölkerung mindestens ein Drittel Nichtserben. Nun richteten sich die Blicke der Nationalisten auch nordwärts und westwärts, so zum Beispiel nach Südungarn, das in Wellen von flüchtigen Serben zuerst mit ungarischer, dann aber auch mit österreichischer Hilfe besiedelt worden war. (Durch die Verwüstungen der Türken war ein Großteil der Magyaren in der Bácska und im Banat ermordet, verschleppt oder vertrieben worden.) Zu einer weiteren Expansion Serbiens ermunterten aber auch die „Pan“-Ideen: nicht so sehr der Panslawismus, sondern der „Jugoslawismus“, dem sich allerdings die „artfremden“ Bulgaren nie anschlossen.13) Es wurde die These vertreten, daß Serben, Kroaten und Slowenen eigentlich eine Nation bildeten, wobei allerdings die Serben die zahlreichsten waren. Zwar kamen die Serben und Kroaten aus benachbarten Gebieten im Norden des Slawentums,14) aber sie machten geschichtlich verschiedene Entwicklungen durch, was auch ihren Charakter sehr anders prägte. Die Mehrzahl der Kroaten hatten nie als Kmeten unter dem türkischen Joch gelebt. In Agram hatte man nie eine Moschee gebaut (wie zum Beispiel in Belgrad, Erlau oder Fünfkirchen). Die Kroaten waren katholisch, die Serben gehörten der Ostkirche an. Die Kroaten sind ein mitteleuropäisches Volk von Seefahrern, die Serben orthodoxe Inlandbewohner der Balkanhalbinsel. (Die Montenegriner sind Serben mit eigener Geschichte.) Auch scheint selbst ein gewisser Rassenunterschied zu bestehen: Manche Männer und Frauen sind zweifellos visuell Serben oder Kroaten. Die Slowenen sind kulturell Österreicher. Vergessen wir nicht, daß das Slawentum slowenischer Prägung einmal bis ins Salzkammergut15) und nach Osttirol hereinreichte. Bayrische (manchmal aber auch fränkische oder alemannische) Siedler hatten Rumpfösterreich germanisiert. (Graz hieß – im Unterschied zu Windischgraz – „Bairisch-Graetz“!) Die Slowenen, die sich ähnlich kleiden wie die Alpenbewohner und auch eine sehr ähnliche Musik haben, sind die einzigen nichtgermanisierten Österreicher. Zwischen einem Slowenen aus der Südsteiermark, aus Südkärnten oder der Oberkrain und einem Montenegriner aus Andrijevica oder einem Moslem aus Sarajevo besteht ein himmelweiter Unterschied, genau so zwischen einem Isländer und einem Südtiroler oder einem Elsässer und einem Ostpreußen.

Doch nicht nur der territoriale Appetit der Serben wurde durch die Annexion von Fremdvölkern vermehrt, sondern auch jener der Rumänen. Die südliche Dobrudsha war von Bulgaren und Tataren bewohnt. Der Überfall Rumäniens auf Bulgarien war ein besonders häßlicher Akt, der sich allerdings im Jahre 1916 mit dem Überfall auf Siebenbürgen wiederholen sollte. Das östliche Ungarn hatte auch weder zur Moldau noch zur Walachei gehört. Auch hier konnten nur rein ethnische Ansprüche erhoben werden, wobei noch zu bemerken ist, daß ein Land, das „Rumänien“ heißt, seinen Namen nur einer Sprachschöpfung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts verdankt.16) Doch dieser Dolchstoß Rumäniens sollte sich in unserem Jahrhundert noch etliche Male wiederholen.

Rumänien gehört geschichtlich, aber nicht (wenn man von der Dobrudsha absieht) geographisch zum Balkan. Und sagen wir es hier gleich auch deutlich: Man darf keineswegs hochnäsig auf den Balkan herabblicken, der schließlich die Wiege unserer Kultur und Zivilisation ist. Zwar gibt es dort viel Korruption, Grausamkeit, schlechte Organisation, Unehrlichkeit und Tücke, doch daneben auch viel Tapferkeit, Opfermut, männliche Entschiedenheit, Intelligenz, Ritterlichkeit und künstlerische Begabung. Ein Montenegriner wie Milovan Ðilas, der immer wieder gegen die Belgrader Machthaber protestierte, immer wieder die schweren Gefängnisstrafen auf sich nahm, seine früheren Irrtümer offen bekannte und nie klein beigab, wäre bei uns in Westeuropa nur äußerst selten zu finden.