Kitabı oku: «Die falsch gestellten Weichen», sayfa 11

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Die Märchen, denen man auch bei unseren „Gebildeten“ über das alte Rußland begegnet, werden nie aussterben. Selbst russische Liberale, wie zum Beispiel Wladimir Nabokow, waren stets entsetzt, welch blühender Unsinn bei uns auch in Universitäten verzapft wurde. Über den Triumph des Bolschewismus gab es eigentlich nur zwei Theorien: er wäre a) die natürliche Reaktion auf den „Zarismus“ und b) er wäre nichts anderes als der „Zarismus“ rot angestrichen. So einfach macht man sich das – auch heute noch!

14. FRANKREICH: ZWEITES KAISERTUM UND DRITTE REPUBLIK

Was geschah in Frankreich nach dem Sturz Louis-Philippes? Die Jahre 1848 bis 1852 waren eine Folge von Revolutionen und Umbrüchen. Die Erklärung, daß die erste, republikanische Revolution nur deswegen erfolgte, weil sich das Volk unter der Regierung des „Bürgerkönigs“ und seines Ministerpräsidenten, des braven reformierten Guizot „langweilte“, ist natürlich eine Übertreibung, doch nicht ohne ein Körnchen Wahrheit. Man vergesse in der Geschichte nie den Zauber eines „erfüllten Lebens“, auch wenn dieses Opfer und Leiden einschließt. Gerade als Folge des „diversitären“ Dranges des Menschen, der auch zutiefst ein „unzufriedenes Lebewesen“ ist, kommt der Drang nach dem Neuen, nach dem „Erleben“.

Der bürgerlichen Revolution von 1848 folgte wenige Monate später eine proletarische und eine weitere noch im Jahr darauf. Nun zeigte sich zum erstenmal das Proletariat auf der Straße als politischer Faktor. Der rote Sozialismus war da, und ein verschrecktes Bürgertum war nun bereit, den Prinzen Louis Napoléon, den Neffen des großen Napoleon und Sohn Ludwigs, des zeitweiligen Königs von Holland, zum „Prinzen-Präsidenten“ der Republik zu wählen. 1851 machte sich dieser zum Präsidenten auf Lebenszeit, 1852 zum „Kaiser der Franzosen“, ein Prozeß, der nicht ohne oppositionelle Regungen abging. Zweifellos aber standen weite Kreise der Bevölkerung dieser Erneuerung des bonapartistischen Cäsariats positiv gegenüber. Dieser Monarch, keineswegs ein unbegabter Mann, wollte sich in der Geschichte durch eine glänzende Regierung verewigen. Die gemäßigte Linke bewunderte ihn, die extreme Linke wandte sich gegen ihn. (Sein wichtigster literarischer Gegner war der Graf Victor-Marie Hugo.) Napoleon III. führte nicht nur einen erfolgreichen Krieg gegen Rußland und Österreich, sondern vergrößerte auch das französische Kolonialreich, heimste Nizza und Savoyen ein und modernisierte die Stadt Paris mit großem Aufwand. Seine städtebaulichen Neuerungen (durch den Baron Haussmann im Detail durchgeführt) prägen Paris bis auf den heutigen Tag. 1869 stellte er den Parlamentarismus weitgehend wieder her, doch auf der Suche nach einem neuen, spektakulären Abenteuer stieß er mit Preußen zusammen… und mit Preußen auch mit dem übrigen Deutschland.1) Schon am Anfang des Krieges fand die Katastrophe von Sedan statt; Napoleon wurde gefangengenommen und in das prachtvolle Schloß Wilhelmshöhe gebracht, das erst vier Jahre vorher dem hessischen Kurfürsten von Preußen geraubt worden war. Immerhin ging es in dieser undemokratischen Zeit noch ganz zivilisiert zu.

„Sedantag“ wurde hierauf der große Feiertag des Zweiten Deutschen Reichs, Frankreich erlebte aber zwei Tage später seine Dritte Republik, die zwar sehr bürgerlich, zugleich aber auch als Provisorium begann. Jahre hindurch war es fraglich, ob es zur Restauration kommen würde, doch die Monarchisten – die Legitimisten, die für den Grafen von Chambord, einen Enkel Karls X., eintraten, die Orléanisten, die für einen Sohn Louis-Philippes plädierten, und die Bonapartisten – waren sich keineswegs einig. Der Graf von Chambord, der in Österreich weilte und keinen Nachkommen hatte, weigerte sich jedoch als König von Frankreich die Trikolore – die blauweißrote Fahne der Revolution – anzuerkennen. Diese Fahne, unter der Napoleon fast ganz Europa erobert hatte und die den Franzosen teuer geworden war, kam für ihn unter keinen Umständen in Frage. Auch wollte er sich nicht auf die Verfassung festlegen. Dabei war „Heinrich V.“ keineswegs ein bornierter oder ein ungebildeter Mann; er hatte sogar in sozialen und wirtschaftlichen Dingen höchst moderne Auffassungen, die denen Leos XIII. ähnelten,2) doch war er eben, was man heute kaum noch versteht, ein Mann von eisernen Prinzipien. Könnte man sich vorstellen, daß ein Österreicher heute ein wohlbestalltes staatliches Amt ausschlägt, weil ihm das Staatswappen mit Hammer und Sichel so gar nicht zu Gesicht steht? Oder daß ein Schwede eine schöne Beamtenlaufbahn aufgibt, weil er nicht einem Staat dienen will, dessen sozialistische Regierung zuerst mit den Nazis flirtet, dann baltische Flüchtlinge den Sowjets ausliefert und schließlich den Massenmord an den Ungeborenen finanziert? Nein, das wäre kaum denkbar!

Frankreich wurde erst im Februar 1875 definitiv eine Republik. Diese Staatsform ist, mit der Unterbrechung des Pétain-Régimes und zwei weiteren Wandlungen, geblieben, denn die ideologisch-politische Entwicklung, durch die Französische Revolution begonnen, ist noch weit davon entfernt, ihren circle de folie, ihren Kreislauf des Wahnsinns, zu beenden. Die große Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg von 1870–71 war durch einen Monarchen verursacht, aber von der Republik völlig sinnlos und katastrophal weitergeführt worden. Im Rückblick stand jedoch die Republik schließlich gefestigt da – und so sollte es bis 1940 bleiben, als sie vom État Français abgelöst wurde. Das „andere Frankreich“ war nun in jeder Beziehung geteilt; die Kirche, die zum großen Teil Napoleon III. unterstützt hatte, war etwas diskreditiert – um so mehr, als der „protestantische“ Nachbar gesiegt hatte. Wenn jetzt Frankreich „Figur machen“ wollte, dann sicher nicht mehr als „die älteste Tochter der Kirche“ (ein immer schon fragwürdiger Ehrentitel), sondern als die Erbin der Aufklärung, der Erhebung von 1789 und der napoleonischen Verwaltungsreformen.

Doch inzwischen hatte sich noch etwas anderes ereignet: die Commune von Paris, ein idealistischer, dabei aber völlig kopfloser Aufstand der Niederschichten dieser Weltstadt. Der Traum der Kommunarden war ein lokal verankerter Sozialismus, genährt von den Ideen der Französischen Revolution wie auch von den Sozialisten, beginnend mit Gracchus Babeuf bis zu Karl Marx. Dieser sympathisierte mit der Commune, die sich einen ähnlichen Aufstand in allen größeren Städten Frankreichs erhoffte – nur kam es nicht so. Die deutsche Besatzung betrachtete diese Entwicklung als innere französische Angelegenheit, und der neue französische Staat sah sich gezwungen, diese Sezession seiner Hauptstadt zu beenden. Die Commune riß das Land nicht mit sich, und die Regierung in Versailles liquidierte die Revolution in Paris. Die um ihren Verstand gebrachte Bevölkerung der Großstadt verteidigte sich mannhaft und verbissen, begann, wie die meisten linksgerichteten politischen Gebilde, wahllos Geiseln zu erschießen (darunter den Erzbischof Darboy von Paris) und setzte den Kampf auch fort, als der Hunger die entsetzlichsten Opfer forderte und man begonnen hatte, die Tiere im zoologischen Garten aufzuessen. In den Kämpfen kamen zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Menschen um; endlose Strafprozesse, Hinrichtungen und Deportierungen folgten. (Unter den Communards gab es übrigens einen Arzt, der nach Amerika floh, dort heiratete3) und später eine unheilvolle Rolle spielte – Georges Clemenceau.) Diese Kommune, deren Fall von Marx aufrichtig beweint wurde, verursachte ein tiefes Trauma in den französischen Unterschichten, das bis heute nicht geheilt ist. Die russischen Kommunisten betrachteten die Commune als die erste sozialistisch-proletarische Revolution,4) die sie aber nur zum Teil war, denn unter den Kommunarden gab es sowohl Sozialisten und Anarchisten als auch typische „Spätlinge“ der Jakobiner.

Wie dem auch immer sei, Frankreich wurde nun nach der Schweiz Europas zweite Republik, wenn wir von Zwergstaaten absehen, eine Evolution, die in der Neuen Welt vorweggenommen war. Bolivien, Paraguay und Nicaragua waren in dieser Entwicklung Europa vorausgeeilt und gaben uns leuchtende Beispiele. Frankreich aber war und blieb die Wiege der modernen (im Gegensatz zur antiken) Demokratie,5) und in Frankreich wurde trotz der bonapartistischen und bourbonischen Unterbrechungen „geradlinig“ weitergekämpft. Es war aber nicht nur die Französische Revolution, sondern auch die erste Aufklärung unter dem Zeichen der Göttin der Vernunft, die der kulturellen und politischen Landschaft Frankreichs zunehmend ihren Charakter gab. Zwar blieb die Sozialgesetzgebung in Frankreich weit hinter jener Preußens und Deutschlands zurück, denn schließlich herrschte die Bourgeoisie im engeren Sinne des Wortes, aber die Zielscheibe der Attacke blieben weiterhin Monarchie und Kirche, also „Thron und Altar“. Neben jansenistischen Erinnerungen und reformierter Kränkung wirkte sich hier auch die (übrigens sehr gespaltene) Freimaurerei aus.6) Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war es kaum mehr möglich, Volksschullehrer zu werden ohne einer der frères zu sein. Mit anderen Worten: Es bildeten sich zwei Frankreichs heraus – die Kirche und die Tradition des Thrones auf der einen und die Freimaurerei, die radikalsozialistische7) und sozialistische Partei auf der anderen Seite. Und dann gab es noch „die Bank“, die nicht mit Unrecht lange Zeit hindurch als „jüdisch und protestantisch“ betrachtet wurde.8)

Da walteten zum Teil uralte lokale Traditionen, die sich in der einen oder in der anderen Richtung auswirkten. Wenn man die ländliche religiöse Soziogeographie Frankreichs studiert, wird man sehen, daß ein- und dieselbe Gemeinde oder Canton im Mittelalter albigensisch war, dann im 16. Jahrhundert sich dem Calvinismus zuwandte, im 17.–18. Jahrhundert in jansenistischen Farben schillerte, dann mit Enthusiasmus bei der Französischen Revolution mitmachte, um schließlich in unseren Tagen so weit als möglich links zu wählen, auch kommunistisch, obwohl es dort keinen Großgrundbesitz gibt, und die Bauern9) in einem kommunistischen Staat rettungslos enteignet werden würden, was diesen Individualisten wohl nicht behagen könnte. Interessant ist es auch zu sehen, wie zum Beispiel in einem Dorf der Kirchenbesuch maximale Ziffern aufweist während nur sieben Kilometer weiter weg bestenfalls die Frauen in die Kirche gehen.10) Wenn wir aber generalisieren wollen, dann müssen wir feststellen, daß der nördliche Westen, der Norden, der Nordosten und ganz spezifische Gegenden im Süden „eher rechts“, Zentralfrankreich und spezifische Gegenden im Süden „links“ stehen und natürlich auch „glaubensschwach“ sind.11) („Linkskatholizismus“ ist eine Krankheit der Intellektuellen, nicht des Volks.) Es gibt in Frankreich völlig entchristlichte Gebiete, die (um einen Buchtitel zu zitieren) wahrhaftig Pays de Mission sind.

Allmählich wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Schulen säkularisiert, obwohl der Kulminationspunkt dieses Prozesses erst unter Émile Combes und der Vertreibung der Orden im Jahre 1905 zu finden ist. Doch um ein wenig den Geist des öffentlichen Frankreichs zu verstehen, muß man sich an die Worte erinnern, die der Sozialist Jean Jaurès über Gott aussprach: Würde Er sich manifestieren, müßte man mit Ihm wie ein Gleicher zu einem Gleichen sprechen und mit Ihm debattieren.12) Gambetta, sich an die Rechte in der Kammer wendend, erklärte ihnen: „Wir wollen den Positivismus in das öffentliche Leben einführen. Wir glauben an den Sieg des Guten über das Böse, an die Demokratie, Sie aber, meine Herren, glauben nicht daran!“ Und der Präsident Jules Ferry von Jaurès gefragt, wohin er die Menschheit führen wolle, antwortete schlagfertig: „Zu einer Menschlichkeit ohne Gott und König.“13) Wie weit aber der Verfall Frankreichs gegangen war zeigte sich darin, daß es bald auch eine agnostisch-atheistische Rechte gab, die zwar an die Kombination von Thron und Altar glaubte, im Altar aber eine reine Fiktion sah, ein „nützliches“ sozio-politisches Bindemittel. Diese Haltung charakterisierte viele Enthusiasten der Action Française von Charles Maurras und auch anderer rechtsgerichteter Organisationen.14)

Die dauernden Siege der Linken wurden zweifellos auch durch unglaubliche Dummheiten der Rechten gefördert. Da war, um nur ein Beispiel zu nennen, die Kette der Dreyfus-Prozesse. Der „Fall“ ist weltbekannt. Eine Putzfrau fand im Papierkorb des deutschen Militärattachés von Schwarzkoppen einen Zettel mit Informationen (das bordereau), den man fälschlich dem Hauptmann Dreyfus zuschrieb, einem Reformierten jüdischer Abstammung. Er wurde zweimal unter gerade zu ungeheuerlichen Verfahrensumständen wegen Hochverrats verurteilt. Dann wurde eine Komödie der „Begnadigung“ gespielt. Die ganze französische Rechte, einschließlich republikanischer Erznationalisten, bestand auf der Schuld dieses Mannes. Es nutzte auch nichts, daß bei allen halbwegs intelligenten Leuten auf der Rechten der Verdacht auftauchte, daß Dreyfus unschuldig war, doch – so argumentierten sie – dürfe man die Armee nicht spalten, es also besser sei, daß ein Unschuldiger leide, als daß die psychisch-moralische Einheit der Armee Schaden litte. Immer wieder wurde Goethes Spruch, eine Ungerechtigkeit sei besser als Unordnung (plutôt l’injustice que le désordre), zitiert – ein zutiefst unmoralischer Grundsatz. Das sittliche Empfinden des französischen Volkes aber war damals noch so stark, daß diese Haltung der Rechten üble politische Folgen hatte. Das wirklich Schreckliche daran war aber auch der Umstand, daß die Kirche durch viele ihrer Führer und Köpfe in diesem fanatisch durchfochtenen Fall Dreyfus schwer kompromittiert15) war. Bis zum heutigen Tage gibt es „Antidreyfusards“, die unerschütterlich an eine „Konspirationsthese“ glauben, die aber bei näherer Betrachtung völlig sinnlos ist. Erst vor 15 Jahren traf ich einen katholisch-monarchistischen Verfechter dieses Aberglaubens, dem ich die Frage stellte, ob er denn wirklich überzeugt sei, daß dieser „Internationale Jude“ für den gut christlichen deutschen Kaiser gegen die französische Freimaurerrepublik gearbeitet hätte.16) Ihm blieb der Mund offen…

Doch in Frankreich begegnete man damals auch der widersinnigen Synthese von „Konservatismus“ und Nationalismus, eine Irrung und Verwirrung, die sich später auch in Deutschland bemerkbar machte. Dieser Unsinn wurde durch den „Internationalismus“ von Marx und den „Antisemitismus“, dieser Kinderkrankheit der Konservativen, gefördert. Denn die christliche Monarchie, wie wir früher schon sagten, ist grundsätzlich eine übernationale Einrichtung, die stets über die Grenzen eheliche Verbindungen suchte. Übernational war sie sogar schon im frühen Mittelalter, wo von einem Ende Europas zum anderen geheiratet wurde, und selbst konfessionelle Hindernisse (zwischen der Ost- und der Westkirche) überwunden wurden. Nun aber war der linke Internationalismus da, und diesem „mußte“ ein nationalistischer Kollektivismus entgegengesetzt werden. Reine „Reaktionen“ sind immer psychisch infantil. Als der Sozialist Jean Jaurès vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Frieden erhalten wollte, erschoß ihn ein Mitglied der Action Française – und dies obwohl dieser Krieg zu einem Triumph der Linken führte und führen mußte.

Die Dritte Republik Frankreichs war jedoch kulturell eine fruchtbare Zeit: Malerei, Dichtung, Philosophie, Theologie blühten. Aber rein demographisch geriet Frankreich ins Hintertreffen und die malaise, die Frankreich bis auf den heutigen Tag begleitet, setzte schon damals in der Belle Époque ein. Der Revanchismus blieb stark: Der Verlust des deutschsprachigen Elsaß konnte nicht verwunden werden. Doch muß hier gesagt werden, daß es in Frankreich neben einem Deutschenhaß immer auch eine Bewunderung der Deutschen gab, die selbst den Zweiten Weltkrieg überlebte. Dies konnte besonders unter Intellektuellen beobachtet werden, denn auf der geistigen Ebene sind sich Franzosen und Deutsche sehr ähnlich. (Anders steht es im ‚folklorischen‘ Bereich.) Frankreich gehört zum „absolutistischen Rückgrat“ Europas, das sich von Gibraltar über Frankreich, Deutschland und Polen nach Rußland zieht. Hier gibt es die pèlerins de l’absolu. Auf internationalen Kongressen, die sich mit den Geisteswissenschaften beschäftigen, merkt man stets, wie sich Franzosen und Deutsche verstehen, Engländer und Amerikaner mit ihren sensualistisch-relativistischen Auffassungen jedoch abseits bleiben. Nicht umsonst trägt Frankreicb den Namen eines germanischen Volksstammes, nicht umsonst haben Frankreich und das Deutsche Reich auch eine gemeinsame geschichtliche Wurzel im karolingischen Reich, und findet man in der französischen Sprache zahllose Worte germanischen Ursprungs, deren deutscher Charakter allerdings durch Lautverschiebungen oft stark entstellt ist.17) Über die Geschichte der Germanophilie in Frankreich ist schon viel geschrieben worden, ohne Zweifel mehr als über die Frankophilie in deutschen Landen.18)

15. DAS GROSSE BRITANNIEN

England und seine „Nebenländer“ – Schottland, Wales, Irland – gingen durch eine ganz andere Phase als Frankreich. Noch unter der Regierung Georgs IV. war England ein freidenkerisch-ausgelassenes Land aristokratischen Charakters mit heidnischen Untertönen. Die „Adelsrepublik“ von 1688, diese Schöpfung der Glorious Revolution, dauerte an. Das ist das England von Coleridge, Shelley, Wordsworth und Byron, einer späten Romantik und eines gesteigerten Reichtums. Von Wilhelm IV. konnte die Times in ihrem Nachruf noch sagen, daß er ein wenig begabter Mann war, wenn auch sittlich einwandfreier als sein Vorgänger. Ein derartiges Urteil wäre heute selbst in einer kommunistischen Zeitung Englands undenkbar, denn der Monarch ist inzwischen eine sacred cow geworden, recht machtlos aber ein wahrhaft geheiligtes Symbol!

Diese Entwicklung von der Monarchie zur Aristokratie im Sinne der Adelsherrschaft (von Plato, Aristoteles und Polybius als naturgemäß erkannt) hat seine Wurzeln in der Magna Carta von 1215, die in unseren Schulbüchern fälschlicherweise als „Beginn der Demokratie“ angesehen wird. Das aber war sie ganz und gar nicht, denn sie gab Privilegien der Kirche und dem Adel und einige kleinere Rechte den freemen, den Freisassen. Sie beschnitt die Geldprivilegien der Juden (Artikel X und XI) und minderte recht radikal die juridische Stellung der Frau (LIV). Die Magna Carta (nicht „Charta“!) war also gewissermaßen ein liberales Dokument, das die Freiheitlichkeit förderte, nicht aber die Demokratie, die sich für die Gleichheit und die Mehrheitsherrschaft einsetzt.

So viel über das englische Mittelalter. Kommen wir aber zum 19. Jahrhundert zurück.

Nun folgte 1837 das Régime der Königin Viktoria, eigentlich einer deutschen Prinzessin aus dem Hause Hannover, die wiederum einen Deutschen, Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, heiratete, und mit diesem fraulichem Régime kehrte allmählich die alte puritanische Sittenstrenge in England heim. Das hatte aber auch seine tieferen Beweggründe. Victorianism bedeutete auch eine weitere Industrialisierung, eine rapide Vermehrung der Arbeiterklasse und den Aufstieg eines Unternehmertums, das sittenstreng, asketisch und vom Lebensernst erfüllt war. Diese homines novi kamen jedoch nur in den seltensten Fällen aus den Kreisen der Gentry, ja sehr oft auch nicht aus dem anglikanischen Bürgertum: Es waren Kleinbürger, chapel people, „Nichtkonformisten“, die dem Glauben nach Baptisten, Methodisten, Kongregationalisten, Quäker oder auch Mitglieder der sehr evangelisch (und antikatholisch) ausgerichteten Low Church waren. Frivolität lag ihnen fern. Und mit diesem Aufstieg wurde nun auch die Staatskirche ernster, was zu einer sehr allgemeinen religiösen Renaissance führte, von der schließlich auch die katholische Kirche profitierte. Die Vierzigerjahre waren durch die (alte) Oxford-Bewegung charakterisiert, aus der Newman hervorgegangen war und die eine nicht geringe Anzahl von Anglikanern ins katholische Lager brachte. Selbst in der Aristokratie begann man den Glauben ernster zu nehmen.

Diese neue, gesellschaftlich kaum respektierte Fabrikanten- und Händlergeneration, die sich aber planmäßig an die alten Führungsschichten anglich1) und auch in sie hineinheiratete, gab auch der liberalen Partei einen besonderen Auftrieb. (So manche Konservative versuchten hingegen im Sinne der Tory Democracy sich mit wechselndem Erfolg der Arbeiterklasse anzunehmen.) Man muß sich hier vor Augen halten, daß in den Dreißigerjahren mit ihren radikalen parlamentarischen Reformen die alten Tories sich zu „Konservativen“, die Whigs aber zu „Liberalen“2) gemausert hatten. Dabei aber hatten sich letztere mehr gewandelt als die ersteren. In der Volkssprache sind die Konservativen heute immer noch die Tories, die Liberalen aber längst nicht mehr die Whigs – und dies mit gutem Grund. Die Whigs waren die Partei des wirklich unabhängig denkenden und fühlenden Adels (und Bürgertums), die Tories hingegen die Vertreter des höfisch gesinnten Adels. Deshalb waren allerdings die typischeren Aristokraten die Whigs. Doch die Liberalen wurden langsam, sehr langsam eine vorsichtig linksdrallige Partei – allerdings in so langsamem Tempo, daß sie mit der Zeit von einer neuen, sozialistischen Partei links überholt wurden, der Labour Party, der „Arbeitspartei“. Die Konservativen produzierten im 19. Jahrhundert einige bedeutende Premierminister wie Robert Peel, Disraeli und Rosebery, die Liberalen hingegen Staatsmänner wie Palmerston und Gladstone. Doch erst während des Ersten Weltkriegs mit seiner Ideologisierung wurden die Liberalen eine echte Linkspartei: mit der Ersetzung Asquiths durch Lloyd George.

Nun aber muß man, um die neuere politische Landschaft Großbritanniens besser zu verstehen, sich die großen Klassenunterschiede und die damit verbundenen sozialen Spannungen Englands (eher denn Schottlands) vor Augen halten. Diese Unterschiede sind geschichtlich-rassisch bedingt. Die Urbevölkerung der britischen Inseln, von denen wir sprachlich nichts wissen und nur kulturell eine Ahnung haben, war ein verhältnismäßig kleines, dunkles, wahrscheinlich auch gar nicht indogermanisches Volk. Stonehenge, dieses rätselhafte, monumentale Gebilde in Hampshire, ist in aller Wahrscheinlichkeit ihr Werk, das nicht nur auf hochentwickelte technische, sondern auch auf astronomische Kenntnisse schließen läßt.3) Diese Urbevölkerung siedelte wahrscheinlich auch in Schottland, Wales und Irland. Dann erst kamen die Kelten, die von den Römern innerhalb Englands und Südschottlands unterworfen wurden. Erst in der Mitte des fünften Jahrhunderts kamen aus der Nordwestecke des heutigen Deutschlands größere Einfälle der Angeln und Sachsen, die das 410 von der letzten römischen Legion geräumte Land nicht nur ausraubten, sondern auch besetzten. Kleine Königreiche entwickelten sich, die sich aber wiederum mit Wikingern und Dänen auseinandersetzen mußten. Knut der Große beherrschte nicht nur Skandinavien, sondern auch England.4) Kaum aber war die dänische Herrschaft vorbei, als das schicksalhafteste Ereignis für England eintraf: die Eroberung durch die Normannen, die französisierte Norweger und in der Normandie seßhaft waren. Sie siegten in der Schlacht von Hastings 1066 und wurden dadurch die Herren Englands. Diese großen, blonden Skandinavier aus Frankreich, deren Sprache bis ins 13. Jahrhundert französisch blieb, gaben nun England die „oberste Oberschichte“, die auch heute oft noch äußerlich erkenntlich ist. Erst historisch spät entstand die englische Sprache, eine Synthese aus dem Altsächsisch-Niederdeutschen und dem Französischen, in der die einfacheren und grundlegenden Worte germanisch, die Kulturausdrücke aber romanisch sind und auch heute die Mehrheit bilden.

Man kann sich leicht vorstellen, daß diese fortwährenden Einbrüche und Überlagerungen dazu führten, daß in einer gewissen Beziehung rassische Unterschiede mit Klassengegensätzen verbunden sind, wobei freilich auch geographische Differenzen eine gewisse Rolle spielten. So ist natürlich der Anteil von „nordischen“ Typen in Ost-England viel höher als im Westen und (besonders) in Wales, wo sich bis auf den heutigen Tag die keltische (walisische) Sprache sehr wohl erhalten hat und von einer dreiviertel Million gesprochen5) wird. Und gerade in Wales fällt die eher klein geratene, schwarzhaarige und dunkeläugige Urrasse stark auf. Die englischen Standesunterschiede sind allerdings nicht nur visuell (wobei es überraschende Ausnahmen gibt), sondern vor allem auch sprachlich und selbstverständlich in Bildung und Manieren.6) Gerade deswegen, weil die Adelstitel so spärlich gesät sind – sie gehen bei den nachgeborenen Söhnen und bei der Mehrzahl der Enkel wieder verloren –, werden die spezifischen Manierismen der Oberschichte „subtil betont“ und schaffen gesellschaftliche Abgründe, die natürlich im sozialen Aufstieg wieder überbrückt werden.7) Hier aber muß auch bemerkt werden, daß das „Aufschauen“ der Unterschichten zu den gesellschaftlich Hoch- und Höchstgestellten mit der Zeit geringer und geringer, der Neid und die Animosität aber (besonders von der Arbeiterschaft zu den Managern und Unternehmern) größer und größer wurden. Heute kann man in England von einem Klassenkampf reden, in dem aber der Adel nur mehr Zuschauer ist.

Im 19. Jahrhundert spielte auch das Empire („Weltreich“) eine große psychologische eher denn wirtschaftliche Rolle. Über die Kolonien und den „Kolonialismus“ werden wir später reden müssen. Es genüge aber hier zu sagen, daß die Möglichkeit, im sehr fernen Ausland interessante Aufgaben und einen erweiterten Horizont zubekommen, für Engländer von größter Wichtigkeit war. Doch war das britische Kolonialsystem sehr anders als das alte spanische, das portugiesische oder auch das französische – allerdings nicht ganz unähnlich dem niederländischen. Der Brite in den Kolonien war manchmal beliebt, zumeist aber respektiert. So korrupt die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert auch gewesen sein mag,8) so unbestechlich und rechtlich denkend war sie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Doch zu einer echten Synthese zwischen dem britischen Wesen und den Nieder- oder auch Hochkulturen der Übersee kam es so gut wie nie. Die Parade der indischen Armee und die Haltung der Offiziere am „Tag der Republik“ (26. Jänner) in Delhi erinnern zwar sehr lebhaft an britische Vorbilder; da glaubt man Sahibs aus Sandhurst mit bräunlicher Hautfarbe vor sich zu sehen, und natürlich hat die englische Sprache im jetzigen „Commonwealth“ sich einen Platz gesichert, den unmoderne oder primitive Idiome ihr nicht streitig machen können, aber man vergesse da nicht die britische „Kälte“ (die oft nichts als Gehemmtheit ist), wie auch das Gefühl einer kollektiven Überlegenheit. Die englische Religion ist eben die anglikanische, und die ist nun einmal auf die Länder der englischen Zunge zugeschnitten. Sie ist nicht universell; sie hat keine Weltreligion produziert. Von einem Mahratten oder Masai zu erwarten, er solle sich dem Idearium von Heinrich VIII., John Knox, Cranmer, Jakob I. und John Locke verschreiben, ist zu viel verlangt. Der katholische Glaube konnte hingegen alle möglichen und unmöglichen Synthesen mit heimischen Kulturen eingehen. Ein Bewohner der Elfenbeinküste mag sich als Franzose fühlen und in Paris sich als Gleicher unter Gleichen bewegen, als copin, aber ein Ibo oder ein Yoruba wird nie auch nur annähernd ein englischer Gentleman werden. Doch waren die Kolonien und auch die Dominions9) für die Engländer ein großer „Atemraum“. Dabei aber erlosch das kleine Engländertum der Little Englander nie ganz. Eine typische Britin der gehobenen Schichten, die in Indien schwanger wurde, fuhr nach England zurück, um dort niederzukommen, denn einesteils fühlte sie doch den Einfluß des ius soli, andernteils10) war es für ihr Kind „peinlich“, später im Leben bei allen möglichen amtlichen oder gesellschaftlichen Anlässen eingestehen zu müssen, nicht in York, in Devonshire oder in Camden House, sondern in Seconderabad, Bangalore oder in Mahabalipuram auf die Welt gekommen zu sein.

Doch das weltweite britische Lebensgefühl zeigte gerade durch diese Beschränkungen, daß man sich dem Kontinent gegenüber stets sehr unsicher fühlte. Am Kontinent gab es zwar die Anglomanie mit allen ihren Facetten; da gab es eine aristokratische, sozialistische, bürgerliche, „protestantische“ Anglomanie, aber auch eine Anglomanie der Katholiken, Juden, Herrenmodeverkäufer, Techniker, Feministinnen, Homosexuellen, Seeleute, Pferdezüchter, Sportler aller Art und der Globetrotter, eine Besessenheit, die heute weitgehend verblaßt ist, doch einst ungeheuer stark war.11) Es gab auch in England einige wenige Schwärmer für den Kontinent – vor allem die großen Nonkonformisten, die von der Gesellschaft angewidert, entfremdet oder abgelehnt am Kontinent lebten (und starben), Männer, und Frauen wie Byron, Shelley, Keats, Kemble, Wilde, D. H. Lawrence, Nancy Mitford, W. H. Auden u.a. mehr. Doch das waren immer Ausnahmen. Es gibt auch heute Engländer, die prinzipiell nicht den Kontinent besuchen, denn dark men begin at Calais, „dunkelhäutige Menschen beginnen in Calais“, was einfach bedeutet, daß Afro-Asien gleich auf der anderen Seite des Kanals seinen Anfang nimmt. Das aber wiederum beleuchtet einen weiteren Aspekt des britisch-kontinentalen Verhältnisses: Wenn der Kontinent „afro-asiatisch“ ist, dann sind die Briten die einzig wirklich weißen Leute, die einzigen wirklichen Europäer. Und das läßt sich wieder umkehren: Europa ist der „farbige“ Kontinent und die Briten sind dann etwas ganz Besonderes. So sagt der durchschnittliche Engländer, daß er im Sommer den Kontinent besuchen würde, doch gibt es eine Minderheit, die umschweifelos erklärt: „This summer we’re going to Europe.“12) Und tatsächlich bildet England zusammen mit den Vereinigten Staaten und Kanada einen ganz besonderen und gesonderten Teil der westlichen Welt, des „Abendlands“.13)