Kitabı oku: «Die falsch gestellten Weichen», sayfa 14

Yazı tipi:

19. DER „FORTSCHRITTLICHE“ NORDEN

Der Norden Europas, dem phänotypisch auch die Niederlande, wenn nicht gar Belgien zuzuzählen sind, ging indessen durch eine Periode relativen Wohlstands und einer gewissen Blüte. Zwar waren die skandinavischen Länder nicht annähernd so reich wie nach dem Ersten oder gar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Niederlande zehrten einigermaßen von ihrem Kolonialreich, wenn auch keineswegs in dem Ausmaß, wie es der Laie annimmt. Und wer die Ziffern über den belgischen Kongo kennt – die Einnahmen, die Ausgaben, die Investitionen, die Dividenden – wird sehen, daß dieser afrikanische Besitz für Belgien viel eher eine Belastung als eine Quelle von Profiten war. Doch über den „Kolonialismus“ wollen wir noch später reden.

Während Dänemark in den Jahren 1814 bis 1940 durch zwei Kriege um Schleswig–Holstein erschüttert wurde, hatte Norwegen nur eine kleine Revolte (gegen das Haus Bernadotte und die Personalunion mit Schweden), und Schweden selbst keinen einzigen Krieg bis auf den heutigen Tag. Doch wenn auch das rein geistige Leben im hohen Norden keine sonderlichen Blüten trieb und weder überragende Philosophen noch Theologen hervorbrachte, so hatten doch die Dänen den höchst genialen Søren Kierkegaard, der in seinem eigenen Land kaum einen Widerhall fand und tatsächlich nur im Ausland, vorwiegend von katholischen Interpreten, gründlich studiert wurde.1) Skandinavien produzierte einen großen Komponisten, Grieg, und das benachbarte Finnland einen anderen – Sibelius. Norwegen dazu einen großen Maler: Munch. Anders aber war es um die Literatur bestellt, denn da haben wir eine ganze Reihe von Männern und Frauen, die sich im goldenen Buch der Dichtung verewigt haben: Bjørnson, Ibsen, Lie, Hamsun, Strindberg, Lagerlöf, Jacobsen, Jørgensen, Undset, Stolpe, Stenius.2) Im Vergleich zur Literatur in der italienischen Sprache (man bedenke, daß Norwegen, Dänemark und Schweden zusammen nur an die 16 Millionen Einwohner zählen) war das eine beachtenswerte Leistung. Umsomehr gab man sich aber dem materiellen Fortschritt hin: Die Demokratie, der Liberalismus und moderne Sozialideen florierten im hohen Norden wie auch in den Niederlanden. Dort hatte der Komfort im Rahmen einer hochbürgerlichen Kultur (mit sehr starkem Konfessions-und Klassenempfinden) eine wahre Spitze erreicht. In Belgien zeigten sich allerdings schon beträchtliche Spannungen zwischen dem französischen und dem flämischen Element.

Als sich Belgien 1830 von den Niederlanden losriß, war ein „Diktat“ des Wiener Kongresses zerbrochen. Seit der Reformation und der Teilung der Niederlande in eine überwiegend kalvinische Republik und in spanische, später österreichische Niederlande hatten sich der Norden und der Süden auseinandergelebt. Bei den „Generalstaaten“ blieben aber noch sehr viele Katholiken, die gewohnt waren als Niedervolk unter kalvinischer Herrschaft, als Bürger dritter Klasse, im Schatten zu leben.3) Das konnte nach 1815 den Flamen und Wallonen nicht zugemutet werden, die schon vor der französischen Invasion gegen die kirchenreformatorischen Verfügungen Josephs II. heftig reagiert hatten. Was nun die Flamen und Wallonen im Aufstand von 1830 einte, war natürlicherweise der katholische Glauben – und selbstverständlich gab ihnen auch der Umstand, daß sie im „Vereinten Königreich“ damals als Katholiken die große Mehrheit bildeten – an die 70 Prozent der Bevölkerung – zusätzlichen Mut. Zudem war im 19. Jahrhundert „Belgien“ volkreicher als der ‚Norden‘.

Doch sprach auch die Oberschichte der Flamen französisch viel eher denn niederländisch. Es muß aber auch im gleichen Atem zugegeben werden, daß das Französische im Norden sehr verbreitet war und noch vor hundert Jahren die Gesellschaft in Limburg und Nord-Brabant häufig unter sich französisch konversierte.4) Nun aber entstand in dem neuen Staat, der auf dem Boden der alten habsburgischen Niederlande stand und „Belgien“ (nach einem alten keltischen Volksstamm) genannt wurde und über den ein zum katholischen Glauben übergetretener König regierte, allmählich eine Spannung zwischen den beiden Volksgruppen – eine Spannung, die sowohl einen nationalen wie auch einen soziologischen Hintergrund hatte. Die Flamen wollten zunehmend, ihre Sprache nicht als „Niedersprache“, sondern dem Französischen ebenbürtig behandelt sehen. In der flämischen Gesellschaft wurde diese Forderung anfänglich nicht ernst genommen: Erst allmählich änderte sich auch in den Oberschichten diese Haltung.5) Die Emanzipationsbewegung der Flamen hatte zum Teil aber auch einen religiösen Charakter. Am Papier waren die Flamen genau so katholische Christen wie die Wallonen, aber letztere (nicht zuletzt dank des Einflusses des benachbarten Frankreichs) standen im Schnitt weiter links als die Flamen, waren viel öfter liberal oder gar sozialistisch. Auch der Einfluß der Freimaurerei war bei ihnen größer. So kam es auch dazu, daß fast alle Betriebe in Belgien (und nicht auch zuletzt im belgischen Kongo) entweder „katholisch“ waren oder den frères, den „Brüdern“, gehörten. Freilich war diese Zweiteilung der sprachlichen nicht analog: So war zwar die Universität von Brüssel eine Institution der Freimaurer, während die Löwens rein katholisch war – aber doch sehr lange ausgesprochen französisch, dann „gemischt“ und schließlich sprachlich radikal geteilt. Da die flämische Geburtenziffer (als die „katholischere“) auch größer als die französische war, kamen die Flamen langsam aus ihrem „Minderheitsstadium“ und deshalb auch aus ihren Minderwertigkeitsgefühlen heraus und konnten es sich somit gestatten, recht aggressiv zu werden. Nur war dies ein sehr langsamer Prozeß, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs keineswegs abgeschlossen war. Oft sahen schon damals viele Flamen eher in den Deutschen Eroberern als in den Wallonen ihre Brüder. Die Loyalitäten zerrissen oft die Familien.6) Das Zeitalter der Ziffern, der Wahlen, der Volksvertretungen und des Nationalismus hatte überall seine fatale Wirkung.

In den Niederlanden sah man etwas nicht ganz Unähnliches. Die große Mehrheit bekannte sich als Niederländer (manche von ihnen auch als Holländer)7), doch gab es stets eine sehr kleine Minderheit, die sich Dietsche, also „Deutsche“ nannte, denn vor dem Ausscheiden der Generalstaaten aus dem Heiligen Römischen Reich waren die Niederländer unzweifelhaft ‚Deutsche‘. Darum heißen auch die Niederländer auf Englisch Dutch, und im amerikanischen Slang werden auch heute noch die Deutschen als the Dutch bezeichnet.8) Ein Erasmus von Rotterdam oder ein Papst Hadrian VI. aus Utrecht wurden überall als Deutsche betrachtet. Diese Ursprünge und Gefühle wurden von der deutschen Besatzung in den beiden Weltkriegen weidlich ausgenützt, doch wer mit ihr kollaborierte, hatte oft bitter zu büßen. Tatsächlich bekamen aber durch die deutschen Okkupanten die Flamen (in Ghent) ihre erste Universität, die ihnen nach dem Ersten Weltkrieg zunächst wieder einmal weggenommen wurde.

Zwar waren katholische Parteien in beiden „Niederlanden“ gut organisiert und sehr aktiv, späterhin sogar an einer Mehrzahl von Regierungskoalitionen beteiligt, aber ein eher engherziger Liberalismus beherrschte lange die Szene. Im „Königreich der Niederlande“ gab es sogar zwei kalvinische Parteien.9) Die konfessionellen wie auch die konfessionell-säkularen Gegensätze waren hier viel schärfer als im Deutschen Reich, nicht zuletzt weil auch die ‚niederdeutschen‘ Katholiken besonders kämpferisch sind, und ihre Gegner entweder in einem sektiererischen Liberalismus oder im Kalvinismus (also nicht im Luthertum) zu suchen waren. Die Niederlande sind bis auf den heutigen Tag voll verbissener Gegensätze und dies, obwohl gerade in dieser Region die katholische Kirche in eine (wohl zu erwartende) Krise geriet, und eine enge Zusammenarbeit aller christlicher Konfessionen auf politischem Gebiet jetzt eher die Regel denn die Ausnahme ist.

Außenpolitisch versuchten die beiden Länder, sich aus den großen Spannungen, wenn auch vergeblich, herauszuhalten. Die belgischen Neutralitätskompakte (1831 und 1839), von den Großmächten – Rußland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen – unterschrieben, schützten Belgien nicht vor einer Invasion. (Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Belgien seine Neutralität aus eigenem Antrieb aufgegeben.) Die inneren Wunden, die der Erste Weltkrieg in Belgien schlug, waren in der Zwischenkriegszeit kaum verharscht, als der Zweite Weltkrieg sie wieder aufriß.

Kulturell war die Leistung der beiden Niederlande im 19. und 20. Jahrhundert nicht überragend. Literarisch waren die Flamen vielleicht aktiver als ihre nördlichen Nachbarn. In der Malerei brachte zwar Belgien Ensor hervor,10) die nördlichen Niederländer aber van Gogh. Der französischen Malerei, der russischen oder nordischen Literatur hatten diese Länder, einst wahrhaft führend, nun nichts mehr gleichzusetzen. Dieser Vulkan scheint – zumindestens zeitweilig – ausgebrannt zu sein. (Ähnliches läßt sich schließlich auch von Italien sagen.) Nur einige wenige Namen kommen da einem in Erinnerung: Multatuli, Timmermans, Huizinga, Guido und Caesar Gezelle, wobei wir allerdings hier keine französisch schreibenden Flamen noch Wallonen erwähnt haben.

20. CHRISTENTUM VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG

Die katholische Kirche ging in den Jahren 1789 bis 1914 durch eine Reihe von Phasen. Es war dies ein Auf und Ab, das aber im Endeffekt dennoch keineswegs als eine längere Periode des Abstiegs gewertet werden darf. Die Französische Revolution, so müssen wir gleich eingangs bemerken, traf die Kirche keineswegs in Frankreich oder anderswo in einem Zustand des völligen Zerfalls oder der inneren Auflösung, außer allerdings in einem richtunggebenden Sektor der Intelligenz, der gesellschaftlichen Spitzen, und des intellektualisierten Klerus. Es ist natürlich richtig, daß es in Frankreich ungeschriebene Adelsprivilegien innerhalb der Hierarchie1) gab, daß Salonabbés herumschwärmten, die nicht an die grundlegenden Dogmen der Kirche glaubten, doch lebte die große Mehrheit der französischen Geistlichkeit, wie zahlreiche Beobachter aus der vorrevolutionären Zeit hervorhoben, brav, anständig, fromm und fleißig: Die Pfarrer und Bischöfe sorgten sich in so mannigfaltiger Weise um das Wohl und Wehe des einfachen Volkes und beschränkten sich nicht auf die Seelsorge.2) Man muß aber zugeben, daß die Kirche in Frankreich damals immer noch am „inneren Schisma“ des Jansenismus litt, einer puritanisch-prädestinatären (in gewissem Sinn „kalvinistischen“) Strömung in der Kirche, deren allerletzte Ausläufer bis zum Ersten Weltkrieg und auch darüber hinaus gingen.3) Der Jansenismus wurde durch eine Zusammenarbeit von Staat und römischer Kirchenleitung gewaltsam unterdrückt, und deshalb darf man sich nicht wundern, daß Jansenisten und auch Reformierte sich am Königtum zu rächen suchten und republikanisch zu fühlen begannen. Das zeigte sich dann auch im Spiegelbild anticalvinischer Ausschreitungen von Royalisten nach dem Sturz Napoleons.

Doch gab es, um einen Ausdruck Spenglers zu gebrauchen, während der Französischen Revolution auch einen Priesterpöbel, der nicht nur kompromißhaft kollaborierte und den vom Papst verbotenen Eid auf die Verfassung ablegte, sondern auch auf dem äußerst linken Flügel der Revolution eine nicht ganz unbeträchtliche und zumal höchst widerlich-widernatürliche Rolle spielte. Selbst Ordensleute waren darunter.

Doch hatte die Erste Aufklärung auch anderswo, und nicht nur in Frankreich, ihre Opfer gefordert. Durch den Josephinismus–Febronianismus war nicht nur allenthalben im Herzen Europas die Kirche enger an den Staat gebunden, sondern auch der Volksfrömmigkeit an den Leib gerückt worden. Diese Welle des „Antiklerikalismus“ überdauerte selbst die Französische Revolution und reichte bis in die Romantik hinein, die doch eine Reaktion auf die „Linke Welle“ gewesen war. (Man denke nur daran, daß lediglich empörte Bauern die Zerstörung der weltberühmten Wies–Kirche in Bayern durch eine „aufgeklärte“ Regierung verhinderten!) Freilich war der Josephinismus nicht ohne Widerstand über die Bretter gegangen: In den österreichischen Niederlanden, wie wir schon erwähnten, hatte er eine wahre Revolte hervorgerufen.

In der Romantik aber hatte die Kirche tatsächlich einen gewissen Auftrieb erlitten, der aber eher sentimentale als rationale Ursachen hatte. Die Greuel der französischen Demokraten und die napoleonischen Kriege, die den Fortschritt mit Feuer und Schwert über fast ganz Europa verbreiteten, hatten bei denkenden, viel mehr aber noch bei feinfühligen Menschen einen wahren Widerwillen gegen das „Neue“ erregt. Die katholische Kirche verzeichnete damals eine überraschende Anzahl von Konvertiten, die in der Mehrzahl aus dem Lager lauer oder innerlich abgefallener evangelischer Christen kamen. (Die Frommen wandten sich eher dem Pietismus zu.) Die Überzeugung war damals stark, daß die Monarchie mit dem katholischen Glauben innerlich verbunden war, während dem ‚Protestantismus‘ eine demokratisch-republikanische Tendenz innewohne – wohl ebenfalls eine fausse idée claire, die aber umso zugkräftiger war.

Auch heute nimmt man in kleinen katholisch-konservativen Kreisen nur zu gerne an, daß der Humanismus Luther, Luther aber die Französische Revolution, überdies Luther den Liberalismus und den ‚Kapitalismus‘ hervorgebracht haben, der ‚Kapitalismus‘ aber zwangsläufig zum Sozialismus führe. Nun war aber Luther in Wirklichkeit ein Antihumanist4) und allen demotischen Vorstellungen5) sowie wirklichen Neuerungen gegenüber spinnefeind gesinnt. (Demotisch-demokratische Tendenzen finden wir hingegen beim Jesuiten Suárez und anderen Spätscholastikern.) Der ‚Kapitalismus‘ hingegen wurde in der katholischen Lombardei6) und in Spanien7) geboren. Er bekam allerdings durch den Calvinismus einen späten, wenn auch gewaltigen Antrieb, wobei aber nicht so sehr die freie Wirtschaft (die man so gerne mit dem unsachlichen Terminus „Kapitalismus“ belegt), sondern der erhöhte, wenn nicht der überhöhte Arbeitsethos den Reichtum des Nordens in der Vergangenheit begründete. Zweifelhaft ist es allerdings, ob sich diese bewährte Arbeitsmoral im Versorgungsstaat noch lange halten wird.

Materiell ist die katholische von der reformatorischen Welt erst von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an überholt worden. Der Abstieg Spaniens begann keineswegs mit dem wetterbedingten Untergang der Armada. Frankreich und Österreich waren noch bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts die Großmächte Europas. Noch 1763 vergrößerte sich das spanische Imperium gewaltig. Der amerikanische Mittlere Westen vom Mississippi zu den Rocky Mountains und bis nach Kanada hinauf wurde damals spanisch. Orte wie St. Louis und das Stadtgebiet des heutigen Minneapolis kamen unter die Herrschaft Madrids; Spanier und Russen begegneten sich nördlich von San Francisco.8) Zwar konnten die Niederländer mehr als die Hälfte des portugiesischen Weltreichs während der spanischen Besetzung Portugals blutlos annektieren, doch den Brasilianern gelang es nach einiger Zeit, die Niederländer wieder hinauszuwerfen.9)

Alldies ändert nichts an der Tatsache, daß die Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (trotz des Verlustes der dreizehn Kolonien in Nordamerika durch französische Intervention) eine Zeit der absoluten britischen (und auch preußischen) Aszendenz ist, während die Bedeutung Schwedens und der Niederlande – beides Großmächte vor nicht allzulanger Zeit – sich ihrem Ende nähert. Doch selbst nach 1815 ist Frankreichs Stellung als Großmacht praktisch unbestritten.

Der Primat des Mundus Reformatus ist aber nicht so sehr auf den „neuen Glauben“, sondern viel eher auf seine rapide Säkularisierung zurückzuführen. Mit Recht hatte Hegel behauptet, daß nicht im katholischen Raum, sondern in den Ländern der Reformationskirchen die Französische Revolution ihre eigentlichen Triumphe gefeiert hatte.10) Dasselbe kann man auch von der Aufklärung sagen. Diese Verweltlichung drückte sich schon in der reformatorischen Negierung einer kirchlich-religiösen Kultur an. Alexander Rüstow hat uns in einem wohldokumentierten Essay den Abbruch der deutschen Malerei durch die Reformation vor Augen geführt,11) und A. Müller–Armack verdanken wir, nur um ein Beispiel zu nennen, den Hinweis, daß in Leipzig die erste evangelische Kirche seit der Reformation erst 1870 gebaut wurde.12) Der Geist und die Energien des Mundus Reformatus konnten sich in weltlich-verweltlichtem Enthusiasmus auf die irdischen Güter konzentrieren. Die These Max Webers ist zumindestens halbwahr. Auch nicht so zufällig entwickelte sich die Technik im Norden Europas schneller und durchdrang dort das tägliche Leben auch intensiver als im Süden und vor allem im Osten Europas, da sich dort noch gewisse manichäische Residuen einer solchen Entwicklung gegenüberstellten. Doch diese Evolution im Norden verband sich auch mit einem starken Sinn für Disziplin, Ordnung und Pünktlichkeit, wie man es früher nur im monastischen Rahmen mit der strengen Arbeits- und Zeiteinteilung gewohnt war. Das anarchische Lebensgefühl der katholischen und der ostkirchlichen Welt, verbunden mit Trägheit, Schlamperei, joie de vivre und dolce vita, eignete sich für eine rapide Industrialisierung herzlich wenig.13) Der Militarismus Preußens und der „Marinismus“ Englands gaben dem „südlicheren Norden“ auch eine große politische Machtfülle. Die katholischen Völker gerieten ins Hintertreffen; auch die schulische Bildung und selbst die Geburtenziffern in den katholischen Ländern hielten keine Vergleiche aus. Erst nach dem Ersten Weltkrieg holten die katholischen Bevölkerungsteile und Länder wieder auf.14)

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Krise in der katholischen Kirche und im Orbis Catholicus einen wahren Zenit erreicht, wobei sie einer Phalanx von Gegnern gegenüberstand: Vulgärprotestantismus,15) Freimaurerei, Nationalismus, Demokratie, Liberalismus, Antiklerikalismus, Sozialismus, Gallikanismus und Staatskirchentum, Materialismus, Anarchismus und einer ganzen Reihe von ideologischen und philosophischen Strömungen. Wie wenig man damals als „gebildeter Mensch“ der Kirche noch anhängen konnte, zeigt der Ausruf Leos XIII., der einen fromm-katholischen Arzt in Privataudienz empfing: „Medicus catholicus, res miranda!“ Ein sogenannter Rationalismus hatte den Glauben bei der immer größer werdenden Masse der Halbgebildeten (vor allem im Bürgertum) unterhöhlt, sodaß er nur mehr in der stets schrumpfenden Bauernschaft, im kleinsten Kleinbürgertum, in manchen Fragmenten der Arbeiterschaft, bei einigen wenigen Traditionalisten (vornehmlich im Adel) und auch bei total emanzipierten Intellektuellen und Künstlern, die bewußt gegen den Strom schwammen, vertreten war. Zu letzterer Gruppe gehörten in der Periode 1848–1914 Männer wie Newman, Donoso Cortés, Montalembert, Bloy, Péguy, Huysmans, Manzoni, Solowjów,16) Wilfred Ward, Hügel, Jarcke, Klopp, Pastor, Phillips – eine kurze Liste, und in dieser findet man bezeichnenderweise wenige Deutsche. Das sollte sich allerdings im 20. Jahrhundert überraschenderweise ändern. (Große evangelische Denker und Künstler, die aus ihrem Glauben heraus gewirkt haben? Außer Schleiermacher, Kuyper, Stahl, Gladstone und Troeltsch auch wieder fast niemand!)

Doch findet 1870 in der katholischen Kirche ein sehr bedeutendes Ereignis statt: Mitten in einer Zeit der „verlängerten Aufklärung“, des „bürgerlichen Freisinns“, des Materialismus und Rationalismus wurde das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit verkündet, in der Tat also nur die Verbindlichkeitserklärung einer alten, sehr allgemeinen Überzeugung, die aber gerade zu diesem Zeitpunkt als Kampfansage gegen die „Welt“ gewertet werden mußte. Ohne ein absolutes Magisterium wäre die katholische Kirche auf die Dauer allerdings nicht ausgekommen. Das Ende des Kirchenstaates, das mit einer neuen Bekräftigung der rein geistigen Führungsrolle des Papsttums zusammenfiel, hatte wahrhaft symbolische Bedeutung. Die „moderne Welt“ des „Fortschritts“ zeigte sich wütend, beleidigt und empört. Der Syllabus hatte sie allerdings schon auf diese Dogmatisierung vorbereitet. Der Artikel 80 (es ist dies der letzte) verdammte ausdrücklich die These, daß sich der Papst mit dem Fortschritt, dem (sektiererischen) Liberalismus und der modernen Gesellschaft aussöhnen sollte.17)

Europas Linke, die in dieser „frechen“ Dogmatisierung den Beginn der Agonie der Kirche sah – das Écrasez l’Infame! Voltaires wurde allenthalben wieder laut –, sollte sich jedoch enttäuscht sehen. Zwar war die katholische Kirche nun noch deutlicher die Verkörperung des „Rückschritts“, das so offensichtliche Hindernis am Wege des bejubelten Fortschritts, der den Himmel auf Erden verwirklichen sollte, aber schon die Gründung einer „altkatholischen“ Kirche, von der man dachte, daß sie alsbald die Mehrheit der katholischen Christen von Rom weglocken würde, kam fast einer Totgeburt gleich.18) Bismarck erhoffte sich für diesen Splitter einen großen Erfolg, und in manchen Schweizer Kantonen wurden im Zeichen des „bürgerlichen Freisinns“ die „Christkatholischen“ (im Unterschied zu den „Römischen“) finanziell unterstützt. Doch schon in der Zentrumspartei konnte die Kirche sich im Deutschen Reich ein gewisses Machtinstrument beschaffen, das im „Kulturkampf“ recht erfolgreich verwendet werden konnte. (Einen ‚Kulturkampf‘ nannte der aufgeklärte Anatom R. Virchow, der als Abgeordneter der Liberalen im Reichstag saß, diesen Kampf Bismarcks gegen die „fortschrittsfeindliche“ Kirche.) Doch gerade im Zentrum zeigte es sich, daß die katholische Kirche noch lange nicht wehrlos war, denn hier trat eine Partei auf den Plan, die tatsächlich alle Volksschichten auf der Basis des Glaubens umfaßte und auch Nichtkatholiken, wie zum Beispiel Ludwig von Gerlach, anzog.19) Und diese Partei, wie die auch mit ihr verwandte Bayrische Volkspartei,20) war keineswegs der politische Arm des Vatikans, sondern verfolgte eine eigene Politik.21)

An reinem Prestige in der „Welt“, besonders in der elitären Welt der Geister, blieb die katholische Kirche jedoch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs relativ arm. Von manchen Regierungen gestützt und bevorzugt (besonders in finanzieller Hinsicht), wurde sie von anderen benachteiligt, wenn nicht verfolgt. Man denke da nur an die Austreibung der religiösen Orden aus Frankreich und Portugal, an die antijesuitische Gesetzgebung im Zweiten Deutschen Reich, die erst 1917 dank des Eingreifens des Kaisers aufgehoben wurde, an die zahlreichen Verordnungen gegen die katholischen Christen in Norwegen und Schweden,22) in Rußland (vor 1905–1906), in der Schweiz und in Griechenland. Die Lage in England hatte sich nach 1829 sehr zu ihren Gunsten verändert, wo ihr Ansehen um 1900 im Vergleich zu anderen Ländern vielleicht am größten war. Freilich, es gab in Europa auch Gesetze, die evangelische Christen benachteiligten – so in Spanien und ferner in gewissen lateinamerikanischen Ländern, doch diese waren die Ausnahmen eher denn die Regel; sie entstammten eher einem nationalistischen Gefühl als einer Philosophie, Theologie oder Ideologie.23)

Das alles will natürlich nicht heißen, daß der ‚Protestantismus‘ ein echtes Ansehen hatte. Er galt lediglich als die mildere, aufgeklärtere, fortschrittlichere, liberalere, demokratischere, rationalere, gereinigtere, weniger korrupte Form einer hoffnungslosen Beschränktheit, d.h. des Christentums. Dieses schiefe Urteil war aber nur möglich, weil doch ein recht beträchtlicher Teil der Masse der evangelischen Christen mit oder ohne Zustimmung der Kirchenführung sich vom Gedankengut der Reformation entfernt hatte. Entgegen einem beliebten Klischee war eben Luther keineswegs ein „Frühliberaler“, ein Vorläufer der Demokratie, ein Verfechter des Relativismus und der Toleranz oder gar ein Humanist gewesen. Er reagierte gegen den Geist der Renaissance und jegliche Anthropolatrie. Die Reformation wurde nicht 1521, auch nicht im Jahre 1517, sondern im Winter 1510–1511 geboren, als der mittelalterliche, „gotische“ Mönch, der Augustiner-Eremit Martin Luther, von der neuen Universität Wittenberg24) nach Rom kam und dort mit Entsetzen wahrzunehmen glaubte, daß das Papsttum ein Neuheidentum finanzierte, favorisierte und protegierte. Dieser Verrat am innersten Wesen des Christentums mußte rückgängig gemacht werden! Soli Deo Gloria! Ehre für Gott allein! Der Glaube mußte verinnerlicht und entintellektualisiert werden! Luther also war ein Erzkonservativer, der sich gegen die damalige Modernität gewandt hatte. Kein Wunder also, daß die meisten Humanisten, die anfänglich mit ihm sympathisierten, sich nun von ihm abwandten – nicht nur Erasmus (ein frommer Mann),25) sondern selbst der sehr antiklerikale Reuchlin. Es waren auch gerade die Universitäten und die Universitätsstädte, die anfänglich der fideistischen, ja mystischen Lehre Luthers den größten Widerstand entgegensetzten.26) Bei uns aber lebt das Märchen von Luther als einem Produkt der Renaissance, der auf dem Kamm der höchsten Welle des Humanismus seinen Triumph feierte, immer noch weiter. Doch der Wandel im Lutherbild vom Wahren (oder wenigstens teilweise Wahren) zu Fiktionen war schon im frühen 19. Jahrhundert abgeschlossen.27) Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts war das Bild des donnernden, kompromißlosen, drohenden Theologen, der mit dem Teufel auf der Wartburg gekämpft hatte, allwöchentlich zur Beichte ging, den Tropfen des vergossenen Meßweins vom Boden ableckte, die Juden und die Bauern unflätig beschimpfte28) und die absolute Herrschaft des Staates über den aufmuckenden Herrn Omnes predigte, längst verschwunden. Die Ohrenbeichte fiel der Vergessenheit anheim, Beichtstühle wurden keine mehr gebaut oder bestehende entfernt.29) Die Aufklärung bemächtigte sich in Europa ganz vorzüglich des ‚Protestantismus‘.30)

Zwar gab es noch hie und da evangelische Denker, die der katholischen Vorvergangenheit und der reformatorischen Vergangenheit geistig verbunden blieben, Männer wie Stahl, Vilmar, Leo, Frantz,31) aber sie waren die Ausnahme eher denn die Regel. In den Vereinigten Staaten war es allerdings anders: Da lebte neben einem modernistischen Protestantism (der im katholischen Glauben ein mittelalterlichfeudal-monarchistisches Relikt sah) auch ein harter, puritanischer Fundamentalismus weiter. Für diesen waren katholische Christen zwar rückständige, aber dennoch frivole, heidnische Epikuräer. Diese Haltung lebt auch noch heute weiter und hat sich selbstverständlich gegen die „Welt“ als widerstandsfähiger erwiesen als sein „aufgeklärtes“ ganz und gar nicht im Geiste der Reformatoren weiter vegetierendes Gegenstück… oder auch eine betont „nachkonziliäre“ katholische Kirche. Man sehe sich nur einmal das berühmte Bild Grant Woods, betitelt American Gothic, im „Art Institute“ Chicagos an. Dann versteht man nicht nur den (ungebrochenen) Geist der amerikanischen Evangelikalen, sondern auch das Grundmotiv der so mittelalterlichen Reformatoren. Welches Gemälde würde aber wohl das Gegenteil von Woods American Gothic ausdrücken? Wohl Botticellis Geburt der Venus, einer wahrlich getauften Venus voller Lieblichkeit und Güte.32) (Und Botticelli war wahrhaftig ein frommer Mann.)

Eine echte Schwäche des Reformationschristentums bestand aber in seiner sehr gründlichen Verkennung der menschlichen Natur. Zuerst verwarf es die visuellen (eher denn die akustischen) Ausdrucksformen und Hilfsmittel.33) Luther und das Luthertum tolerierten zwar die großen Kulturwerte, forderten sie aber nicht ausdrücklich, während der Calvinismus eine alttestamentarische Wut auf „Fetische“ und „Idole“ entwickelte: Er war im Grunde gegen eine kirchliche Kunst und die Verwüstungen, die Calvinisten in Frankreich, den beiden Niederlanden und in England-Schottland angerichtet haben, entsetzen noch heute fromme oder auch unfromme Besucher der Kirchen und Kathedralen in diesen Ländern.34) Mit geschlossenen Augen sollte der Christ seinen Herrn anbeten und nicht worship stocks and stones,35) um mit Milton zu reden. Das aber ist für den Durchschnittsmenschen aus Fleisch und Blut oft zu viel verlangt. Das Christentum braucht, ja verlangt eine christliche Kultur mit Architektur, Skulpturen, Malerei, Musik, Prosa und Poesie.36) Die braucht der Mystiker wahrscheinlich nicht, doch die große Mehrheit der Christen sind eben keine Mystiker. Luther, der auch von Ekkehard kam, war es vielleicht. Es gibt zwar einen „Kulturkatholizismus“ (der natürlich seine Schwächen und verwundbaren Stellen hat), aber nicht wirklich einen „Kulturprotestantismus“ – außer in einer völlig zivilen, säkularen Form, die selbstverständlich mit der Aufklärung im Mundus Reformatus eine viel radikalere Säkularisierung hervorgerufen hat als im Orbis Catholicus. Der durchschnittliche Skandinavier oder Brite kommt zumeist nur als Tourist (oder als Konsument einer schöngeistigen Literatur) mit einer spezifisch christlichen Kultur in Kontakt. Doch muß im selben Atem zugegeben werden, daß der wirklich fromme evangelische Christ in der atheistischen Tyrannis existentiell und phänotypisch es leichter hat. Er kommt mit der Dünndruckbibel in der Rocktasche ganz gut aus.37)

Es war nun natürlich, daß im 19. Jahrhundert und auch bis zum Ersten Weltkrieg das Christentum in der Defensive war: Die katholische Kirche, weil sie geistig schlecht gerüstet auf einen totalen Krieg gegen sie durch das Aion („Welt“ und “Zeit“) elend vorbereitet war, die evangelischen Landeskirchen nicht nur weil sie zu weitgehend vom Staat abhingen, sondern auch deswegen, weil sie sich der Welt und dem Zeitgeist freudig oder auch demütig ergaben – obwohl Christus und vor allem die Apostel sie vor beiden stets gewarnt hatten.38) Die Ostkirche hingegen, autokephal und ohne wirkliche Magistratur, war – in Rußland seit Peter dem Großen – völlig am Gängelband des Staates. Dort war zudem auch der Klerus ganz ohne Ansehen. Der Priester („Pope“)39) und insbesonders seine Frau waren in so vielen Volkserzählungen und Märchen die Zielscheibe der Scherze und der Verachtung…