Kitabı oku: «Die falsch gestellten Weichen», sayfa 9

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Hinter dieser Tragödie des Jahres 1920 steckte auch eine semantische Falle. Auch im Tschechischen gibt es nur ein Wort für „böhmisch“ und „tschechisch“ – český. Im Magyarischen gibt es ebenfalls keinen Unterschied zwischen den Worten „ungarisch“ und „magyarisch“ – nur das Wort magyar. Ein deutschsprechender Ungar bezeichnete sich nicht als Magyare, sondern als Ungar oder „Ungarländer“. (Deutschrussen waren „Rußländer“, der schwedischsprechende Bürger Finnlands nennt sich Finnländer.) Nach der Katastrophe von Trianon dachten kluge Magyaren daran, ihr Land nach einer Wiedervereinigung (lateinisch) Hungaria zu nennen.23) In diesem Hungaria gäbe es dann ein Magyarország, Slovensko, Erdély-Ardealu-Siebenbürgen und so weiter. Eines aber ist in all diesen Spekulationen völlig sicher: Wie schon John Stuart Mill hervorgehoben hatte, ist der multinationale Staat auf einer demo-republikanischen Grundlage kaum denkbar.24) (Dagegen spricht nur das Beispiel der Schweiz, die uns nur zu oft als Irrlicht gedient hat, denn sie kann nicht kopiert werden.)25) Ist doch die parlamentarische Demokratie essentiell nie direkte oder indirekte Herrschaft des ganzen Volkes, sondern lediglich die Herrschaft einer Mehrheit über die Minderheit – mit dem Trost, daß die Minderheit von gestern die Mehrheit von morgen sein kann. Dieser Trost fehlt aber mehr oder weniger im multinationalen Staat, in dem die Parteien einen nationalen (ethnischen) Charakter angenommen haben. Hier tritt dann eine gewisse „Unverrückbarkeit“ ein, ein Phänomen, das allerdings auch dort auftritt, wo die Parteien Klassenparteien geworden sind. In einem ganz überwiegend bäuerlichen Land werden dann nur zu wahrscheinlich Bauernparteien permanent regieren usw. Da aber Ungarn unter Kossuth eine Republik geworden war, wäre ein im Kampf gegen Wien siegreiches Ungarn zeitlich noch viel früher am Nationalitätenproblem gescheitert… analog dem alten Österreich.

Gerade vor dem Ausbruch der Revolution im Jahre 1848 fand das denkwürdige Duell zwischen zwei Führern statt – zwischen Ludwig Kossuth und dem Grafen Stephan Széchenyi. Beide waren in der Opposition gegen den Wiener Zentralismus, aber mit sehr verschiedenen Vorzeichen und Methoden. Kossuth war ein kleiner evangelischer Advokat slowakischer Abstammung,26) Széchenyi hingegen ein Aristokrat mit Welterfahrung, der den Kampf Ungarns um Gleichberechtigung mit der besten und legitimsten Waffe ausfechten wollte: mit der Wirtschaft. Széchenyi war kulturell englisch orientiert. Sein frühes Hauptwerk war der Bau der Kettenbrücke, die Ofen (Buda) mit Pest verband, ein damals einzigartiges technisches und finanzielles Unternehmen, das auch ein adeliges Privileg durchbrach: Alle, auch Adelige, mußten zwei Kreuzer für die Benützung zahlen. Die Formel, daß der Adel dem Land mit seinem Blut, der Bürger aber mit dem Geld dient, war damit zusammengebrochen. Széchenyi wußte genau, daß ein wirtschaftlich starkes Ungarn von Wien nicht mehr restlos abhängig sein mußte. (Nach dem Verlust Venetiens und der Lombardei war Ungarn größer als Österreich, und Pest, nicht Wien, war der geographische Mittelpunkt der Gesamtmonarchie.) In diesem Zweikampf zwischen Kossuth und Széchenyi siegte natürlich der Demagoge, der auch der Mann war, der die Grundlage zu dem tödlichen Nationalitätenproblem geliefert hatte. Kossuth floh nach dem Zusammenbruch der Revolution mit der Königskrone,27) die er am Eisernen Tor, in der damaligen Türkei, vergrub, den alten Verbündeten der ungarischen „Nationalisten“ im Kampf gegen Habsburg. Diesen Kampf gegen Wien setzte dann Kossuth in seinem italienischen Exil fort. Széchenyi aber wurde geistig umnachtet: Das Unglück Ungarns, das er seherisch vorausgeahnt hatte, brachte ihn um seinen Verstand. Er starb in einer Irrenanstalt in Döbling. (Auch die Österreicher, besonders aber der Rheinländer Metternich, hatten ihn völlig verkannt.)

10. DEUTSCHES DRAMA: ERSTER AKT

Nach den Revolutionsjahren 1848–1849 spitzte sich jedoch die Lage im Herzen Europas weiter zu; große und kleine Kriege folgten: Frankreich und Sardinien gegen Österreich; die deutschen Staaten, geführt von Preußen und Österreich, gegen Dänemark; die deutschen Staaten, geführt von Österreich, gegen Preußen; die deutschen Staaten, geführt von Preußen, gegen Frankreich. Der deutsch-französische Krieg wurde durch den echt bonapartistischen Drang Napoleons III. ausgelöst, es seinem Onkel gleichzutun und kriegerische Lorbeeren zu ernten. (Freilich wollte auch Bismarck diesen Krieg, den er für unvermeidlich hielt.)1) Schon im Krimkrieg, als Napoleon III. an der Spitze einer französisch–britisch–sardinisch–türkischen Koalition Rußland angriff – einer der unsinnigsten Kriege der Weltgeschichte, der eine Viertelmillion Menschenleben kostete –, zeigte der französische Kaiser seine Kampfeslust.2)

Napoleon III., der als Bonaparte fast automatisch Europas linkem Lager angehörte, setzte sich auch für die Sache des Risorgimento3) ein und erklärte 1859 Österreich den Krieg. Österreich verlor die Schlachten von Magenta und Solferino gegen die französisch-sardinische Allianz, doch gegen die Erwartungen der Italiener brach Napoleon nach der Schlacht von Solferino, die mit schwersten Verlusten auch für die Franzosen geendet hatte, den Krieg ab. Österreich verlor die Lombardei, die es schon seit 1713 besessen hatte,4) behielt aber die Provinz Venedig. 1864 wandte sich der Deutsche Bund, von Österreich und Preußen geführt, gegen Dänemark, das sich anschickte, entgegen der gesetzlichen Erbfolge Schleswig und Holstein zu annektieren, auf das die Linie Augustenburg einen legitimen Anspruch hatte. Von einem rein menschlichen Standpunkt war der Krieg des Deutschen Bundes gegen Dänemark, das einer mehr als zehnmal größeren Machtanballung gegenüberstand, keineswegs anziehend. (Sogar die österreichische Flotte war von der Adria heraufgekommen, und in der Seeschlacht vom Helgoland siegte Tegetthoff über dic Dänen; die Preußen hatten keine nennenswerte Flotte.) Somit ging dieser Krieg anders aus als am Ende die revolutionäre Erhebung der Schleswig-Holsteiner im Jahre 1848–1849, die durch die Einmischung der Großmächte zugunsten der dänischen Krone entschieden worden war. Die Armeen Österreichs und Preußens überrollten die Dänen, deren König nicht nur Holstein verlor, das stets dem Deutschen Bund angehörte, sondern auch Schleswig, das die „Eiderdänen“5) ihrem Land zu erhalten gehofft hatten. Auch eine versprochene Volksabstimmung im nördlichsten Schleswig (mit dänischer Mehrheit) wurde nicht damals, sondern erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs abgehalten.

Doch gerade die Neuordnung in Schleswig-Holstein sollte zum schicksalshaften Zankapfel zwischen Österreich und Preußen werden. Die Österreicher hielten Holstein, die Preußen Schleswig besetzt. Heute noch kann man in Altona (das damals zu Holstein gehörte) im St. Pauli-Viertel neben der kleinen katholischen Kirche6) eine Erinnerungstafel für die dort im Spital verstorbenen österreichischen Krieger sehen. Österreich bestand darauf, daß nach dem Sieg die legitime Dynastie eingesetzt werde, aber Preußen warf zu diesem Zeitpunkt ein begehrliches Auge auch auf Holstein, denn die beiden „meerumschlungenen“ Herzogtümer sollten dazu beitragen, Preußen einen Zugang zur Nordsee zu geben.7)

Allerdings war der Konflikt zwischen Wien und Berlin über die Herzogtümer von nur sekundärer Bedeutung. Die Frage der Hegemonie innerhalb des Deutschen Bundes und der Führerrolle in der Schaffung eines neuen Reichs anstelle des Bundes wirkte sich viel verhängnisvoller aus. Für den Ausbruch des deutsch-preußischen Krieges war viel mehr noch die geheime und bald öffentliche Allianz zwischen Preußen und dem Königreich Italien ausschlaggebend. Sie verstieß gegen einen Hauptgrundsatz des Deutschen Bundes, demzufolge kein Mitgliedstaat einen Vertrag schließen durfte, der gegen ein anderes Mitglied gerichtet war. Im Falle eines Sieges über Österreich versprach Preußen den Italienern das gesamte Venetien.

Dieser Krieg von 1866 zwischen dem von Österreich geführten Deutschen Bund und Preußen war einer der folgenreichsten militärischen Auseinandersetzungen der Neuzeit. Preußen, der Rechtsbrecher, war siegreich und nicht zuletzt auch, weil es besser technisch ausgerüstet war. Das Zündnadelgewehr, als damals modernster Hinterlader, gab den Preußen eine derartig überlegene Feuerkraft, daß die süddeutsch-österreichische Phrase: „So schnell schießen die Preußen nicht!“ sich bald allgemein eingebürgert hatte.8) Österreich mußte dann Venetien an Italien abtreten, obwohl es die italienische Armee und Flotte besiegt hatte – bei Custoza und bei Lissa;9) nun lag die italienische Grenze wenige Kilometer vom wichtigen Seehafen Triest entfernt, und im Ersten Weltkrieg mußten die Österreicher am Isonzo anstatt am Po und westlich der Etsch für den Bestand der Monarchie kämpfen.10) Diese Abtretungen waren auch aus höherer Sicht ein Schlag gegen das Deutschtum – genau so wie die Annexion Schlesiens durch Friedrich II., die den Ländern der Wenzelskrone – Böhmen, Mähren und Schlesien – ihre deutsche Mehrheit genommen hatte, was sich 1919 und mehr noch im Jahre 1945 fatal auswirkte.

Vom Ausgang des deutsch-preußischen Krieges sagte der Kardinal Antonelli mit Recht: „Cascia il mondo! Die Welt bricht zusammen!“ Er bedeutete das Ende des Deutschen Bundes wie auch das Ende der großdeutschen Idee, also der Einigung der deutschen Länder einschließlich Österreichs unter der Führung des Hauses Habsburg. Er bedeutete auch die brutale Einverleibung einer Reihe von deutschen Fürstentümern, die in diesem Krieg auf Seiten des Bundes teilgenommen hatten – von Hannover, Kurhessen, Nassau und der Freien Reichsstadt Frankfurt, deren Bürgermeister beim Einmarsch der Preußen sich das Leben nahm. Durch diese Annexionen, die drei deutsche Fürsten zu Exulanten machten, hatte Bismarck einen wahren Bruch in der europäischen Geschichte herbeigeführt. Einverleibungen von Monarchien waren zur Zeit der napoleonischen Kriege im Schwang gewesen, doch war diese Notzeit nun vorbei. (Die Teilungen der polnischen Rzeczpospolita gehörte auf ein anderes Blatt. Ein Wahlkönigtum war durch keine Dynastie zwischenstaatlich gesichert.) Deutlich schrieb Engels im Jahre 1895, als man den deutschen Sozialdemokraten vorwarf, sie wären Umstürzler, die folgenden Zeilen:

„Diese Fanatiker des Anti-Umsturzes von heute, sind sie nicht selbst die Umstürzler von gestern? Haben wir etwa den Bürgerkrieg von 1866 heraufbeschworen? Haben wir den König von Hannover, den Kurfürsten von Hessen, den Herzog von Nassau aus ihren angestammten, legitimen Erblanden vertrieben und diese Erblande annektiert? Und diese Umstürzler des Deutschen Bundes und dreier Kronen von Gottes Gnaden beklagen sich über Umsturz? Quis tulerit Gracchos de seditione quaerentes? Wer könnte den Bismarckanbetern erlauben, auf Umsturz zu schimpfen?“11)

Es sei aber hier vermerkt, daß Österreich nach dem Frieden von Prag im August 1866 in „Süddeutschland“, also südlich der Mainlinie, seinen Einfluß behalten durfte, aber keinerlei Anstalten traf, zu den drei Ländern – Bayern, Württemberg und Baden – in eine nähere, vielleicht föderative Beziehung zu treten. Zu sehr war Österreich mit seiner inneren Neuordnung und seinem Verhältnis zu Ungarn beschäftigt um seinen Blick westwärts zu wenden. Der „Ausgleich“ von 1867 stand vor der Tür.

11. BISMARCK UND DAS ZWEITE REICH

Was für ein Mann war aber nun dieser Otto von Bismarck? Er entstammte einer kleinen Junkerfamilie. Seine Mutter, eine Mencken, war bürgerlich. Als junger Mann war er patriotisch (also nicht nationalistisch) gesinnt und religiös. Wir haben von ihm ein Gedicht, in dem er seinen preußischen Patriotismus dem „Deutschnationalismus“ entgegensetzte. Er war zweifellos äußerst begabt, betrieb das Studium der Jura in Göttingen, vertrat Preußen in der Paulskirche und war damals schon wütend, weil nur der Vorsitzende, also der österreichische Delegierte, rauchen durfte, was ihn als Nikotinsüchtigen tief ins Herz schnitt. Den Vertrag von Olmütz unterstützte er zwar noch, aber die konservativ-romantischen Auffassungen König Friedrich Wilhelms IV. konnte er ebensowenig teilen, wie später die leicht katholisierenden Neigungen der Königin (späteren Kaiserin) Augusta, die vor dem Ausbruch des deutsch – preußischen Krieges Berlin protestartig verlassen hatte. Dank seiner außerordentlichen Talente offerierte Kaiser Alexander II. ihm, dem preußischen Gesandten in St. Petersburg, eine große Karriere in Rußland, doch zog es ihn in die preußische Politik zurück.1) Die Kriege von 1866 und 1870–1871 betrachtete er als unvermeidlich. Ursprünglich konservativ und von Konservativen unterstützt, glitt er langsam nach links ab – darum auch die Begeisterung von Marx und Engels für ihn.2) Den „Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche im Zweiten Deutschen Reich hatte er vom Zaune gebrochen, was ihm die Unterstützung der Nationalliberalen einbrachte, einer gemäßigten Fortschrittspartei. Dieser Zweikampf mit Rom, der eher zugunsten der „Ultramontanen“, zumindestens aber mit einem Patt endete,3) erschütterte vielleicht auch seine religiösen Gefühle. Ein schweres Problem erwuchs ihm in der Sozialdemokratischen Partei. Anfänglich trat er für ein dynamisches Sozialprogramm ein, das Formen eines Etatismus annahm4) und selbst zu einer Zusammenarbeit mit Ferdinand Lassalle führte.5) Dann aber änderte er seine Taktik, proklamierte die repressiven Sozialistengesetze und näherte sich schließlich dem Unternehmertum, ein Schachzug, der auch zur Entfremdung zwischen ihm und dem „jungen Kaiser“, Wilhelm II., beitrug, der Bismarck sozusagen „links überholte“.6)

Auch in seiner Außenpolitik ließ sich Bismarck nicht immer von festen ideologischen Prinzipien führen: er blieb immer Staatsman und Politiker zugleich, Ursprünglich auf eine Dreikaiserpolitik – Berlin, St. Petersburg, Wien – eingeschworen, sah er zu seiner Betrübnis später ein, daß er sich zwischen Wien und St. Petersburg zu entscheiden hatte. Als deutscher Nationalist fiel dann seine Wahl unausweichlich auf Österreich, wo ihm die „Deutschnationalen“ aller Richtungen ungeteilte Sympathien entgegenbrachten. Ihm, der die Habsburger aus dem Neuen Reich verdrängt hatte, widmete man in Österreich allenthalben Bismarckstraßen und Bismarckplätze.7) Die geradezu klassischen russophilen Gefühle unter den preußischen Konservativen wurden dabei von Bismarck ignoriert. Und demgemäß wurde die konservative Kreuzzeitung, für die Bismarck in jüngeren Jahren Beiträge geliefert hatte, ein ihm feindliches Blatt.8) Doch von den breiten Schichten, besonders von den Liberalen, wurde seine Entlassung durch Wilhelm II. als eine Tat äußerster kaiserlicher Willkür angesehen.

Bismarcks wichtigstes Werk blieb aber die Reichsgründung 1871, die in einer Huldigungszeremonie vor Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles am 18. Jänner 1871 feierlich stattfand. Es ist kaum zu bezweifeln, daß dieser Staatsakt in jener Form den „Erbfeind“ bewußt erniedrigen wollte, der aus Gründen der „Sicherheit“ und der Hegemonie am Festland den Nachbarn im Osten schwach und geteilt wissen wollte. Jahrhunderte hindurch waren die Bourbonen und Bonapartes die Feinde der deutschen Dynastie, der Habsburger, gewesen. Nicht nur hatten sie zeitweilig oder auf Dauer die habsburgischen Besitzungen von Belgien bis zur Schweiz und nach Katalonien hinunter besetzt oder annektiert, sie hatten auch stets die Reichsfeinde unterstützt: die Schweden, die norddeutschen Fürsten, die magyarischen Aufständischen, die italienischen Nationalisten und nicht zuletzt auch die Türken. Der allerchristlichste König machte ohne Gewissensbisse Allianzen mit Ketzern und Heiden gegen den Römischen Kaiser.9) Noch im Ersten Testament Friedrichs II. von Preußen werden die Franzosen als die verläßlichsten Alliierten bezeichnet.10) Auch trotz des Renversement des Alliances 1756, das das Königreich Preußen von einem Liebkind Frankreichs in ein Liebkind Englands verwandelte, blieben die französischen Sympathien, und zwar besonders jene der fortschrittlich aufgeklärten Kreise, auf Seiten Preußens. Die krisenreiche Freundschaft zwischen Voltaire und dem Preußenkönig blieb unvergessen, und die Führer der Französischen Revolution, die den alten Habsburgerhaß fortsetzten, appellierten laut an die preußischen Sympathien.11)

Hier darf man auch nicht vergessen, daß die Aufhebung des Edikts von Nantes, wodurch den Hugenotten die früher zugestandene Religionsfreiheit genommen wurde, und das Edikt von Potsdam, das die hugenottischen Flüchtlinge nach Brandenburg-Preußen einlud, den Hohenzollern ein höchst wertvolles und lange Zeit hindurch auch kulturell höherstehendes Element brachten, das das feudale Kurfürstentum in einen modernen Staat umwandelte. Noch am Anfang des 18. Jahrhunderts war Berlin eine fast überwiegend französische Stadt, und auch Grillparzer sagte den Berlinern die Bildungsgrundlagen von Juden und Franzosen nach.12) Das Französische Gymnasium Berlins bleibt bis in unsere Tage das beste in seiner Art.13) Friedrich II. schätzte diese Refugiés nicht nur ganz außerordentlich; kulturell war und blieb dieser Monarch, sehr zum Unterschied von Maria Theresia, ein Franzose, der die deutsche Sprache für Hunde, aber nicht für Menschen geeignet hielt.14) (Mit der deutschen Rechtschreibung blieb der „Olle Fritz“ stets auf Kriegsfuß.) Und das Berliner Außenamt verkehrte mit seinen eigenen Diplomaten bis 1863 in französischer Sprache, die übrigens auch Bismarck glänzend beherrschte.15)

Doch diese Frankophilie hatte durch die napoleonischen Kriege einen ganz argen Schock erlitten. Der „Franzmann“ war seit diesen nun ganz deutlich der „Erbfeind“ geworden – sicher aber nicht persönlich für Bismarck, der eine kürzere Zeit hindurch sogar an eine echte Annäherung an Frankreich dachte und dem westlichen Nachbarn jede Gelegenheit gab, sein Kolonialreich zu vermehren. Auch in den Territorialansprüchen im Frieden von Frankfurt (1871) waren Bismarcks Forderungen bescheiden: nichteinmal das ganze Elsaß wurde annektiert (Belfort mit Umgebung blieb bei Frankreich) und nur der kleinere Teil Lothringens (das bis ins 18. Jahrhundert zur Gänze zum Reich gehört hatte) kam zum Deutschen Reich.

Unverantwortlich war, wie wir sagten, die Gründung des Zweiten Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles, ebenso unverantwortlich war das Friedensdiktat 48 Jahre später in derselben Lokalität. Anstatt im gerade besiegten Ausland hätte die Reichsgründung an einer von allen Deutschen verehrten Stätte gefeiert werden können, so zum Beispiel in Frankfurt (im Dom, am Römer, in der Paulskirche), in Aachen, in Augsburg, ja selbst in Berlin. (Ein theoretisches Äquivalent zu „Versailles“? Die Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik in der Wiener Hofburg beziehungsweise in Schönbrunn, oder der wiedererstandenen Republik Polen in Sanssouci.) Man greift sich also wirklich an den Kopf, wie ein solcher Plan in den Hirnen von wohlgeborenen, kultivierten Menschen entstehen konnte!16) Das zwanzigste, das Jahrhundert der absoluten Barbarei war eben nicht mehr fern. Und Hitler? Von ihm sagte der Prälat Kaas mit Recht, er wäre nicht in Braunau, sondern in Versailles geboren.

Für Frankreich war diese Niederlage mit dem Verlust von fünf Milliarden Franken (nach heutiger Kaufkraft etwa 20–25 Milliarden Mark) und den Departments Oberrhein (ohne Belfort), Niederrhein und Mosel verbunden. Wie wir schon sagten, blieb der größere Teil Lothringens bei Frankreich, doch gaben von den Reichslothringern immerhin 30 Prozent Französisch als ihre Muttersprache an. Im Elsaß war der französisch-sprechende Teil der Bevölkerung sehr gering, doch war der überwiegende Teil der Bevölkerung damals französisch gesinnt.17) Die psychologische Behandlung der Elsässer und Lothringer war durch eine größtenteils preußische Verwaltung der „Reichslande“ auch denkbarst ungeschickt. (Dasselbe konnte man von Nordschleswig sagen, von den polnischen Gebieten ganz zu schweigen.) Erst sehr langsam gewöhnten sich die deutschen Elsässer an den neudeutschen Stil, der eben leider ein borussischer Stil war, und noch im Jahre 1913 kam es in Zabern zu richtigen Zusammenstößen zwischen Volk und Armee.18) Doch berichtigend sollte auch gesagt werden, daß die E’sässer als typisches Grenzvolk nur zu oft eine „zweideutige“ Haltung an den Tag legten, die aber wiederum nicht als Unaufrichtigkeit oder Unehrlichkeit gedeutet werden soll, sondern eines „Sowohl-alsauch“, eines Sehens in zwei Richtungen. Man stelle sich aber vor, was geschehen wäre, wenn die Verwaltung des Elsaß nicht in preußische, sondern in österreichische Hände gelegt worden wäre, in Hände von alemannischen Vorarlbergern oder Freiburger Vorderösterreichern, und nicht von Männern, die von der Warthe, der Spree oder der Lausitz kamen.19)

Die militärische Niederlage (die zweite im 19. Jahrhundert) und der Verlust der östlichsten Departments hatten auf Frankreich eine traumatische Wirkung – nicht nur als Folge des Deutschenhasses, den es in der Vergangenheit eigentlich nicht gegeben hatte, sondern auch aus „geopolitischen“ Gründen. Der Rhein wurde als die „natürliche“ Ostgrenze Frankreichs aufgefaßt, was er wohl trotz der stupiden Behauptung des deutschfeindlichen Friedrichs II. nie gewesen war.20) (Hier nützt auch keine Berufung auf Cäsars De Bello Gallico, da die Römer bekanntlich nie recht zwischen Kelten und Germanen unterscheiden konnten.) Flüsse mögen für den Laien ideale oder „natürliche“ Grenzen sein, doch für den Geographen sind sie es fast nie. In Europa haben wir einzig und allein die unterste Donau als Trennungslinie zwischen Bulgaren und Rumänen, doch gibt es auch bulgarische Siedlungen im südlichen Bessarabien. Flüsse sind Verkehrswege: sie verbinden, sie trennen nicht. In unserem Jahrhundert wurden sie zu Grenzen gemacht, denn für die Männer am grünen Tisch ersparen sie das Forschen und Denken.21) Die ethnische Grenze zwischen Franzosen und Deutschen liegt demgemäß auf dem Kamm der Vogesen und nicht am Rhein. Der Rhein ist also tatsächlich „Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“. Und obwohl das Elsaß erst 1681 zu Frankreich kam,22) wurde das Straßburg-Monument auf dem Place de la Concorde bis Ende 1918 mit einem schwarzen Flor verziert. Der „Revanchismus“ ist wurzelhaft und historisch ein französisches Wort.

Welchen Charakter aber hatte nun dieses Zweite Deutsche Reich? Es war vor allem ein kleindeutsches, preußisches und überwiegend evangelisches Reich, das sehr eindeutig einen Bruch mit der deutschen Geschichte herstellte. Fast zwei Drittel der Bevölkerung, wie auch zwei Drittel der Oberfläche des Deutschen Reiches gehörten zu Preußen, das sich ununterbrochen vom Saargebiet bis Litauen erstreckte. Die Rheinländer, die Frankfurter, die Schleswiger und Hannoveraner, die Oberschlesier und die Bewohner von Hohenzollern waren nun alle „Preußen“ und trugen somit den Namen eines ausgestorbenen baltischen Volksstammes, der mit den Letten verwandt war. Außerhalb dieses Großpreußens gab es dann nur mehr die süddeutschen Staaten, deren politischer und gesellschaftlicher Stil als „liberal“ bezeichnet wurde, die Kleinstaaten in Thüringen, die drei Hansastädte, Oldenburg, die beiden Mecklenburg, Braunschweig, Anhalt und Sachsen. Interessanterweise hatte Preußen bei den Angelsachsen das größte moralische Prestige, denn es war „protestantisch“ und „fortschrittlich“. Dem Süden räumte man künstlerische, aber keine wissenschaftlichen, technischen oder auch ethischen Qualitäten ein. (Österreich natürlich auch nicht. Die Kaiserstadt Wien als geistiger Motor ersten Ranges wurde in Amerika erst in den letzten 15 Jahren „rückblickend“ entdeckt.)

Freilich, die katholische Kirche war im Vergleich zu den verschiedenen evangelischen Landeskirchen besser organisiert. Das war auch politisch der Fall: es gab christliche (katholische) Gewerkschaften und überdies die Zentrumspartei, die in der Mitte des Reichstags eine strategische Position innehatte und keineswegs Befehle von Rom entgennahm. Doch hier dürfen wir nicht vergessen, daß Organisation immer ein Zeichen der Schwäche ist: Nur wer es nicht allein schaffen kann, organisiert sich, schließt sich bereitwilligst anderen an und versucht so durch die Masse zu wirken. Doch dieser katholischen parlamentarischen Kraft stand keine gesellschaftliche, materielle oder intellektuelle Macht zur Seite. Zwar hatten auch die evangelischen Kirchen Deutschlands keine spirituelle Macht, aber es hatte sich ein liberal-evangelisches, wenig gläubiges Amalgam herausgebildet, das alle möglichen Facetten besaß: es reichte in zahlreichen Schattierungen vom agnostischen Aufklärertum bis zum Pietismus hinüber und beherrschte die neue Szene. Max Weber konnte erfolgreich seine konfessionell – wirtschaftliche These vertreten, denn sie war im Zweiten Reich zur greifbaren Wirklichkeit geworden. Über den Armeen – es gab keine deutsche Armee, sondern nur eine preußische, bayrische usw. – dominierte der preußische Generalstab und in diesem konnte ein katholischer Christ keine große Karriere machen. Da ist das Beispiel des Generals Hutier, hugenottischer Abstammung aber dank einer Mischehe katholisch, der es nicht bis zur Spitze brachte, weil Wilhelm II. zu seinem eigenen Bedauern seinem Generalstab keinen Katholiken vor die Nase setzen konnte.23) Anders stand es mit der Marine: es gab tatsächlich eine kaiserliche Marine und in dieser Erfolgslaufbahnen von Katholiken.24) Und während der katholische Adel sich dem evangelischen mindestens als ebenbürtig empfand, sah das evangelische Bürgertum auf das katholische herab: Auf diesem Niveau bildete es das Herrenvolk.25) Die Geschichte an den Universitäten wurde „kleindeutsch“ gelehrt.

Trotz dieser ganz offenen preußischen Hegemonie – unvergleichlich größer als die österreichische Vorherrschaft in der Doppelmonarchie nach 1867 – war der Föderalismus nicht ganz ausgelöscht. Ja, es gab einen preußischen Gesandten in München, ein bayrischen in Dresden und so weiter. Es gab bayrische und württembergische Briefmarken. Th. Th. Heine, der Illustrator des Simplizissimus, konnte in München eine Karikatur des deutschen Kaisers veröffentlichen – es geschah ihm nichts. Doch auf einer Fahrt durch preußisches Gebiet wurde er erkannt, verhaftet und zu etlichen Monaten Festungshaft verurteilt. (Das war „ehrenhaftes Gefängnis“, wie das „Staatsgefängnis“ in Österreich, und eigentlich nur eine Art von Hausarrest.)26) War dieses Deutschland ein Polizeistaat? Sicherlich, wenn man es nach modernen Maßstäben mißt, aber nicht mehr und nicht weniger als andere Kontinentalstaaten.27) (England hingegen hatte keine Meldepflicht und Hausbesorger als inoffizielle Beobachter. Auch keine Militärdienstpflicht.) Pässe und Visa benötigte man nur für Reisen nach Rußland und in den Balkan – eine Zeitlang auch zwischen Deutschland und Frankreich. Zum Besuch der USA genügte die Visitkarte bis 1921.

Nun folgte im Deutschen Reich die Gründerzeit verbunden mit einem großen materiellen Aufschwung und einem geistig-künstlerischen Niedergang. Als Philosophen von Bedeutung haben wir nur Nietzsche, Rudolf Eucken und Eduard von Hartmann; in der Literatur Wildenbruch, Sudermann und (als Lichtblick) Fontane; in der Malerei regt sich noch nichts. Erst die Jahrhundertwende belebt die Szene. Die „Grabschrift für Bismarck“, verfaßt von Oscar Levy, der sich als „ersten deutschen Emigranten“ bezeichnete und in England eine zweite Heimat fand, drückt die damalige Lage sehr präzise aus:

Hier liegt ein Mann von großem Ruf,

Der einst die deutsche Einheit schuf,

Der gründlich wie ein Deutscher nur,

Bei dieser Einigung verfuhr;

Denn nicht dem deutschen Reich allein

Gab er Gestalt und Einheit, nein!

Ihr könnt im Reiche der Ideen

Auch seinen Einheits-Einfluß sehen:

In dem von ihm geschaffnen Reiche,

Schwatzt heute jedermann das Gleiche.28)

Die Konstruktion des Zweiten Reichs war ähnlich mißlungen wie die der Bundesrepublik mit ihren Amputationen und fünf willkürlich konstitulierten Teilstaaten. Auch fehlte schon im Zweiten Reich die österreichische Präsenz. Tatsächlich war bald das deutsch-österreichische Kulturleben mit dem beiden Zentren in Wien und Prag relativ intensiver als das des „Reichs“. Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts änderte sich allmählich das Gesamtbild.

Natürlich wurden die Schäden an diesem Neubau von klügeren Zeitgenossen entdeckt und kritisiert. Wir denken da vor allem an Constantin Frantz, der sich auch der „Polnischen Erbsünde“ äußerst bewußt war.30) Mit dem Polentum im Osten kämpfte auch Bismarck einen demographisch aussichtslosen Kampf.31) Das städtische Deutschtum konnte mit der polnischen Geburtenfreudigkeit der ländlichen Bezirke nicht fertigwerden. Hier fehlte in Berlin jegliches Konzept, während Wien schon dank der gemeinsamen Konfession mit dem Polentum viel besser auskam. Ja, das Polentum war eine Säule der Monarchie. Und inzwischen, als Folge einer oszillierenden und zugleich kopflosen Politik, vollzog sich allmählich die Einkreisung der beiden deutschen Mächte; der französische Revanchismus und der Panslawismus rüsteten zu einem Schlag, der für alle Beteiligten tödlich werden mußte. Europa wurde der große Verlierer.