Kitabı oku: «Die falsch gestellten Weichen», sayfa 10

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12. DIE DONAUMONARCHIE

Was aber war inzwischen in der Donaumonarchie geschehen? Wir sprachen schon über das österreichische Versäumnis nach 1866, mit dem deutschen Süden in ein engeres Verhältnis zu treten. Da hätte allerdings eine ganz neue Ordnung „ausgedacht“ werden müssen – das Verhältnis zweier Königreiche und eines Großherzogtums zu Wien, und dort mangelte es (wie immer) an Phantasie. Dieses Unterfangen wäre keineswegs von Anfang an hoffnungslos gewesen, und zwar schon deswegen, weil sich im Norden kein außerordentlicher Enthusiasmus für den Einschluß weiterer katholischer Bevölkerungsmassen gezeigt hatte. Auch Bismarck machte Bemerkungen in dieser Richtung. Übrigens gab es auch nach der Reichsgründung zahlreiche Preußen, die sich weigerten, die neue deutsche Flagge, also die preußische mit dem roten Ansatz der Revolution, zu hissen.1) Es wäre also, hätte Wien eine dynamische Politik betrieben, lediglich zum Norddeutschen Bund als Dauereinrichtung gekommen – und wenn überhaupt zu einem deutsch-französischen Krieg, dann wäre in einer Allianz Wien–Berlin mit der Annexion des Elsaß durch ein „Großösterreich“ und Lothringens durch den Norddeutschen Bund zu rechnen gewesen. Die Geschichte Europas (und auch der Welt) wäre eine andere geworden.

Wir schilderten schon die Natur des Ausgleichs von 1867 zwischen Österreich und Ungarn: Nach außen bildeten beide Reichshälften einen Staat, nach innen waren sie weitgehend getrennt. Es gab zwei Staatsbürgerschaften, und die Gesetzgebungen gingen mehr und mehr ihre eigenen Wege: in mancher Beziehung war Ungarn „linker“ als Österreich. Es führte die Zwangeszivilhe ein, gestattete die Scheidung und Wiederverheiratung katholischer Christen und erlaubte die Freimaurerei, die in „Cisleithanien“ (Österreich)2) verboten blieb. Österreich führte allerdings 1907 das direkte, allgemeine und geheime Wahlrecht ein, das in Ungarn erst vor dem Zweiten Weltkrieg zur Verfassung gehörte. (In dieser Beziehung eilte Österreich auch den Vereinigten Staaten voraus.) Die k. u. k. Armee3) war jedoch integrierter als die verschiedenen deutschen Armeen und hatte die deutsche Kommandosprache. (Es gab aber einen österreichischen „Landsturm“ und eine ungarische Honvéd.)

Zwischen beiden „Reichshälften“, der cisleithanischen und der transleithanischen, gab es jedoch auch noch andere tiefgehende Ungleichheiten. Österreich hatte eigentlich, wie die Vereinigten Staaten,4) keinen offiziellen „Namen“; es hieß „amtlich“ sehr bürokratisch und trocken: „Die im Reichrate vertretenen Königreiche und Länder“. (Hingegen gab es „österreichisch“ als Eigenschaftswort, das mit „k.k.“ ersetzt werden konnte, während „k.u.k.“ auf die Doppelmonarchie hinwies.) Österreich war der volkreichere Staat, dem Umfang nach aber der kleinere. Zudem lag das geographische Zentrum der Monarchie eher in Ofen-Pest als in Wien. (Budapest entstand erst 1872 durch die Zusammenlegung dieser beiden Städte.) Wien war vom architektonischen Standpunkt seiner östlichen Schwester überlegen (kein Wunder nach den Verwüstungen der Mongolen und der Türken, denen Europas herrlichste Bibliothek, die Corvina, zum Opfer gefallen war), Budapest hatte hingegen die unvergleichlich schönere Lage und war eine echte Donaustadt.5) Budapest hatte zudem als ungarisches Zentrum, ähnlich wie Paris in Frankreich, einen wirklichen Primat, Wien als österreichische und deutsche Stadt mußte mit Prag, München und Berlin nebst anderen deutschen Städten das Erbe kulturell teilen. Die deutsch-österreichische Provinz zählte damals geistig oder künstlerisch so gut wie nicht. Wien war zwanzigmal größer als Graz oder Linz, fünfzigmal größer als Salzburg oder Innsbruck. (Heute ist das Verhältnis nur mehr eins zu sechs oder eins zu zwölf.) Doch hatte Wien das gemeinsame Kriegsministerium, ein gemeinsames k.u.k. Finanzministerium und vor allem das Außenministerium, daher hatte Budapest keine „diplomatische Welt“; die Konsularwelt, damals scharf getrennt, zählte gesellschaftlich nicht.6) Der Kaiser-König residierte nur vorübergehend in der Burg von Ofen. Es gab natürlich Einrichtungen, die „k.k.“, „k.u.k.“ oder bloß „königlich“ waren. Ungarn hat nämlich, was dem Ausländer (einschließlich dem Österreicher) stets verborgen blieb, eine sehr alte politische Geschichte aristokratisch-republikanischen Charakters, zwar nicht so wie Venedig, aber doch ähnlich der Englands. Die Magna Carta, ein aristokratisches Dokument,7) kommt aus dem Jahre 1215, die „Goldene Bulle“ (Arany Bulla) des Königs Andreas II. ist nur um sieben Jahre jünger. Sie gab dem Adel das Insurrektionsrecht, d. h. das Recht, gegen ihren eigenen König zu revoltieren, ohne der Treulosigkeit bezichtigt zu werden.8) Die Magnatentafel Ungarns nach 1867 hatte auch einen bedeutend aristokratischeren Charakter als das Herrenhaus in Wien. (Anders stand es mit dem Oberhaus nach 1919.)9) Darüber hinaus hatte Ungarn, ähnlich wie Polen, mit dem es so zahlreiche Analogien besitzt, einen äußerst zahlreichen, sehr alten und oft auch sehr armen Kleinadel,10) der die Gewohnheit hatte zu demonstrieren. Ungarn und Polen waren stets „revolutionäre“ Länder.

Transleithanien war „politisch älter“, geographisch – der Karpathenzirkus! – viel abgeschlossener als Österreich, das man vom Bodensee bis zur Ukraine, von der sächsischen Grenze bis Cattaro leicht als geschichtlich-geographischen „Flekkerlteppich“ bezeichnen könnte. 55 Prozent der Ungarn waren Magyaren, aber nur ein Drittel der Bevölkerung Österreichs war deutsch, und das numerische Verhältnis verschob sich immer mehr zugunsten der Slawen, während in Ungarn bis 1918 die Magyarisierung dauernd Erfolge erzielte. Das Magyarentum übte zwar einen Druck auf die Nationalitäten aus, erwies sich aber als äußerst magnetisch. Auch das Judentum magyarisierte sich rasch. Doch am Nationalitätenproblem litten beide, Ungarn und Österreich, wenn auch in sehr verschiedener Weise. Abgesehen davon gab es ein spezifisch ungarisch-kroatisches Problem. Im Pester Parlament hatten die kroatischen Abgeordneten das Recht, kroatisch zu sprechen.11)

Es gab einige „Nationalitäten“ (ungarisch: nemzetiségek die fast restlos innerhalb der Donaumonarchie lebten: die Tschechen, Slowaken, Magyaren,12) Slowenen, Ladiner, Kroaten, „Türken“ (d. h. die islamisierten Kroaten Bosniens). Doch gab es Österreicher, die nach Kleindeutschland hinüberschielten; Italiener, die Irredentisten waren; Ukrainer, die sich als Russen fühlten; Rumänen, deren Loyalität der Regierung in Bukarest galt; Serben, die vom Anschluß an Serbien oder einem serbisch geführten „Südslawien“ träumten, während die Polen nur solange Wien treu bleiben wollten, als es kein Polen gab. Also war die Donaumonarchie vom national-nationalistischen Standpunkt aus entweder zu groß oder auch zu klein. Es hätte zumindestens Polen, ganz Rumänien, Serbien und Montenegro, Friaul und vielleicht gar die Ukraine einschließen müssen. Zweifellos war die erste große Katastrophe in der neueren österreichischen Geschichte der Frieden von Belgrad (1739), als der Kaiser das nördlichste Bosnien, Nordserbien und die kleine Walachei an die Türkei zurückgeben mußte.13) (Der unglücklich verlaufene Krieg, den später Joseph II. an der Seite Rußlands gegen die Türken führte, bestätigte wiederum nur die Donau-Save-Grenze.) Wäre aber der erstgenannte Krieg, den die Türken mit französischer Hilfe gegen die Kaiserlichen führten, gewonnen worden, hätte dann das Römische Reich unter den Habsburgern als der Befreier des christlichen Balkans auftreten können. Bei der nächsten „Gelegenheit“ wären die österreichischen Erblande zur Donaumündung und in der Richtung von Albanien und Makedonien vorgestoßen…

Wie dem auch immer sei: Noch im Jahre 1914 lebte die Mehrheit der Serben innerhalb der Doppelmonarchie – in Ungarn und Kroatien, Bosnien, der Hercegovina und Dalmatien – und nur eine Minderheit im Königreich Serbien. Die meisten Serben waren der Monarchie treu ergeben; der Kaiser hatte den Titel eines Großwojwoden der Wojwodschaft Serbien; einer der besten Generäle der alten Monarchie General Svetozar Boroevic von Bojna, der die elf Isonzoschlachten gegen die Italiener gewann,14) war ein orthodoxer Serbe. Die Kroaten hingegen lebten sowohl im eigentlichen Ungarn wie auch in Kroatien, im (österreichischen) Dalmatien, im (österreichischen) Istrien wie auch in Bosnien, mit noch höherem Prozentsatz allerdings in der Hercegovina.15) Sie waren sowohl um eine nationale Einigung bemüht wie auch um eine größere Autonomie von Budapest, doch war Ungarn (im Gegensatz zum rechtsdralligeren Österreich) sehr zentralistisch eingestellt. Auch versuchten nationalmagyarische Kreise ihre Sprache in Kroatien durchzudrücken, was bei diesem historischen Volk auf großen Widerstand stieß und sogar zeitweilig „illyrische“, d. h. allsüdslawische Gefühle auslöste. Die Slowaken und Rumänen Ungarns (zum Unterschied von den Siebenbürger Sachsen) hatten nur eine sehr dünne Intelligenzschichte und keinen Adel. Soweit er existiert hatte, strebte er der Magyarisierung zu.

Die Doppelmonarchie hatte schwere Probleme. Sie war in das Zeitalter der Nationaldemokratie geraten, und so nagten an ihr nationalistische wie auch politisch-ideologische Kräfte. Der Umstand, daß die Donaumonarchie nur nach historischen und „vertikalen“, nicht aber nach „horizontalen“ und demokratisch-parlamentarischen Gesichtspunkten regiert oder reformiert werden konnte, leuchtete nur wenigen ein. In Ungarn war wenigstens das Wahlrecht derartig frisiert, daß man im Parlament stets mit einer magyarischen Mehrheit irgendwie regieren konnte; doch auch da gab es Pannen! In Österreich war eine deutsche Mehrheit nie zu erwarten: Die Koalitionen, die von Nationalparteien verschiedenster Couleur gebildet wurden, fielen immer wieder auseinander. Im multinationalen Staat, in dem (ungleich der Schweiz) die unmittelbare Loyalität stärker war als die „Zentralloyalität“, ist die Demokratie oder auch die parlamentarisch-konstitutionelle Monarchie ein Nonsens.

Hätte also die Monarchie neu organisiert werden müssen? Im Prinzip sicherlich, doch wäre die praktische Ausführung dieser eigentlich sehr notwendigen Reform äußerst riskant und nur durch einen Gewaltakt möglich gewesen – keinesfalls aber auf konstitutionellem oder auch auf plebiszitärem Weg. Der Mann, der dies tun wollte, war der Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, ein Mann von großer Intelligenz, Energie und Charakter, der sich in vielem radikal von seinem Onkel, dem Kaiser Franz Joseph, und noch mehr von seinem unglückseligen Vetter, dem Kronprinzen Rudolf unterschied. (Beide, Kaiser und Kronprinz, waren „Liberale“, wenn auch von verschiedener Schattierung.) Vielleicht, so müssen wir uns sagen, wäre es besser gewesen, wenn der greise Kaiser im Jahre 1900 oder 1908 nach seinem diamantenen Regierungsjubiläum gestorben und sein Neffe ihm nachgefolgt wäre. Dieser hatte den Plan gefaßt, nach den Trauerfeierlichkeiten, die dem Tod des Kaisers gefolgt wären, eine kurzlebige Militärdiktatur auszurufen – und dies noch vor einer Krönung in Ofen,16) denn bei dieser Gelegenheit hätte er einen Eid auf die ungarische Verfassung geben müssen. Der Plan Franz Ferdinands war es, die Donaumonarchie in einen Föderalstaat mit habsburgischer Spitze umzugestalten, doch ist es bis heute noch nicht klar geworden, wie das im Detail geschehen wäre. Wahrscheinlich hatte diese Neuordnung eher nach historischen denn nach ethnischen Prinzipien erfolgen müssen, denn die Sprachgrenzen in Mittel- und Osteuropa sind so verzahnt, daß sie auch innenpolitisch unbrauchbar gewesen wären. Dieser Raum ist national überhaupt nicht zu ordnen, denn nicht nur gibt es dort sprachliche Inseln und Halbinseln, sondern oft sind auch die Sozialschichten ethnisch bestimmt. So gab es zum Beispiel in Ostgalizien nur ein ganz ephemeres ukrainisches Bürgertum, Großbürgertum und Adel und in Triest nur ein slowenisches Proletariat und Kleinbürgertum. Oft gehörten die Städte der einen und die umliegenden Dörfer einer anderen Nationalität an. Auch veränderten sich die Vérhältnisse dauernd. Am Anfang des 19. Jahrhunderts waren Prag und erst recht Brünn vorwiegend deutsche Städte, die erst mit der Zeit tschechisiert wurden.

Ungarn beziehungsweise die Länder der Heiligen Stephanskrone hätten in einer solchen Reorganisation der Doppelmonarchie ein besonders schwieriges Problem gebildet. Die Beziehungen zwischen Franz Ferdinand und Ungarn waren sehr delikater Natur, doch wäre es eine grobe Vereinfachung zu behaupten, daß sie ganz einfach schlecht waren. Der Thronfolger war ein tief gläubiger katholischer Christ, dem die magyarischen Nationalisten (die „Achtundvierziger“), die jüdisch-progressistische Presse, die antikirchlichen Liberalen und die reformierten Kreise, die habsburgfeindlich eingestellt waren, im Herzen zuwider gewesen sind. Doch sprach der Thronfolger ungarisch (eine Sprache, die ihm sein Lehrer, der Bischof Lányi von Großwardein, beigebracht hatte) und er hatte in seinem Kreis im „Belvedere“ in Wien, wo er amtierte, auch eine Anzahl von Ungarn um sich. Einer dieser war der ungarische Innenminister Josef Kristóffy, der ihm in einem Buch ein wahres Denkmal gesetzt17) und von der Anklage der Ungarnfeindlichkeit freigesprochen hatte. Unklar ist es allerdings, ob der Thronfolger das Verhältnis zwischen Ungarn und Kroatien gelokkert hätte, um dann aus Kroatien, Dalmatien und Bosnien einen Teilstaat der Monarchie zu machen – was die serbischen Nationalisten natürlich fürchteten und schließlich auch zu seiner Ermordung führte. Zweifellos hätte sich Franz Ferdinand in Prag zum König von Böhmen krönen lassen. (Die Familie seiner Frau, die Grafen Chotek, waren Tschechen.) Sicherlich war es von Seiten Franz Josephs ein schweres Versäumnis gewesen, sich nicht in Prag, auch einer alten Kaiserstadt, krönen zu lassen. Dagegen agierten vor allem die Deutschnationalen in ihrer großen Kurzsichtigkeit.

13. DAS ALTE RUSSLAND

Wie ging es nun in Rußland weiter, das sich nach den napoleonischen Kriegen mit „Kongreßpolen“ vergrößert hatte. Finnland war allerdings schon 1809 als völlig autonomes Großfürstentum zu Rußland gekommen. Der Kaiser von Rußland1) war somit auch der König eines sehr stark verkleinerten Polens und Großfürst (Suurruhtinas) von Finnland – womit Rußland wieder einmal weiter nach Westen vordrang. Alexander I., der 1825 in Taganrog „starb“,2) wurde durch Nikolaus I. abgelöst, der einer Verschwörung von Adeligen (geführt vom Fürsten Sergej Nikolajewitsch Trubetzkoj) und einer Reihe von Intellektuellen gegenüberstand. Diese „Dezembristen“ (Dekabristy) wollten teilweise eine konstitutionelle Monarchie, zum Teil aber eine Republik in Rußland einführen. Viele von ihnen waren Freimaurer. Alexander I. war tief religiös, ein Träumer, Nikolaus I. eng konservativ und kirchlicher gesinnt als sein Vorgänger. Dieser Aufstand, der nur zu geringem Teil von der Armee unterstützt wurde, scheiterte völlig; einige von den Anführern wurden hingerichtet, viele nach Sibirien verbannt. Doch Nikolaus verstand sich als „strenger Vater“: Einer der Verschworenen wurde ihm in Ketten im Winterpalast vorgeführt, sie beteten zusammen in einer Kapelle, dann umarmte und küßte der Kaiser den Verurteilten, gab ihm seinen Segen, wünschte ihm Einkehr und Reue und übergab ihn dann seinen Wächtern. Manche der Frauen begleiteten ihre Männer in die Verbannung.

1830 brach jedoch die Revolution in Kongreßpolen aus, die mit ziemlicher Mühe niedergeschlagen wurde. Das war die Zeit der „Polenlieder“, die Deutschland begeisterten.3) Dennoch ging die Fiktion eines vom russischen Kaiser regierten „Königreichs Polen“ nicht verloren. Damals hatte die französische Juli-Revolution in Polen zündend gewirkt, 1848 aber wagte niemand gegen den Herrscher aufzutreten, der das Land mit eiserner Hand regierte, während es überall im Westen, selbst in England, Unruhen, Rebellionen und Revolutionen gab. Dann kam der Tod Nikolaus I. mitten im Krimkrieg und die Regierung Alexanders II., des „Befreier Zaren“ (Tsarj Oswoboditelj), der auf einen schleunigen Frieden drang, der Rußland territorial aber nur die Donaumündung in Südbessarabien kostete. Das große Ereignis in der russischen Geschichte war jedoch die Beendigung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 durch kaiserlichen Ukáz.

Wir müssen uns aber vorstellen, daß die Leibeigenschaft in Rußland recht spät kam, erst mit dem Ende des 16. Jahrhunderts und primär von der Regierung als Steuereintreibungsmethode und nicht von den Grundbesitzern gefordert wurde. Es gab zwei Regelungen der Leibeigenschaft: die Abgabe des Obrók in Geld (pro männlichen Kopf) oder die bárschtschina, die Arbeitsleistung. Auf jeden Fall war der Gutsbesitzer der Mann, der die Steuer an den Staat ablieferte. Pro Bauernfamilie war ein Minimum von 12 bis 15 Hektar vorgesehen. Die Leibeigenschaft gab es jedoch nur im Zentrum und im Westen Rußlands, nicht aber im hohen Norden, fernen Osten oder tiefen Süden in den Kosakengebieten. Weder die deutschen Kolonisten noch die Russen Sibiriens kannten die Leibeigenschaft. Eine sowjetische Schätzung spricht von 55 Prozent der Bauernschaft, die hörig, und von 45 Prozent, die am Anfang des 19. Jahrhunderts frei waren.4) Ursprünglich war das Verhältnis zwischen dem Gutsbesitzer und der Bauernschaft patriarchal, verschlechterte sich aber durch den Absentismus der Gutsbesitzer, die oft herzlose Verwalter anstellten. (Viele von diesen waren Deutsche, manche auch Polen.5))

Man kann aber den Charakter und die Stellung der Bauernschaft nur dann verstehen, wenn man sich die soziale Gesamtstruktur des alten Rußlands vor Augen hält. Der Adel hatte dort seit dem Sturz des Bojarentums unter Iwan dem Dräuenden6) nicht annähernd die Bedeutung, die er im Westen hatte. Er war sehr zahlreich. In der Beamtenschaft (dem Tschin) wie auch beim Militär erfolgte die Nobilitierung (die persönliche als auch die erbliche) automatisch. Bei dem großen adeligen Sektor der Bevölkerung (der Prozentsatz mag allerdings niedriger als in Polen gewesen sein) darf man sich auch nicht wundern, daß dann später bei den Bolschewiken zahlreiche Adelige auftauchten. Sie genossen an und für sich, wie schon Leroy-Beaulieu urteilte, kein besonderes Prestige. Oft waren hohe Adelige (auch Fürsten) bettelarm und unterschieden sich kaum von freien Bauern. Andere waren sehr reich, wie zum Beispiel die Scheremetjews. Noch viel zahlreicher aber war der Adel in Georgien, und nur der Eingeweihte (nicht aber der Ausländer) wußte „wer wer“ war.7)

Die Leibeigenen unterstanden zwar bei kleinen Vergehen der Gerichtsbarkeit des Gutsherren (mit dem sie sich oft duzten oder ihn mit dem Patronymikon anredeten), die Prügelstrafe war auch vorgesehen, aber wer einen Bauern erschlug, wurde mit dem Tode bestraft. (Manchmal erschlugen aber Bauern einen unangenehmen Gutsherren.)8) Man vergesse hier nicht, daß die Leibeigenschaft in Rußland nur 13 Jahre nach der Bauernbefreiung im österreichischen Galizien, aber zwei Jahre vor der Aufhebung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten stattfand – und die Sklaverei war unvergleichlich härter. Leibeigene waren zwar (im Prinzip) glebae adscripti, an die Scholle gebunden, durften aber abgesehen von ihrem eigenen Land auch anderswo eigenen Besitz und überdies eigene Leibeigene haben – und so weiter. Im 18. Jahrhundert gab es ganze Hierarchien von Leibeigenschaften. Manche dieser Leibeigenen (genau so wie die Plebejer im alten Rom) waren sehr reich, vermieden es aber, von ihrem Grundherren die Freiheit zu erkaufen, denn anstatt einer Kopfsteuer von zweieinhalb oder drei Rubel im Jahr, die sie an ihren Herren abführen mußten, wären sie nun mit ihrem großen Vermögen dem Staat gegenüber steuerpflichtig geworden. So haben wir zum Beispiel den Fall eines Leibeigenen des Grafen Scheremetjew, der seine Freiheit nach langer Überlegung mit 135 000 Rubel kaufte.9) (Auch er besaß wieder Leibeigene, dushi, d. h. Seelen.) Dieser Betrag war im alten Goldwert ungefähr 1 Million Mark, in heutigen D-Mark aber unvergleichlich mehr. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 lebten auch längst Unmengen von Leibeigenen in den Städten, keineswegs immer als „Proletarier“, sondern sehr oft in der Eigenschaft von Bankiers, Großkaufleuten, Intellektuellen usw.

Die russische Gesellschaft konnte eben mit der westlichen in keiner Art und Weise verglichen werden; unsere Klischees waren für den Osten unverwendbar. Nicht nur war der westliche Begriff einer Plebs in Rußland unbekannt,10) die Gesellschaft war auch völlig „gemischt“.11) Man konnte ein Fürst, aber nicht beliebt sein, und so blieb man „draußen“, oder noch als Leibeigener geboren, aber witzig, begabt und sympathisch und war deshalb „drinnen“. Auch die Frauen spielten gesellschaftlich eine viel größere Rolle als in „demokratischen“ Ländern.12) Wie mobil die russische Gesellschaft war, ersieht man sehr deutlich, wenn man die Struktur der Schülerschaft in den Gymnasien betrachtet. Schon längst vor der Revolution war der Sektor der Bauernsöhne unvergleichlich höher als bei uns,13) doch sollten diese Dinge unsere angeblich so Gebildeten schon aus der aufmerksamen Lektüre der großen russischen Romane und Theaterstücke wissen. Bei Dostojewskij finden wir eine völlig gemischte Gesellschaft und nicht minder so bei Tolstój oder Turgénjew. In der Anna Karénina sehen wir den kalten Snob Serpuchówskij, der von einer Reise zurückkehrend seinen Diener auf die Lippen küssen muß, dann sich aber schnell mit einem seidenen Taschentuch den Mund abwischt.14) Die Gutsbesitzerin, die in Tschechows „Kirschgarten“ aus Paris zurückkommt, küßt auch den alten Kammerdiener und nennt ihn „liebes Greischen“ (staritschók),15) Mit den Bauern duzte man sich oft gegenseitig, und wenn man am Lande eingeladen war (und dort gerne Wurzeln schlug), küßte man zum Abschied auch die alte Köchin, die einen mit Vornamen und dem Patronymikon ansprach. Einem ungarischen Kommunisten sagte ein Russe, daß die alte Regierung brutal war, aber eines gab es nicht: Arroganz.16) Die alte Gesellschaft war brüderlich, aber mit dem Bolschewismus wurde es anders, denn man war nicht mehr in Christus brüderlich vereint, zwar nicht mehr unbedingt reicher oder ärmer, sondern mächtiger oder ohnmächtiger, beziehungsreicher oder beziehungsärmer – durch die Partei und die bürokratische Hierarchie. Damit hörte sich dann jede Brüderlichkeit auf.

Auch der Arbeiterklasse ging es nicht halb so schlecht, wie man sich das bei uns vorstellt. Die russische Industrie war klein, aber nicht winzig; die Eisenindustrie war sogar beträchtlich. Dort wurde zur Zeit der Großen Katharina eine Woche hindurch am Tage zwölf Stunden, in der folgenden Woche in der Nacht zwölf Stunden, in der dritten Woche aber überhaupt nicht gearbeitet – was auf einen Achtstundentag herauskommt.17) Soziale Gesetze für die Arbeiterschaft gab es in Rußland früher als im Westen. Schon unter der kurzen Herrschaft der Kaiserin Anna Leopoldowna im Jahre 174118) wurden strenge Schutzgesetze für die Fabriksarbeit aber auch für die Landwirtschaft erlassen.19) Tatsache aber ist es, daß zahlreiche Reisende, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Westen besuchten, vom niedrigen Lebensstandard der dortigen Arbeiter und Bauern entsetzt und erschüttert waren.20) Freilich gab es Schwierigkeiten auch nach der Beendigung der Leibeigenschaft: selbst nicht faule und dem Alkohol abholde Bauern konnten als Folge der damit verbundenen Agrarreform die Ablöse für ihre Parzellen nicht pünktlich zahlen. Ein besonderes Übel war jedoch der Mir,21) der Gemeinbesitz der Dörfer, der alljährlich neu verteilt wurde. Wer heute ein Stück Land bebaute, bekam im folgenden Jahr ein anderes. Dies wurde als „gerecht“ befunden, endete aber damit, daß niemand mehr das Land pflegte. Hingegen gefiel den Sozialisten die Einrichtung des Mir als eine Basis des Sozialismus, und seine Abschaffung durch Stolypin wurde von ihnen als „kapitalistisch-individualistische“ Herausforderung betrachtet.

Wenn wir in Rußland dennoch einem raschen Wachstum linker Ideen anarchischer oder sozialistischer Art begegnen, so hat dies mit einem rein ideologischen Wachstum zu tun. Ideas have consequences. Die Überzeugung, daß Ideen unbedingt einen geeigneten Nährboden haben müssen, um sich richtig ausbreiten zu können, fußt auf einem Ammenmärchen, dessen uneingestandener Zweck es meistens ist, in höheren Schulen Halbwüchsigen die Weltgeschichte auf eine recht primitive (aber sofort einleuchtende) Art verständlich machen zu können.

Die linken Ideen, die in Rußland zum erstenmal in der Aristokratie Wurzeln gefaßt hatten, ergriffen nun die neue Intelligentsija der Halb- und Dreiviertelgebildeten, von Idealisten, die sich für das „Volk“ begeisterten und „ins Volk gingen“. Darunter gab es zahlreiche Vertreter des Kleinadels, junge Männer und Frauen, denen auch die „Propaganda der Tat“ zusagte.22) Vergessen wir nicht, daß Bakunin und Kropotkin Edelleute waren, daß der ältere Bruder Lenins, Alexander Iljitsch Uljanow, der sich an einem Mordkomplott gegen den Kaiser beteiligt hatte, dem Erbadel angehörte, daß der große Inspirator der Linken, Graf Leo Tolstoj, nicht gerade ein Proletarier war, sondern den Typ des „reuigen Edelmanns“ verkörperte, daß aber die Giganten der russischen Geisteswelt – Solowjów, Dostojewskij, Leóntjew, Chomjaków, Mereshkowskij – alle rechts standen.

Leroy-Beaulieu nannte nicht nur den Kleinadel als Klasse, die viele Revolutionäre hervorbrachte, sondern auch die Juden.23) Diese waren rechtlich in vieler Beziehung behindert. So durften sie nur in den westlichen Gouvernements dauernd leben, im großen und ganzen in den Gebieten, die durch die polnischen Teilungen an Rußland gekommen waren. Eine Ausnahme bildeten die Akademiker (Maturanten)24) und die Kaufleute erster Klasse. So gab es eine sehr emanzipierte jüdische Gesellschaft in Petersburg und in Moskau, die auch Kontakte zur russischen Gesellschaft hatte. Für das Universitätsstudium gab es einen Numerus Clausus, der aber mit zehn Prozent recht weitherzig war. Wer sich taufen ließ und orthodox wurde, hatte praktisch freie Bahn. Beispiele dafür sind die Karrieren der beiden Rubinsteins, berühmte Musiker, die in den höchsten Gesellschaftskreisen verkehrten: Antoni und Nikolaj. Nikolaj wurde Direktor des Moskauer Konservatoriums, Antoni heiratete eine Fürstin Tschekuanow.25) Auch die Frau des Ministerpräsidenten Graf Witte war eine Jüdin. Juden konnten zwar nicht Grundbesitzer sein, doch dieses Gesetz wurde oft durchbrochen. So war Trotzkijs Vater ein reicher Großbauer (der nie Sozialist wurde), der 250 Joch besaß und noch 400 dazu pachtete.26) Es war aber natürlich, daß Juden sich liberalen und sozialistischen Gedanken nicht verschlossen, wenn sie ihren Glauben verloren. Ihr Prozentsatz im städtischen Proletariat wie auch in der Intelligentsija war außerordentlich hoch. Das Christentum, die Monarchie, das ganze „Establishment“ des Russentums mußte ihnen als „der Feind“ erscheinen. Die wütenden Volksaufstände gegen arme, zumal auch fromme Juden gerichtet, die „Räubereien“ (pogrómy), die von den staatlichen Behörden oft toleriert wurden, machte sie zu Revolutionären und ließ später viele in den Reihen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) aufscheinen.

Ein anderes revolutionäres Element waren die Mädchen und Frauen, die sich auch gerne (wie in unseren Tagen hierzulande) an Terrorakten beteiligten. Besonders bei den SR, den Sozialrevolutionären, viel mehr als bei den Sozialisten, spielten sie eine große Rolle. Die Studentin Wjera Zassúlitsch versuchte den Petersburger Stadthauptmann Trjepow zu27) erschießen, doch dank einer glänzenden Verteidigung wurde sie freigesprochen. (Rußland versuchte damals noch ein Rechtsstaat zu sein.) Hier aber muß man sich vor Augen halten, daß so viele Ausländer den Frauen in Rußland größere Energie zusprachen als den Männern.28) (Auch in den russischen Romanen sind die Frauen sehr oft die stärkeren.)

Zu bemerken ist aber hier auch, daß die Russen im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht ganz und gar keine geborenen Kollektivisten sind und daß schon deshalb die anarchistisch-nihilistischen Richtungen in Rußland sehr deutlich die Oberhand hatten. Anfänglich waren die Narodnaja Wolja und die Sozialrevolutionäre Bewegung führend. Diese Organisationen waren es auch, welche für die politischen Morde verantwortlich waren. Keineswegs waren es die unromantischen Mitglieder der RSDAP. Diese hatte auch bis 1917 keinen einzigen Märtyrer zu beklagen, denn echte Marxisten wollen „wissenschaftlich“ sein, glauben an den unausweichlichen Triumph des Sozialismus und an kollektive Aktionen der Massen. Für individuelle Taten hatten sie nie etwas übrig.

Man muß sich in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß unter Alexander II. die Todesstrafe im Prinzip abgeschafft war und nur auf jene Revolutionäre angewandt wurde, die nach dem Leben des Kaisers oder eines Mitglieds der kaiserlichen Familie trachteten.29) Für den Mord, auch den mehrfachen, standen Gefängnis und Exil (in der Regel nach Sibirien), wo schließlich den früheren Kriminellen Land zugeteilt wurde. Sibirien war immer ein viel freiheitlicheres Land als das europäische Rußland, der Lebensstandard war höher, der exilierte Radischtschew fand dort viele neue Freunde und ein angenehmes Leben.30) Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch an Dostojewskijs Schuld und Sühne, wo der Polizeikommissär dem Verbrecher, der zwei Frauen umgebracht hatte, zuspricht, er sei noch jung und könne doch nach seiner Strafe ein neues Leben beginnen. Da die Richter mit der Bestrafung an einen sehr festen Tarif gebunden waren, beschlossen die Geschworenen oft, einen sympathischen Mörder nur als Totschläger einzustufen. Das war alles im frühen 19. Jahrhundert in Großbritannien sehr anders, wo bis in die Zwanzigerjahre hinein der Dieb, der einen Gegenstand im Werte von mehr als zwei Pfund gestohlen hatte, erbarmungslos aufgeknüpft oder – was manche noch mehr fürchteten – nach Australien verschickt wurde.31) Auch die Prügelstrafe lebte in England und in Amerika sehr lange.32) Freilich, auch in Südeuropa dachte man immer sehr anders über das Verbrechen als im Norden: der Kirchenstaat war sogar berühmt für seine Milde.33) Auch gab es im alten Rußland höchst kuriose Betrafungen: Als zum Beispiel Alexander Herzen zum Exil (Ssylka) nach Perm in Nordostrußland verurteilt wurde, mußte er zur Strafverschärfung Staatsbeamter werden. (Er war unehelicher Geburt, gesellschaftlich wie Pierre in Krieg und Frieden völlig akzeptiert und dazu noch reich – aber er mußte nun täglich ins Büro!)34)