Kitabı oku: «Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung», sayfa 2
Einleitung – Warum ein solches Buch?
Man kann kaum einem Menschen seelisch etwas sein, in dessen Innenlage man sich nicht versetzen kann.
Rudolf Steiner
Vor dem Hintergrund meiner Tätigkeit als Heilpädagoge sowie meiner daran anschließenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Ausbildung stellt die Behandlung von Menschen mit Assistenzbedarf, die zusätzlich an einer seelischen Erkrankung leiden, seit mehr als zwanzig Jahren den Schwerpunkt meiner ärztlich-psychiatrischen Praxis dar. So durfte ich einen großen Kreis Betroffener – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – kennenlernen und als Arzt begleiten. Wichtige Erfahrungen eröffnete mir dabei die häufig langjährige, zum Teil jahrzehntelange Begleitung dieser Menschen.
besonderes Umfeld
Die oft große Not vieler dieser Menschen hat mich betroffen gemacht. Menschen mit Assistenzbedarf leben praktisch immer in einem besonderen Umfeld – in einem heilpädagogischen Rahmen wie Kindergarten oder Schule oder im sozialtherapeutischen Bereich bzw. im Zusammenhang einer WfbM, einer Werkstatt für behinderte Menschen. Zusätzlich steht dieser Personenkreis in einem weiteren unterstützenden Bezugsrahmen wie Heim, Tagesstätte oder betreuten Wohnstrukturen. Daneben gibt es noch das familiäre Umfeld. Hier habe ich unterschiedliche Beziehungsstrukturen kennengelernt. Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Assistenzbedarf erfahren teilweise durch Eltern und Geschwister eine entscheidende Förderung und Unterstützung. Gerade auch bedingt durch den Umstand, dass Mitarbeiter heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Institutionen häufig nur begrenzte Zeit verweilen, kann der familiäre Hintergrund oft Garant von Kontinuität sein.
Überforderung von Angehörigen
Daneben habe ich wiederum Angehörige erlebt, die durch das So-Sein der Betroffenen – gerade auch wenn zusätzlich eine seelische Erkrankung besteht – überfordert waren.
Dies bedingt, dass ich die betroffenen Menschen fast ausschließlich im Zusammenhang mit ihren Begleitern aus dem fachlich-institutionellen wie auch aus dem familiären Hintergrund betreue.
Not der Begleiter
Die Not der Erkrankten ist fast immer auch eine Not der Begleiter. Dies führte in den vergangenen Jahren dazu, dass ich für Kollegien heilpädagogischsozialtherapeutischer Einrichtungen, auf Fortbildungen und Tagungen sowie in Ausbildungsstätten vermehrt Weiterbildungsangebote über den Zusammenhang »seelische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung« gestaltet habe.
hilfreiche Strukturen schaffen
Es galt und gilt, für diese Thematik zu sensibilisieren – um darauf aufbauend anzuregen und zu unterstützen, dass hilfreiche Strukturen geschaffen werden können, die den Bedürfnissen der Betroffenen angemessen sind. Auf diesem Boden können dann weitere therapeutische Maßnahmen angewendet werden.
Die in diesem Zusammenhang in mehr als 20 Jahren gesammelten Erfahrungen sind in dieses Buch eingeflossen.
Mein Schreiben ist getragen von der Hoffnung, dass ein größeres Wissen über seelische Erkrankungen helfen kann, sich entwickelnde Krankheiten früher zu erkennen, um möglichst früh möglichst hilfreiche Bedingungen – persönlicher wie struktureller Art – für die Betroffenen wie auch für die Begleiter gestalten zu können.
Allzu lange ist dieser Zusammenhang – das gleichzeitige Auftreten von intellektueller Beeinträchtigung und psychischer Erkrankung – nicht hinreichend wahrgenommen worden. Viele herausfordernde Verhaltensweisen von Betroffenen wurden unter dem Begriff der »Verhaltensstörung« be- und verurteilt. So wurde oft versäumt, die wirklichen Ursachen, den zielführenden Grund des Verhaltens, aufzusuchen, um adäquate Hilfen, Therapien und positive Strukturen anzubieten und aufzubauen. Oft ist übersehen worden, dass für viele Menschen mit kommunikativer und intellektueller Beeinträchtigung das jeweilige Verhalten die einzige zur Verfügung stehende »Sprache« ist.
Verhalten als »Sprache«
Gemeint ist damit Folgendes: Wie soll sich ein Mensch, der sich sprachlichkommunikativ nicht ausdrücken kann, der nicht über konstruktive Äußerungsmöglichkeiten wie Gebärdensprache, Bilder oder andere Formen einer »Unterstützten Kommunikation« (UK) verfügt, anders ausdrücken als über sein Verhalten?
Wir können als Menschen nicht nicht kommunizieren, wie es einmal benannt wurde.1 So können wir jedes Verhalten als Kommunikation verstehen – Rückzug, scheinbar situationsinadäquate Verhaltensweisen, expansivaggressive Zustände … alles, ohne Ausnahme, ist Kommunikation, oder anders ausgedrückt: »Sprache«. Es obliegt den Begleitern, zu versuchen, dieses jeweilige Verhalten zu »lesen«, diese »Sprache« nach und nach zu erlernen, also hinreichend zu verstehen. Und es gibt viele dieser Sprachen!
Entscheidend ist, diesen Zugang zu einem Verständnis nicht zu früh und zu schnell durch ein Urteil (beispielsweise, indem man den Begriff »Verhaltensstörung« ins Spiel bringt) zu verschließen.
aufmerksames Beobachten
Dieser Zugang des aufmerksamen Beobachtens ist der Beginn jeder Therapie.
Erst etwa seit den 1990er-Jahren wurde zunehmend erkannt, dass all die seelischen Erkrankungen, die wir bei sogenannten nicht behinderten Menschen kennen und behandeln, auch bei Menschen mit Behinderungen auftreten.
Ein wesentlicher Pionier auf diesem Weg ist der holländische Psychiater Professor Dr. Anton Došen, der 2010 schrieb: »Im letzten Jahrzehnt wurde der große Rückstand der psychiatrischen Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller Behinderung zum Teil aufgeholt. Während damals noch vor allem betont werden musste, dass Menschen mit einer intellektuellen Behinderung psychische Störungen – wie alle anderen Menschen auch – haben können, ist diese Tatsache heutzutage bekannt und weitgehend akzeptiert.«2
Zusammenhänge verstehen
Wir sind heute weiter – haben aber noch eine lange Wegstrecke vor uns. Immer noch begegnet mir bei meinen Kontakten mit Betroffenen – vor allem aber mit Angehörigen, Mitarbeitern und Teams heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen – ein großes Bedürfnis, diese Zusammenhänge tiefer zu verstehen. In vielen Fortbildungen für Kollegien und Einrichtungen oder in Unterrichtssituationen vertiefte sich die Frage, wie therapeutische Strukturen aussehen und gestaltet werden könnten, die die spezifischen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen. Dies darzustellen und zu entwickeln ist Anliegen dieses Buches.
Die folgenden Ausführungen sind von meinem persönlichen Hintergrund geprägt: Ich bin Psychiater, d.h. ich bin Arzt. Als solcher bin ich bemüht, die Erkrankungen gemäß einer allgemein gültigen Sichtweise in Diagnose und Therapie darzustellen. Und ich bin anthroposophisch orientierter Arzt – das bedeutet, dass ich in meiner ärztlichen Tätigkeit eine Erweiterung dieses gültigen medizinischen Ansatzes zu verwirklichen versuche. Diese Erweiterung findet sich insbesondere in den sogenannten »menschenkundlichen Beschreibungen«.
Menschenkunde
Der Begriff »Menschenkunde« geht auf Rudolf Steiner und sein erweitertes Menschenbild zurück. In meinem ärztlichen Tun eröffnet mir dieser Ansatz wesentliche Zugänge zum Verstehen von und Handeln mit erkrankten Menschen, insbesondere auch bei Menschen in Heilpädagogik und Sozialtherapie.
die Betroffenen verstehen
Das Buch folgt dabei einem ausgesprochen pragmatischen Ansatz: Sowohl die allgemeinen Beschreibungen der Krankheitsbilder, insbesondere aber die menschenkundlichen Erweiterungen verdienten vielfach eine breitere Ausführung. Vor dem Hintergrund des zur Verfügung stehenden Rahmens ist alles allein auf das Ziel ausgerichtet, das Verstehen der Betroffenen zu fördern sowie die therapeutischen Zugänge zu ihnen anschaulich darzulegen und somit zu erleichtern.
Zielgruppen
Das Buch richtet sich vor allem an Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, an Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger (HEP) und an in der Sozialpädagogik sowie der Sozialtherapie Tätige. Im Besonderen wendet es sich auch an Menschen, die sich in einer diesbezüglichen Ausbildung befinden. Ganz allgemein ist es für Menschen in sozial, medizinisch und pädagogisch ausgerichteten Berufen gedacht, auch für Ärzte, deren Tätigkeitsbereich nicht primär in diesem Bereich liegt; aber auch für Personen, die beispielsweise im Rahmen einer Behörde im Kontakt zu Menschen mit Unterstützungsbedarf stehen.
Eine wichtige Zielgruppe sind aber auch die Angehörigen. Oft lange alleine gelassen im Verstehen wie im Unterstützen ihrer Kinder oder Geschwister, sind sie doch – wie bereits erwähnt – diejenigen, die eine Kontinuität in der Begleitung gewährleisten, gerade auch in Zeiten kritischer Zuspitzung. Und letztlich hoffe ich, dass auch die Betroffenen selbst von diesen Darstellungen profitieren können.
Vorbemerkungen
Mensch im Allgemeinen angesprochen
•Unsere Sprache bietet kaum Möglichkeiten, sich in einheitlicher Form an Frau und Mann zu wenden. Das allgemeine Sprachgefühl ist sensibel geworden für die ungerechte Seite einer männlich dominierten Ausdrucksweise. Das Problem ist erkannt – aber eine befriedigende Lösung ist noch nicht gefunden. Die konsequente Anfügung der jeweils anderen Flexionsform verhindert das fließende Lesen. Im Folgenden geht es meist um den Menschen im Allgemeinen und um ein Zusammenwirken der Geschlechter. Zumal keine Frau ganz ohne männliche und kein Mann ohne weibliche Anteile ist. Mit meiner Entscheidung, dem tradierten Sprachgefühl zu folgen und den Menschen in der männlichen Form zu benennen, will ich nichts Männliches über Weibliches stellen. Ich bin mit meiner Entscheidung nicht zufrieden, weiß aber – noch – keine bessere.
Mensch als geistiges Wesen
•Das Buch handelt von besonderen Menschen. Sie alle tragen etwas, das sie von einer sogenannten »Normalbevölkerung« abhebt, sei es die besondere Konstitution, die von einer veränderten Gestaltung ihrer Chromosomen herrührt, und/oder eine Beeinträchtigung ihrer Gehirnentwicklung oder -funktion. Vor Jahren sprach man von »Behinderung«, von einer »geistigen Behinderung« zumal. Die heutige Form der Beschreibung ist davon meist abgerückt – zu Recht, wie ich meine: kann man doch gerade das »Geistige«, sieht man es als die spirituelle oder transzendente Seite des Menschen an, letztlich als »unkrankbar« beschreiben – sie ist, nicht mehr und nicht weniger. Der Mensch ist ein geistiges Wesen – jeder Mensch –, und dieses kann nicht behindert sein. Vor allem außerhalb der Fachkreise ist der Begriff der Behinderung allerdings noch immer weit verbreitet. Diesem Umstand ist die Verwendung in der Titelformulierung dieses Buches geschuldet.
In der anthroposophisch orientierten Heilpädagogik hat Rudolf Steiner den Begriff »Seelenpflege-bedürftige Menschen« vorgeschlagen und hier die Förderung seelischer Fähigkeiten in den Vordergrund gestellt. Damit sind die Förderung von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sowie Aspekte von Antrieb und Motivation gemeint, wie später noch erläutert wird (siehe Seite 61 f.). Heute finden wir eher die Beschreibungen »Menschen mit Intelligenzminderung« oder auch »Menschen mit Unterstützungs- bzw. Assistenzbedarf«. Ich habe mich diesen letzteren Benennungen in meinem Buch im Wesentlichen angeschlossen, auch in Ermangelung eines Begriffs, der sich nicht mehr am Defizit, an der Einschränkung orientieren muss – vielleicht finden sich da in der Zukunft noch andere, erweiterte Begriffe.
Begriff des »Betroffenen«
•Und noch ein Abspüren einer stimmigen Benennung: Das Buch behandelt die Not von Menschen. Ich halte es aber nicht für passend, von »Patienten« (d. h. »Leidenden«) zu sprechen. Auch der häufig gebrauchte Begriff des »Klienten« beschreibt nicht wirklich, worum es geht, nämlich um Beziehung, um adäquate unterstützende Beziehungsgestaltung. Am ehesten scheint mir dies in dem Begriff des »Betroffenen« zu liegen – im Sinne von »dem, um den es geht« – oder auch in dem Begriff »des anderen« als Bezeichnung für einen Menschen, der einem gegenübersteht.
In den angeführten Beispielen verwende ich meist den Vornamen, auch bei Erwachsenen. Dies spiegelt meine persönlichen Beziehungserfahrungen im sozialtherapeutischen Alltag – auch in der Gegenseitigkeit. Die Namen der in den Fallbeispielen genannten Menschen wurden zu ihrem Schutz geändert.
unterschiedliche Blickwinkel
•Die Schilderungen des Buches nehmen immer wieder unterschiedliche Blickwinkel ein. Zum einen schreibe ich von mir und persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen. Dann spreche ich von »mir« oder sage »ich«. Dann wieder spreche ich von »uns« oder sage »wir« – hier nehme ich die Position möglicher Begleiter oder Bezugspersonen mit herein.
•Seit vielen Jahren bin ich dankbar für Worte, die helfen können, besondere Zustände besser zu erfassen, die aber auch mir selbst helfen können, mich besser und aus einem tieferen Verständnis heraus auf diese Zustände einzustellen und einzulassen. Die Dichtkunst, die Fähigkeit der Dichterin, des Dichters, etwas Wesentliches ins »ver-dichtete« Wort zu führen, Geistiges fassbarer auszudrücken, ist mir eine tägliche Hilfe, mich angesichts der oft großen Herausforderungen, Verdunklungen und Verwirrungen, die seelische Leiden mit sich bringen, immer wieder selber aufzurichten und den Blick wieder frei auf das dahinterstehende, auf das eigentliche Wesen des anderen zu richten. Einige Beispiele solcher Worte sind den einzelnen Kapiteln vorangestellt oder tauchen im Verlauf eines Kapitels auf.
•Die Hinweise auf ergänzende Literatur (siehe Seite 422 ff.) sind sehr begrenzt und subjektiv. Viele weitere sehr wesentliche Veröffentlichungen könnten zu jedem Kapitel genannt werden. Die hier angegebenen können als anfänglicher Hinweis zu einer Vertiefung des Geschilderten verstanden werden.
zum Umgang mit dem Buch
zwischen den Zeilen lesen
•Zum Umgang mit diesem Buch: Liest man es von vorne bis hinten, hat das gewisse Vorteile, da einzelne Bereiche aufeinander aufbauen, Begriffe entwickelt und wieder aufgegriffen werden. Es ist aber auch möglich, die Kapitel für sich zu lesen; zum Beispiel je nach den aktuell anstehenden Fragen bzw. begleiteten Personen. Vielleicht möchte sich eine Leserin oder ein Leser anhand der Beispiele durcharbeiten, die die jeweiligen Kapitel illustrieren wollen, auch das kann sinnvoll sein. Bei wieder anderen kann es sein, dass sich das Bedürfnis oder die eigene Fragestellung zunächst auf die menschenkundlichen Hinweise richtet. Möglicherweise kann das Buch aber auch von hinten nach vorne gelesen werden, beginnend mit inneren Fragen wie der nach der »Selbstfürsorge« oder auch dem »Ausblick«, wenn mehr die innere Seite der Heilpädagogik gesucht wird. Vor allem aber hoffe ich, dass das Buch auch »zwischen den Zeilen« gelesen wird – denn das »Sagbare« ist doch begrenzt, die innere Seite überragt das gedruckte Wort oft um ein Vielfaches.
Bevor die einzelnen Formen seelischer Erkrankungen beschrieben werden, möchte ich grundlegende biografische Aspekte anführen. Zum einen, weil wir den Menschen vornehmlich vor dem Hintergrund seiner biografischen Bedingungen verstehen müssen, im Gesamtzusammenhang seines gelebten Lebens, mit all seinen fördernden oder verhindernden Aspekten. Es gilt daneben aber auch, übergeordnete Aspekte biografischer Entwicklung zu beschreiben, um dadurch möglicherweise auch die individuelle Biografie besser verstehen zu können.
Seelische Entwicklung und Biografie
Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll: Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.
Friedrich Rückert
Jede Biografie, jede biografische Entwicklung ist einmalig und einzigartig. Jeder Mensch bemüht sich um ein »Gelingen«, ein »Bewältigen« seiner Biografie. Manche Menschen ringen darum.
Es gibt keine äußeren Anhaltspunkte, an denen sich festmachen ließe, ob dieses »Bewältigen« gelungen ist oder unvollständig bzw. unerfüllt bleibt.
Gefühl von Stimmigkeit
Letztlich wird allein ein Gefühl von Stimmigkeit, von Kohärenz hier entscheidend sein. Ob dieses gelebte Leben dem eigenen »Schicksal« entspricht, das eigene Schicksal erfüllt – ob es »mein Leben« ist, das kann nur der jeweilige Mensch selbst spüren.
Dazu ein Gedanke aus der Schrift Die Lebensalter von Romano Guardini: »Die menschliche Existenz kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie unter keinem zu erschöpfen ist. […] Der Mensch charakterisiert sich immer neu. Seine körperlich-seelischen Zustände wechseln beständig. […] Trotzdem ist es immer der gleiche Mensch, um den es sich handelt. Die Verschiedenheit der Zustände hebt die Einheit nicht auf, sondern diese behauptet sich in jener. Noch in der scheinbaren Zerstörung ist sie durch das Moment des Schicksals zu ahnen.«3
Bejahung der Bedingungen
Die Fähigkeit jedes Einzelnen, sich belastenden, herausfordernden oder auch widrig erscheinenden Bedingungen des eigenen Lebens zu stellen, kann entscheidend sein. In der Möglichkeit der Anerkennung und vielleicht auch der Bejahung der Bedingungen liegt eine unerschöpfliche Kraft. Damit ist in keinem Fall ein resignatives Hinnehmen gemeint im Sinne von »Ich kann ja sowieso nichts daran ändern«, sondern die Befähigung, sich innerlich aktiv den gegebenen Bedingungen zu stellen, soweit wir sie nicht zu verändern vermögen. Das Wort »Schicksalsakzeptanz« mag diesen aktiven Prozess beschreiben. Oder wie es der schon schwer erkrankte Dichter Christian Morgenstern in seinem Tagebuch festhielt: »Kein Augenblick ohne ein Ja!«4
das eigene Schicksal finden
Es ist die vorrangige ärztliche wie therapeutische Aufgabe, dem anvertrauten Menschen zu helfen, »sein Schicksal« zu finden. Und Krankheit verhindert nicht dieses Schicksal – sondern ist Teil desselben!
Menschen mit Assistenzbedarf brauchen im tiefsten Sinne dieses Wortes gerade hier Unterstützung, bis hin zur Eröffnung neuer und erweiternder Blickwinkel. Ich empfinde es immer wieder als tief berührend, wenn Menschen mit ausgeprägten kognitiven, neurologischen, motorischen oder auch anderen Beeinträchtigungen eine solche Schicksals- und damit Selbstakzeptanz ausstrahlen – und dabei häufig durchaus auch ansteckend wirken. Darin können uns diese Menschen oft ein leuchtendes Vorbild sein.
Dies scheint mir wesentlich zu sein: Seelische Gesundheit ist stark mit der Bewältigung bzw. Akzeptanz der eigenen Biografie verbunden.
belastete Persönlichkeitsentwicklung
Die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Intelligenzminderung ist hier oft in einem besonderen Maße belastet. Viele der Betroffenen erleben schon früh eine geringe Akzeptanz und Wertschätzung, was oft zu Abwertungen und Ausgrenzungen führt und in der Folge zu einer ausgeprägten Fremdbestimmung. Das Selbstwertgefühl wird beeinträchtigt. Die gerade im Hinblick auf die eigene biografische Entwicklung so wesentliche Selbstwahrnehmung wird überschattet und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eingeschränkt.
Umso wesentlicher ist – gerade unter dem Aspekt einer gelingenden Biografie – das Bemühen um eine umfassende und anhaltende Förderung. Die Stärkung der Resilienz, der »seelischen Widerstandskraft«, aufbauend auf versichernde Bindung und ermutigende Beziehungsgestaltung, wird zum zentralen Anliegen heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Begleitung.
Einzigartigkeit jeder Biografie
Die Besonderheit und Unverwechselbarkeit jeder Biografie hat Viktor E. Frankl eindrücklich beschrieben: »Der Mensch muss sich auch dem Leid gegenüber zu dem Bewusstsein durchringen, dass er mit diesem leidvollen Schicksal sozusagen im ganzen Kosmos einmalig und einzigartig dasteht. Niemand kann es ihm abnehmen, niemand kann an seiner Stelle dieses Leid durchleiden. Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt [oder darin begleitet wird, Anm. d.V.], darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen Leistung.«5
Es gibt viele Wege, einen Zugang zur menschlichen Biografie zu finden, ihre Bedingungen zu verstehen und Lösungsmöglichkeiten zu erkennen. Ein für mich wesentlicher Zugang sind die einer Biografie zugrunde liegenden Rhythmen und inneren Bedingungen, wie sie der anthroposophisch orientierte Ansatz eröffnet.
biografische Rhythmen
Neben einem eigenen, inneren – vielleicht auch einsamen – Weg gibt es für die Entfaltung der Biografie noch übergeordnete Faktoren. In seiner anthroposophisch begründeten Menschenkunde beschreibt Rudolf Steiner diese Entwicklungsgesetze allgemeiner, überpersönlicher Art: neben anderen Rhythmen vor allem das Prinzip der Siebenjahresrhythmen (»Jahrsiebte«) und der »Mondknoten« (siehe das folgende Kapitel). Wer mit diesen Gedankengängen nicht bereits vertraut ist, kann sie unvoreingenommen auf ihre Plausibilität prüfen und die eigene Entwicklung und die nahe stehender anderer Menschen unter diesen Gesichtspunkten anschauen.
In jeder einzelnen menschlichen Biografie existiert ein individueller Spielraum, der das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und individueller Ausprägung sichtbar werden lässt.