Kitabı oku: «Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung», sayfa 5
Menschenkundliche Diagnostik
Denn darauf kommt es an, dass man es in seiner Macht hat, sich herauszureißen aus der einen Welt und sich hineinzufinden in die andere Welt. Und das ist überhaupt der Anfang alles Aufrufens innerer Kräfte.
Rudolf Steiner16
Anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und Sozialtherapie verstehen sich als Erweiterung der Verstehens- wie der therapeutischen Zugänge. Hinsichtlich der Diagnosefindung wollen sie keine Alternative zu dem bisher Beschriebenen sein. Aber sie beziehen wesentliche weitere Ebenen mit ein.
Existenz eines »unkrankbaren Wesenskerns«
Grundlage dieses Ansatzes ist die Existenz eines individuellen »unkrankbaren« Kerns, eines »Wesenskerns«, eines Ichs des Menschen. Dieser Kern ist geistiger Natur. Heilpädagogisches Tun in all seinen Facetten ist bemüht, diesen Kern zur Entfaltung zu bringen.
vertiefte Persönlichkeitsentwicklung
Es liegt im Wesen einer durch Anthroposophie erweiterten Diagnostik, dass diese sich nicht an äußeren Kriterien orientiert, sondern erweiterte Erkenntniszugänge beim Untersucher voraussetzt. Entsprechend einem Wort von Johann Wolfgang von Goethe kann »das Gleiche […] nur vom Gleichen erkannt werden«.17 Das bedeutet, dass ich als Untersucher mit meinen sinnlich unterstützten Erkenntnismöglichkeiten auch nur das sinnlich erfassbare erkennen kann, also zum Beispiel Größe, Augenfarbe, äußere Konstitution usw. Je tiefer meine um erkennendes Verstehen bemühte Diagnostik zum Wesen des anderen vordringen möchte, umso tiefer setzt dies eine eigene Vorbereitung voraus. Im Sinne einer »Erweiterung« geht es bei der hier gemeinten Vorbereitung um eine Entwicklung und Ausbildung meiner eigenen seelischen Fähigkeiten, der vertieften Persönlichkeitsentwicklung des Heilpädagogen bzw. der Sozialtherapeutin. Rudolf Steiner hat einen solchen Weg der »Selbsterziehung« an verschiedenen Stellen seines Werkes ausführlich beschrieben.18 Im Einzelnen sind dies hier die Erkenntnismöglichkeiten, die in stufenweiser Folge mit den Begriffen »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« umschrieben werden. Letztlich beschreibt dies Stufen eines immer vertiefteren Vordringens in einen geistig-spirituellen Bereich.
tieferes Verbundensein
Das Besondere dieses erweiterten diagnostischen Zugangs ist, dass es den Untersucher bzw. Begleiter und den anderen auf der jeweiligen Ebene tiefer verbindet: Der andere bleibt nicht nur ein beschreibbares Gegenüber, sondern ich weiß mich ihm in den tieferen Ebenen meines Menschseins verbunden.
Meditation und künstlerische Tätigkeit
Ermöglicht wird dieser Zugang zum einen durch eigenes spirituell-meditatives Bemühen, zum anderen ist es auch die künstlerische Tätigkeit, die hilft, entsprechende Wahrnehmungs-»Organe« zu entwickeln. Es ist ein Anliegen anthroposophisch orientierter Ausbildungsstätten, diesen künstlerischen Ansatz zu fördern.
Im engeren Sinn entwickelte Rudolf Steiner diesen erweiterten Ansatz in dem zum Ende seines letzten Wirkensjahres 1924 gehaltenen Heilpädagogischen Kurs.19 Dieser baut auf seinem in den vorangegangenen Jahrzehnten kontinuierlich ausgearbeiteten Modell einer »Menschenkunde« auf.
Zentrale Ansatzpunkte eines solchermaßen diagnostischen und damit auch erweiterten therapeutischen Zugangs sind folgende Ebenen:
•die dreigliedrige menschliche Organisation,
•die viergliedrige menschliche Organisation,
•polare Krankheitstendenzen und das Bedürfnis nach Ausgleich,
•die psychische Auswirkung der funktionellen Organtätigkeit.
Zugänge zur dreigliedrigen menschlichen Organisation
»Systeme« der menschlichen Organisation
Die Gliederung der menschlichen Organisation in drei unterschiedliche »Ebenen« bildet einen zentralen Ansatz Rudolf Steiners Menschenkunde ab. Sie stellt ein Nerven-Sinnes-System (NSS) einem rhythmischen System (RS) und einem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System (SGS) gegenüber. Dabei umfasst das NSS neben seinem vorrangigen Pol des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark) alle auf neuronalen Strukturen fußenden Bereiche. Das RS beschreibt vorrangig die Bereiche im mittleren Menschen – in erster Linie die Herz- und Lungentätigkeit mit dem entsprechenden Puls- und dem Atemrhythmus, aber auch alle anderen rhythmischen Vorgänge im Organismus. Der dritte Bereich, das SGS, schließt alle Bereiche im Organismus ein, die der Tätigkeit dienen, also die Glieder, aber auch alle dem Stoffwechsel dienenden Organe.
Grundlage seelischer Prozesse
Rudolf Steiner führt im Zusammenhang mit diesem wesentlichen und originären menschenkundlichen Ansatz aus, wie diese unterschiedlich gegliederten Bereiche des menschlichen Organismus Grundlage differenzierter seelischer Prozesse sind: Unser Denken, also die bewusste, reflektierende Auseinandersetzung mit der Welt, stützt sich auf das NSS; die ihm angegliederten Sinnesorgane, unser Fühlen, fußt auf dem RS; mit dem SGS werden wir tätig, es dient unserem Willen, unserer Handlungsfähigkeit. Der Fähigkeit des wachen Bewusstseins im NSS steht eine eher dem Traum ähnliche Bewusstseinslage im RS gegenüber; die Vorgänge im SGS sind uns, ähnlich denjenigen während des Schlafes, nicht bewusst.20
Ein weiterer Bezug wird formuliert: Das Denken richtet sich am Gewordenen, an der Vergangenheit aus; mit dem Gefühl stehen wir in der unmittelbaren Gegenwart; mit dem Willen wenden wir uns dem zu, was werden will, der Zukunft.21
Gleichgewicht der Kräfte
Das Bemühen um ein jeweils individuelles Gleichgewicht dieser Kräfte ist zentrales Anliegen von anthroposophischer Pädagogik und Medizin.
Michael, bei der Aufnahme acht Jahre alt, verhält sich ausgeprägt ängstlich und unruhig. Er ist ein Kind, das zu früh mit zu viel konfrontiert wurde – mit mehr, als es verarbeiten konnte –, und das dabei alleingelassen wurde. So leidet Michael an einer komplexen Traumatisierung. Durch zu früh erzwungenes »Aufwachen« lebt er stark im Nerven-Sinnes-Bereich.
Der therapeutische Ansatz sucht den Ausgleich, die Stärkung der Stoffwechsel-Gliedmaßen-Region; Ziel ist es, Michael zu helfen, mehr in seinen Leib, »zu sich« zu kommen, also durch eine Stärkung dieser Funktionen die Überwachheit in der Nerven-Sinnes-Region zu beruhigen.
Zugang wird zunächst durch eine Haltung gesucht, die in allem ausdrücken möchte: »Es ist gut, du musst keine Angst haben, ich bin da!« Dies wird verstärkt durch die Prinzipien einer sicheren Bindung, d.h. Verzicht auf Willkür, Schaffen von Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Weiterhin werden Maßnahmen zur Beruhigung der Sinnesfunktionen vorgenommen, unter anderem, indem der Gebrauch von Medien stark eingeschränkt und die Sinneseindrücke generell begrenzt werden. Hinzu kommt eine Stärkung des Stoffwechselbereichs durch Wärmung, enstsprechende Ernährung, Massage, heileurythmische Übungen (vor allem »B« und »A«) oder Substanzen mit dem Schwerpunkt Silber und Bryophyllum.
In jahrelanger Begleitung wich die Angst einer wachsenden Sicherheit. Mit dem Ausgleich der beiden Pole stärkte sich auch der mittlere, der »rhythmische« Bereich: Der Schlaf vertiefte sich, die zunächst hohe Pulsfrequenz beruhigte sich, ebenso die Atemfrequenz. Die Fähigkeit zur Ausdauer, die Aufmerksamkeitsspanne, nahm deutlich zu.
Zugänge zur viergliedrigen menschlichen Organisation 22
physischer Leib
•Das Prinzip des viergliedrigen menschlichen Organismus beschreibt – von außen betrachtet – zunächst den formbaren, gestalteten, tastbaren Leib (»physischer Leib«).
Ätherleib und Lebensprozesse
•Dieser ist von Leben durchzogen, in ihm finden Prozesse von Ernährung, Absonderung, Regeneration und Wachstum statt; weiter erhalten ihn Atmung und Wärmung lebendig. Die Gesamtheit dieser Lebenskräfte wird auch »ätherischer Leib« genannt. Von besonderer Bedeutung in der Begleitung vor allem von Kindern mit einem heilpädagogischen Hintergrund ist die Kenntnis der sogenannten sieben Lebensprozesse – gewissermaßen eine Differenzierung der oben genannten Lebenskräfte. Diese umfassen die Prozesse der Atmung, der Wärmung, der Ernährung und Absonderung, der Erhaltung, des Wachstums und der Reproduktion.
astralischer Leib
•Zusätzlich ist der menschliche Organismus »beseelt«, in ihm leben Stimmungen, Affekte, Begierden, Triebe, Freude, Schmerz, Spannung wie auch Entspannung (»astralischer Leib«).
Ich
•Und er ist getragen und durchdrungen von einer unverwechselbaren Individualität, einem Wesenskern – von einer Instanz, die bemüht ist, die Ausgestaltung des eigenen Lebens an inneren Werten auszurichten (»Ich«).
Diese vier Bereiche des menschlichen Organismus werden auch Wesensglieder genannt.
Timo war bei der Aufnahme in Schule und Internat ein zehnjähriger Junge, dessen Verhalten stark von plötzlich einschießenden Stimmungen und Impulsen geprägt war. Eine große Unruhe umgab ihn, die Aufmerksamkeitsspanne war bei hoher Ablenkbarkeit minimal. Eine mangelnde Impulskontrolle führte häufig dazu, dass er Gegenstände zerstörte, ohne es zu wollen; selten kam es auch zu fremdaggressivem Verhalten. Wollte man eine Diagnose stellen, konnte man unter anderem eine ADHS-Symptomatik attestieren.
Die Berücksichtigung des viergliedrigen Organismus ergab ein Überwiegen des Astralleibes – ablesbar an der erheblichen Spannung und Unruhe sowie an den abrupten Stimmungsschwankungen. Zusätzlich wurde diese Kräfteorganisation nicht gestützt, gehalten und ausgeglichen durch die Kräfte des Lebensleibes (quasi »von unten« – ersichtlich aus der mangelnden Befähigung zu Erholung und Regeneration) und des Ichs (»von oben« – ablesbar an der mangelnden Befähigung zu Selbststeuerung, Selbststruktur und Impulskontrolle).
Der therapeutische Zugang zielte – unter anderem – vor allem auf eine Stärkung der Lebenskräfte ab, indem rhythmische Abläufe (Tagesstruktur, Mahlzeiten, Schlafzeiten) intensiv gepflegt und begleitete Zeiten von Regeneration eingeführt wurden, es wurde auf Durchwärmung und eine gute natürliche Ernährung geachtet, aufbauende Substanzen (Aufbaukalk und anderes) verabreicht, Leibwickel (Kamille) und Einreibungen (Primula) angewendet – immer getragen von einer beruhigend-ermutigenden Beziehungsgestaltung.
Nachdem auf diese Weise ein Boden geschaffen worden war, wurde versucht, die Selbstwahrnehmung und Selbstregulation zu stärken: »Was magst du dir vornehmen?« – »Welche Ziele setzt du dir?« – »Was schaffst du?« Damit wurde dem übergeordnet-ordnenden Prinzip des »Ichs« Rechnung getragen.
Zugänge zu den polaren Krankheitstendenzen
Heilpädagogische Zustände sind keine »Defektzustände«, sondern Einseitigkeiten, die nach Ausgleich suchen.
Grundtypen heilpädagogischer Entwicklung
Rudolf Steiner beschreibt in seinem Heilpädagogischen Kurs Krankheitsbilder bzw. Formen oder Grundtypen heilpädagogischer Entwicklung. Dabei werden in diesem anthroposophisch orientierten Ansatz zur Heilpädagogik beispielhaft drei Bereiche herausgehoben und an jeweils polar gegenüberliegenden Paaren von spezifischen Krankheitstendenzen verdeutlicht:23
Verkrampfung und »Ausfließen«
•Beeinträchtigung von Einschlafen und Aufwachen. Dahinter steht die Frage des Inkarniertseins, die Verbindung von Seele und Körper, konkret, im Sinne von Rudolf Steiners Menschenkunde, das beeinträchtigte Eingliedern der oberen in die unteren Wesensglieder.24 Eine Neigung zu Verkrampfung (Stau bzw. zu starkes In-sich-Sein) wird einem »Ausfließen« (d.h. zu großer Offenheit, zu starkem Außer-sich-Sein) gegenübergestellt. Steiner verwendet hierfür die Begriffe »epileptisch« auf der einen und »hysterisch« auf der anderen Seite. Dies bedeutet aber keine Begrenzung auf ein konkretes epileptisches Anfallsgeschehen bzw. auf hysterische Zustände, vielmehr sind übergreifende Seinszustände gemeint (siehe hierzu auch das Kapitel »Psychiatrische Aspekte der Epilepsie«, Seite 345 ff.).
Entwicklungsverzögerung und Zwangszustände
•Ein zweites polares Paar beschreibt den Umgang mit Vergessen und Erinnern. Hier wird Leiblich-Seelisches auf konkrete Stoffwechselprozesse bezogen, insbesondere auf das Gleichgewicht von Schwefel zu Eisen. Ein Ungleichgewicht in diesem Bereich kann Entwicklungsverzögerungen verursachen (beispielsweise eine Phenolketonurie bei einer schwefelbedingten Stoffwechselstörung) oder zu Zwangszuständen führen (bei einem Übergewicht der Eisenkomponente; siehe hierzu auch das Kapitel »Zwangsstörungen«, Seite 210 ff.).
gehemmte und ruhelose Bewegung
•Ein drittes sich polar gegenüberstehendes Paar bezieht sich auf den Bewegungstypus: Schwere, gehemmte, verlangsamte Bewegung wird in einen Zusammenhang mit der Sinnesbefähigung gebracht; dem gegenüber steht ein überbewegliches und ruheloses Bewegungsbild, das Menschen kennzeichnet, die schwer nur bei einem Eindruck verweilen können.
Im Kontext des Heilpädagogischen Kurses benennt Rudolf Steiner diesen Zustand des ruhelosen Bewegungsdrangs als »maniakalisch«, angelehnt an den Begriff der »Manie«.25
leibliche Konstitution und seelische Bedingtheit
Hintergrund dieser polaren Bilder ist die sich gegenseitig bedingende Verbindung von leiblicher Konstitution und seelischer Bedingtheit. Die jeweiligen Zustände werden dabei vom Gesichtspunkt des Ungleichgewichts her beschrieben. Das therapeutische Bemühen hat daher einen Ausgleich zum Ziel und setzt auf unterschiedlichen Ebenen an.
Zugänge zu den funktionellen Organtätigkeiten
seelische Fähigkeiten und Organtätigkeit
Eine anthroposophisch orientierte Psychiatrie stellt die seelischen Fähigkeiten – insbesondere die Bereiche des Denkens, der Emotionen sowie des Antriebs – stark unter den Aspekt der Leibes- bzw. Organtätigkeit. Rudolf Steiner formulierte dies einmal folgendermaßen: »Geisteswissenschaft braucht nicht davor zurückzuschrecken, […] zu zeigen, wie die sogenannte Geistes- oder Seelenkrankheit immer zusammenhängt mit irgendetwas im menschlichen Leibe.«26 Dieses »Irgendetwas« konkretisiert sich insbesondere in der differenzierten Beschreibung der funktionellen Tätigkeiten von Herz, Lunge, Leber und Niere.
seelenwirksamer Leib
Gemäß Rudolf Steiners medizinischer Menschenkunde kann eine seelische Erkrankung nicht alleine als Gehirnkrankheit gesehen werden. Vielfach wird hier der Begriff des »Spiegels« hinzugezogen: Der gesamte Leib wird als »seelenwirksam« gesehen – bewusst wird das Geschehen durch das Gehirnorgan. Eine anthroposophisch orientierte Psychiatrie sucht in Erscheinungsbild wie Therapie diese funktionellen Organprozesse auf, gemäß einer sogenannten »Psychologie der Organe« (siehe auch das Kapitel über Epilepsie, Seite 345 ff.).27
Zusammenfassung
gewissenhaft erstellte Diagnose
Ein Mensch mit Unterstützungsbedarf hat das Recht auf eine zutreffende und umfassend geprüfte Diagnose unter Beachtung der genannten Diagnoseschritte. Er hat das Recht, dass auf diese gewissenhaft erstellte Diagnose eine für ihn hilfreiche Therapie aufgebaut wird. Und er hat das Recht darauf, dass er nicht auf diese Diagnose reduziert wird, sondern dass gerade die hinreichende Einschätzung einer Symptomatik und die entsprechende therapeutische Behandlung eine Wesensbegegnung ermöglichen.
schicksalhafter Aspekt
Fragen wie: »Warum diese Erkrankung?«, »Warum diese Erkrankung jetzt?« und »Warum habe ich diese Erkrankung?« werden wesentlich, sie führen zum Wesen des anderen und können den schicksalhaften Aspekt einer Erkrankung zu erhellen versuchen. Auch wenn sie der Betreffende nicht selber stellen kann, wir als Begleiter können es für ihn tun.
So kann die Diagnosefindung vom ganz Konkreten ausgehen, dieses berücksichtigen und klären – und letztlich immer weiter und immer tiefer hin zur Persönlichkeit des anvertrauten Menschen führen.
Fähigkeiten und Ressourcen aufsuchen
Der tiefste diagnostische Blick auf einen Menschen wird der achtsame Blick sein: ein Blick, der sich nicht auf Defizite stützt, sondern Fähigkeiten und Ressourcen aufsucht, der sich auf das richtet, was im anderen werden will. Ein Blick, der ohne Kommentar, vor allem ohne jegliches Urteil ist. Ein Blick, der unverstellt sehen will, was ist. Ein aufmerksamer und liebevoller Blick birgt Erkenntniskraft in sich. »Liebevoll« meint hier: ein Blick, der einen Menschen nicht auf Gewordenes reduziert, sondern der offen ist für das Potenzial eines Menschen, für das, was er werden kann und will – und damit für das, was er eigentlich ist.28
Die folgenden Zitate mögen die Tiefe und das Spannungsfeld des hier Gemeinten verdeutlichen: »Der Grund der Liebe aber, in der das Unbedingte gegründet ist, ist eins mit dem Willen zur eigentlichen Wirklichkeit. Was ich liebe, von dem will ich, dass es sei. Und was eigentlich ist, das kann ich nicht erblicken, ohne es zu lieben.«29 (Karl Jaspers)
»Gerechtigkeit. Beständig zu der Annahme bereit sein, dass ein anderer etwas anderes ist als das, was man in ihm liest, wenn er zugegen ist […]. Oder vielmehr in ihm lesen, dass er gewiss etwas anderes, vielleicht etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm liest.«30 (Simone Weil)
wahrhaftiges Interesse
»Wo man einem anderen Menschen mit innerem Anteil, mit tiefem Verständnis, mit wahrhaftigem Interesse für sein innerstes Seelenleben, für sein ganzes Sichdarleben, entgegentritt, in dem Augenblick wird man […] im gewöhnlichen Leben hellsichtig. Es ist dem Menschen eben nur zugeteilt im gewöhnlichen Leben, in diesem einen Falle hellsichtig zu werden; für die anderen Fälle hat er sich erst auf methodische Weise, auf mühsame Weise die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen.«31 (Rudolf Steiner)
Dies ist ein herausforderndes Wort – es soll keine Überheblichkeit hervorrufen, eher Bescheidenheit. Aber auch ein Vertrauen auf ein eigenes Empfinden, und es knüpft an dem Begriff der Intuition an, der im Heilpädagogischen Kurs entwickelt wird.
Angst
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Friedrich Hölderlin
unterschiedliche Erscheinungsformen
Das Phänomen der Angst umfasst sehr unterschiedliche Aspekte und Erscheinungsformen und begleitet die Menschheit und den einzelnen Menschen immer und überall. Angst weist ein weites Spektrum auf: Sie kann hilfreich sein, indem wir durch sie auf Gefahren aufmerksam werden, aber sie kann auch ein Leben schwer überschatten.
Seelische Erkrankungen sind ohne Angst nicht zu denken. Angst kann sowohl Hintergrund wie Folge einer seelischen Erkrankung sein. Aus diesem Grund leitet sie die Darstellung seelischer Erkrankungen ein.
Gegenkräfte der Angst
An den Anfang dieses Kapitels möchte ich ein Zitat des Psychoanalytikers Fritz Riemann stellen, in dem er den Bogen von der Bedeutung der Angst für die persönliche Entwicklung jedes einzelnen Menschen über die menschheitsgeschichtliche Dimension hin zur Angst als Erkrankung spannt: »Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeit und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen […].
Wenn wir Angst einmal »ohne Angst« betrachten, bekommen wir den Eindruck, dass sie einen Doppelaspekt hat: Einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und lässt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.
Begleiter von Reifungsschritten
Neues, Unbekanntes macht Angst
Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, erstmals zu Tuende oder zu Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewusstsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, Erwachsenwerden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll.«32