Kitabı oku: «Wunder und Wunderbares», sayfa 6
2.1 Meine Kindheit in Ostpreußen
Unbeschwert in Raineck
Ich wurde am 22. Februar 1937 in Raineck2 (Kr. Ebenrode; russ. Nesterow) im nördlichen Ostpreußen geboren. Das Dorf hatte 133 Einwohner (Stand: 7. Mai 1939)3 und war nur 15 Kilometer von der litauischen Grenze entfernt.
Meine Mutter Emma Gitt als Konfirmandin, 1917.
Eine Wiege habe ich nie besessen, dafür lag ich im Sommer in einem Wäschekorb unter den Bäumen des Gartens, der das etwa 100 Jahre alte Fachwerkhaus umgab. Ich verbrachte eine schöne und unbeschwerte Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof. Soweit ich mich erinnern kann, waren heiße Sommer und kalte Winter mit sehr viel Schnee damals das Normale. Wenn es einmal so heftig regnete, dass der Hof überflutet war, dann schwammen die meterlangen Futtertröge für die Enten und Gänse auf dem »Hofsee« und wurden von mir sogleich als Boot genutzt.
Oft strolchte ich auf der Wiese umher, die an das Haus grenzte und zu der auch ein Teich gehörte. Der Teich versorgte die Kühe mit dem notwendigen Trinkwasser, und die Enten schnäbelten im Wasser nach allerlei Essbarem. Tauchte ich im Sommer hier auf und ging dann in Richtung Hof, verließen alle Enten schlagartig den Teich und folgten mir im Entenmarsch. Sie hatten sich gemerkt, dass nun bald der Tisch für sie reich gedeckt werden würde, denn auf dem Hof angekommen, eilte ich zum Getreidespeicher, um mit reichlich Körnern zurückzukommen. So wurde ich zum Liebling der Enten.
Ganz anders beurteilten mich die Hühner. Manchmal öffnete ich die Tür des Hühnerstalls, nachdem das Federvieh sich bereits auf den Stangen zum Schlafen eingefunden hatte. Mein lauter Schrei »Husch, husch!« unterbrach die Ruhe, und alle Hühner flatterten wild im Stall umher. Was ich als Gaudi empfand, war für die Hühner weniger zum Lachen. So galt ich bei ihnen wahrscheinlich als der Hühnerschreck.
Im Winter gab es oft so viel Schnee, dass sich meterhohe Schneeberge auf dem Hof türmten, die durch Schneeverwehungen zustande kamen. Zwischen der Scheune und den beiden Ställen konnte der Wind vom verschneiten Feld ständig neuen Schnee herbeischaffen. Statt Lederschuhen trug ich ausschließlich »Klompe«, also Holzschuhe, die mein Vater selbst in der gut ausgestatteten Werkstatt anfertigte. Mit diesem Schuhwerk bekam man keine kalten Füße, und wenn der Schnee schon »pappte«, bildeten sich manchmal zehn Zentimeter hohe oder noch höhere Schneebatzen, die am Holz klebten.
Die liebevolle Art meiner Mutter rührt mich noch heute in meiner Erinnerung. Überall, wo sie etwas auf dem Bauernhof verrichtete, durfte ich dabei sein. Sie hatte ein Herz für alle. Immer wieder kamen Bettler und Landstreicher zu uns. Niemand verließ unseren Hof, ohne reichlich mit Essen versorgt worden zu sein. Meine Mutter ließ die Landstreicher manchmal sogar übernachten.
Bauernhof Gitt in Raineck. Im Vordergrund steht mein Vater auf dem Feld. Rechts: Stall mit davor stehender Baumreihe. Links: Hinter den hohen Birken befindet sich das von hier aus nicht sichtbare Wohnhaus, 1943.
Wenn Vater vom Feld kam und im Wohnzimmer seinen Stammplatz einnahm, eilte ich auf seinen Schoß, und er erzählte mir allerlei Geschichten. Er hatte immer Zeit für mich.
Vater war mit großer Freude Bauer. Er erzählte später oft, wie er jene Felder, die an der Straße lagen, besonders gut düngte, um Vorübergehende in Staunen zu versetzen. Rüben an der Straße hatten oft Übergröße und wären heutzutage weltrekordverdächtig, denn sie standen wie die »Thomasmehlsäcke«. Mein Vater verglich gern seine Rüben mit den 50 kg schweren Säcken für Düngemittel.
Er war sehr fortschrittlich und hatte oft als Erster im Dorf eine neue landwirtschaftliche Maschine, die gerade auf den Markt gekommen war. Im Gegensatz dazu war mein Großvater, was Neukäufe anbetraf, sehr zurückhaltend. Da alle im selben Haus miteinander wohnten, gab es vor jeder größeren Anschaffung heftige Diskussionen.
Während sich die heutigen Bauern aus wirtschaftlichen Gründen entweder auf Viehzucht oder auf Getreideanbau spezialisieren, gab es damals auf einem Bauernhof von allem etwas. Wir hatten Pferde, Kühe, Schweine, Schafe und eine Vielfalt an Federvieh: Puten, Gänse, Enten und Hühner. Angebaut wurden verschiedene Getreidesorten und Hackfrüchte. Auch der Mohn für den berühmten ostpreußischen Mohnkuchen durfte nicht fehlen. Die Kühe wurden selbstverständlich noch von Hand gemolken. Wenn das Vieh versorgt war, ging es von frühmorgens bis abends aufs Feld. Da kam im Sommer keine Langeweile auf. Im Winter sah das schon anders aus. Da galt es nur die Tiere zu versorgen und die Geräte auszubessern, so dass wir viel Zeit hatten, um abends zusammen am Kachelofen zu sitzen.
Lageplan des Dorfes Raineck, vor 1945.
Bei uns auf dem Land wurde ausschließlich Platt gesprochen, und so konnte ich kein einziges Wort Hochdeutsch4, als ich im Sommer 1943 eingeschult wurde. Die Rainecker Dorfschule hatte, wie es damals auf dem Lande so üblich war, nur ein einziges Klassenzimmer, in dem die Schüler aller acht Klassen gleichzeitig unterrichtet wurden. Die erste Klasse saß auf den ersten beiden Bänken des linken Blocks. Die achte Klasse saß in der letzten Reihe des rechten Blocks, dazwischen saßen nach Jahrgängen geordnet die anderen Klassen. Der Lehrer konnte natürlich immer nur zu den Schülern einer Klasse sprechen – es sei denn, er sagte zum Beispiel: »Nun die Klassen drei bis sechs hinhören.« Die anderen lasen, rechneten, schwatzten oder schauten einfach nur in die Luft. Lehrer Brehm unterrichtete zwar auf Hochdeutsch, aber er akzeptierte es, dass ich alles auf Platt sagte. Wie die anderen mit mir eingeschulten Kinder sprachen, daran kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern.
Als ich eingeschult wurde, hatte mein acht Jahre älterer Bruder Fritz (* 29. Oktober 1929) bereits die Rainecker »Bildungsstätte« durchlaufen und arbeitete als angehender Bauer auf dem Hof.
Unser Lehrer war offenbar schon damals seiner Zeit weit voraus und verfügte über feinste pädagogische Sensibilität. Da ich bezüglich Musik weder eine »Resonanzstelle« hatte noch eine natürliche Begabung mitbrachte, vermied es unser Dorfpädagoge, mich auch nur zum Lernen der Liedstrophen zu animieren, um meine »musikalische Entwicklung« nicht etwa zu gefährden. So kam es, dass ich bei dem gemeinsamen Gesang in der Klasse meine eigene Melodie erfand und in Unkenntnis des Liedtextes ein neues Libretto kreierte. Die gleiche individuelle Art legte ich an den Tag, wenn es bestimmte Kräuter zu sammeln galt. Ich pflückte irgendetwas, von dem ich meinte, das könnte wohl das verlangte Kraut sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Sammlung jemals nicht akzeptiert wurde.
Außer über uns Schüler verfügte unser Lehrer über ein wenig Land und eine Kuh. Sicher wollte er nur das Beste für uns, wenn er uns zur Verrichtung kleinerer Aufgaben auf seinem Grundstück heranzog. Schließlich besteht das Leben nicht nur aus Theorie, sondern auch aus der Praxis. Zur Zeit der Erdbeerreife engagierte er uns zum Pflücken. Während er anderen Dingen nachging, taten sich seine Erntehelfer gütlich an den wohlschmeckenden Früchten. Hatte er seine eigene Jugendzeit vergessen oder unseren ungebremsten Appetit falsch eingeschätzt? Seine Dankesworte jedenfalls fielen recht harsch aus, als er sich die kärgliche Ernte ansah.
Obwohl sich Deutschland zur Zeit meiner Einschulung bereits im vierten Kriegsjahr befand, lebten wir nach meinem Empfinden in Ostpreußen immer noch wie im tiefsten Frieden. Etwas Neues war jedoch hinzugekommen: In der Schule wurde ständig irgendeine Sammlung durchgeführt. Waren es einmal nicht die Kräuter, dann waren es Lumpen oder auch Tierknochen. Ich staunte, was man so alles noch verwerten konnte. Eines Tages, ich ging noch nicht zur Schule, wurden in meines Bruders Klasse und wohl auch in anderen Klassen Knochen gesammelt. Mutter hatte ihm ein Päckchen zusammengestellt, das er aber vergessen hatte mitzunehmen. So beauftragte sie mich, dieses zur Schule zu bringen. Ich machte mich auf den Weg, öffnete die Tür des Klassenzimmers, ging direkt auf den Tisch des Lehrers zu und legte die Knochen dort ab. Dies tat ich – natürlich auf Platt – mit den Worten: »Eck bring dem Fretz sine Knoakes.« (Ich bringe die Knochen von Fritz). Ich verstand nicht, warum die ganze Klasse in fröhliches Gelächter ausbrach.
Im Frühjahr und Frühsommer war die Zeit der Verwandtenbesuche. Mit Pferd und Wagen konnte man zu den meisten Verwandten an einem Tag hin- und zurückfahren – so kurz waren die Entfernungen. Der Höhepunkt des Zusammentreffens bestand jeweils in einer guten und reichhaltigen Mittagsmahlzeit, zu der traditionsgemäß mehrere deftige Bratensorten gehörten. Ja, essen konnte man gut in Ostpreußen! Nach dem Nachtisch gab es ein paar zünftige Schnäpse, die dem Magen wieder auf die Beine halfen. Derart gestärkt besichtigten der Besuch und meine Eltern die Felder und rühmten den Stand des Korns. Nun kam meine Stunde: Ich ging von Platz zu Platz und leerte aus jedem Glas auch noch den letzten Tropfen! Wer weiß, ob ich dadurch ins Torkeln kam oder mich in ostpreußischer Standfestigkeit übte?
Bis zu dieser Zeit erlebte ich eine schöne und unbeschwerte Kindheit in ländlich-bäuerlichem Umfeld. Aber bald sollte sich vieles ändern.
Die jungen Bauern waren bereits zum Krieg eingezogen, so dass auf den meisten Höfen nur noch Frauen und alte Männer wirtschafteten. Da mein Vater handwerklich sehr geschickt war und es allgemein bekannt war, dass er Reparaturen an Landmaschinen, Elektroanlagen, Pumpen usw. ausführen konnte, wurde er zum Ortsbauernführer gewählt und darum uk gestellt. Mit diesem »unabkömmlich« war er vom Wehrdienst befreit mit der Auflage, auch bei den anderen Bauern die Hilfe zu leisten, die den Fortbestand der Landwirtschaft sicherte.
In jener Zeit war es gefährlich, sich kritisch zum Naziregime zu äußern, was mein Vater nicht immer beachtete. Eines Tages wurde er von dem Knecht eines Nachbarn angezeigt mit den Worten: »Der Gitt ist politisch nicht zuverlässig.« Bald darauf erschien ein Beauftragter der Partei zur Überprüfung. Als er auf den Hof kam, begrüßte er meinen Vater mit einem lautstarken »Heil Hitler!« Darauf mein Vater: »Ich bin nicht der Hitler!« – »Da haben wir es ja schon«, stellte der Parteibeauftragte sofort fest. Schon wenige Tage danach wurde die uk-Stellung aufgehoben und der Gestellungsbefehl zur Wehrmacht folgte. Mein Vater kam zu einer kurzen Ausbildung nach Preußisch-Holland in Ostpreußen und wurde danach als Soldat nach Frankreich beordert und an der Atlantikküste bei St. Nazaire zur Küstenbewachung eingesetzt. Nachträglich kann man nur sagen, dass es eine gute Fügung war. In St. Nazaire gab es während des ganzen Krieges keinerlei kriegerische Handlungen, so dass er dort nicht einen einzigen Schuss abgeben musste. Wäre er in Ostpreußen geblieben, hätte er unausweichlich zum Volkssturm gehen müssen, und diese Männer sind fast ausnahmslos gefallen, wie auch mein Onkel Franz, der Mann meiner Tante Lina.
Flucht vor der Roten Armee
Im Oktober 1944 rückte die Rote Armee bis an die ostpreußische Grenze vor.5 So mussten auch wir die Flucht ergreifen. Ich war damals sieben Jahre alt und gerade in die zweite Klasse der Dorfschule gekommen. Im Gegensatz zu den anderen Bauern des Dorfes, die gemeinsam mit Pferd und Wagen flüchteten, entschied meine Mutter, zunächst nach Altlinden (12 km westlich von Gumbinnen) aufzubrechen, wo ihre Halbschwester Lina auch einen Bauernhof besaß. Mein bei uns lebender Großvater mütterlicherseits (Friedrich Girod)6 baute einen Erntewagen zum Fluchtwagen um; die leinenen Transportbänder des Selbstbinders (Vorläufer der heutigen Mähdrescher) gestaltete er zu einem Spitzdach. Ich empfand den Aufbruch mit Pferd und Wagen als etwas Abenteuerliches und erkannte keineswegs den Ernst der Lage. Wir fünf – Mutter, Großvater, Bruder Fritz, die Hausangestellte Meta und ich – wohnten dann einige Wochen in Altlinden, bis wir gemeinsam mit den Altlindener Verwandten7 am 20. Oktober mit drei Fuhrwerken erneut aufbrachen. Nach zwei oder drei8 Tagen erreichten wir Gerdauen und warteten dort etwa zehn Tage, in der Hoffnung, es gehe bald wieder zurück. Weil die Rote Armee weiter vorrückte, mussten wir jedoch die Flucht nach Südostpreußen fortsetzen. Anfang November erreichten wir das etwa 180 Kilometer9 entfernte Peterswalde und wurden alle zusammen im Haus der allein stehenden Lehrerin Troyka einquartiert. Dieses 688-Einwohner-Dorf10 liegt 18 Kilometer südlich von Osterode. Hier blieben wir, und ich ging auch wieder zur Schule (mit Frau Troyka als Klassenlehrerin). Aber eigentlich warteten wir nur darauf, dass es wieder nach Hause zurückging. Ich kann mich noch recht gut an das Weihnachtsfest 1944 erinnern. Wir hatten einen Weihnachtsbaum, und es gab reichlich Gänseschenkel zu essen, die aus dem Vorrat von Tante Lina stammten. Die in Weckgläsern eingemachten Fleischvorräte gehörten unbedingt zum Fluchtgepäck. Als bei dem eiligen Aufbruch von Altlinden versehentlich die Gänseschenkel im Rauchfang vergessen wurden, kehrte Rena vom Nachbardorf aus um, um den wichtigen Proviant noch herbeizuschaffen.
Damals war es üblich, dass ein älterer Mann die amtlichen Bekanntmachungen im Dorf ausrief. Mit dem Fahrrad fuhr er jeweils einige Häuser weiter, blieb dann stehen, klingelte mit seiner nicht zu überhörenden Handglocke – daraufhin öffneten die Bewohner die Fenster – und dann rief er sein monotones lang gestrecktes »Amt – li – che Be – kannt – ma – chung!« Von einem Papier verlas er dann das, was den Dorfbewohnern mitzuteilen war. Es war am 22. Januar 194511, das Thermometer war auf etwa 25 bis 30 Grad unter Null gefallen, und diesmal war alles anders. Ungewohnt war seine Eile. Auch seine Meldung war so knapp wie nie zuvor: »Die Russen kommen, rette sich, wer kann!« Nun war die Aufregung groß. Schnell wurden die wenigen Habseligkeiten auf zwei Wagen geladen, die Pferde angespannt, und los ging es in Richtung Deutsch-Eylau nach Westen. Da ich gerade zu der Zeit hohes Fieber hatte, wurde ich einschließlich Federbett auf dem Fuhrwerk verstaut. Ein Wagen wurde von meiner Mutter gelenkt, der andere von meiner Tante. Onkel Franz war Anfang Dezember 1944 zum Volkssturm eingezogen worden und ist, wie fast alle Männer, gefallen.
Wegen der bald verstopften Straßen kamen wir nur sehr langsam voran. Konnten wir die erste Nacht noch in irgendeinem Saal eines Dorfes übernachten, mussten wir an den Folgetagen bei eisiger Kälte die Nächte auf dem nach beiden Seiten offenen Planwagen verbringen. Tante Marie hatte sich in diesen Tagen einen Finger erfroren, der nach etlicher Zeit schwarz wurde und dann schmerzlos von der Hand abfiel.
Ab und zu fielen Granatsplitter auf die Abdeckung unseres Fluchtwagens, die zweifellos tödlich sein konnten. Aber niemand von uns wurde dadurch verletzt. Vor einem etwas größeren Ort wurde der Treck von der Roten Armee gestoppt. Russen gingen von Wagen zu Wagen. Mein Bruder Fritz, damals 15 Jahre alt, wurde heruntergeholt. Was würde mit ihm geschehen? Tiefe Angst befiel uns. Wir waren über Nacht zu Rechtlosen geworden, mit denen man machen konnte, was man wollte. Meine Mutter ging nach einiger Zeit zur russischen Kommandantur, um ihn abzuholen. Man sagte ihr, er komme morgen wieder. Es stimmte nicht – er kam nie wieder. Vielleicht haben sie ihn erschossen, weil sie ihm unterstellten, er sei in der Hitlerjugend gewesen.
Von einem unserer beiden Fuhrwerke wurden uns die Pferde weggenommen. Daher ging es mit nur einem Wagen nach Peterswalde zurück, wo wir am 24. (oder 25.) Januar 1945 wieder eintrafen.12 Wir bezogen das Nachbarhaus von Frau Troyka, ein inzwischen leer stehendes Bauerngehöft. In diesem Dorf und auch schon bei der Fahrt dorthin erwartete uns ein Bild des Grauens und der Verwüstung: Tote Menschen und Pferde lagen am Straßenrand, Häuser waren abgebrannt. Es begann eine schreckliche Zeit, denn der sowjetische Diktator Stalin hatte den Soldaten erlaubt, sieben Tage lang alles zu tun, was sie nur wollten. So waren Raub, Plünderung und Vergewaltigung13 an der Tagesordnung. Am meisten gesucht wurden Uhren und Stiefel. Alle waren von großer Angst erfüllt, wenn ein Russe das Haus betrat.
Als eines Tages wieder ein Russe auftauchte, verlangte er mit wütender Stimme unsere Uhren. Längst besaßen wir keine mehr, und meine Tante sagte es ihm. Darauf reagierte der Russe mit erhobenem Gewehr: »Urr – oder ich schieße!« Ich staune noch heute, wie meine couragierte Tante darauf antwortete: »Dann schießen«. Nun war er überzeugt, dass hier nichts mehr zu holen war, und schoss nicht.
Erst im Februar trat eine gewisse Entspannung ein. Der Hauptteil der Armee war weiter nach Westen gezogen, und es gab jetzt erheblich weniger Russen als zur Zeit des Einmarsches. Eines Tages ging ein Russe durchs Dorf von Haus zu Haus und forderte alle Einwohner auf, zum Dorfplatz zu kommen. Man ahnte nichts Böses, und die meisten folgten der Aufforderung, weil man annahm, jetzt gäbe es etwas zu essen oder es würde angesagt, wie das Leben unter der Besatzung weitergehen wird. Es bildete sich schnell eine lange Schlange, in der sich auch meine Mutter, ihre Schwester Lina, Meta und ich befanden. Rena war schon einige Tage zuvor von russischen Offizieren abgeholt worden, damit sie in deren Quartier für sie kochte. Die vorbeiziehende Schlange bewegte sich auch an diesem Haus vorbei. Plötzlich entdeckten wir Rena mit einem Russen auf der Treppe des Hauses. Renas Mutter, also meine Tante Lina, wurde aus der Schlange herausgeholt und schnell in das Haus gebracht. Renas Bitte an den Russen, auch meine Mutter aus der von bewaffneten Russen bewachten Menschenmenge herauszuholen, wurde abgelehnt mit den Worten: »Eine ist genug!« Nun war klar: Das ganze Vorhaben hatte nichts Gutes zu bedeuten.
Auf dem Dorfplatz angekommen, wurden noch arbeitsfähige Frauen aussortiert. Wir Kinder wurden gewaltsam von unseren Müttern getrennt, auch wenn wir uns noch so fest an sie klammerten. Wie schrecklich war es, als man uns Kindern die Mutter wegnahm. Wir ahnten nicht, dass dies der Tag sein sollte, an dem wir unsere Mütter zum allerletzten Mal sahen. Wenn etwa zehn Kinder beisammen waren, ordnete man willkürlich eine Frau den Kindern zu mit den Worten: »Du Mutter für alle!« Leider wurde meine Mutter nicht einer der Kindergruppen zugeordnet. Mit anderen Frauen, die als arbeitsfähig angesehen wurden, darunter auch Meta, trieb man sie nun zu Fuß in Richtung des nächsten Dorfes. So etwas Schreckliches hatte ich bisher noch nicht erlebt. Man hatte mir in herzloser Weise die Mutter genommen. Was sollte nun werden? Nachdem die Kolonne sich schon weit entfernt hatte, rannte ich laut weinend die Dorfstraße entlang zu meiner Tante.
Obwohl die ganze Aktion gewaltsam geschehen war, hatten wir uns immer noch einen Schimmer an Hoffnung bewahrt. Wir fragten uns, ob die Frauen nur zu einem kurzfristigen Arbeitseinsatz abgeholt worden waren. Täglich schauten wir aus dem Fenster in Richtung Dorfstraße und erwarteten die Rückkehr meiner Mutter.14 Erst nach Wochen schwand diese Hoffnung mehr und mehr, bis sie schließlich endgültig starb. Niemand kam mehr zurück, und so wurde uns klar: Es handelte sich um eine Verschleppung ins entfernte Russland. Erst nach Jahren erfuhren wir von einer Augenzeugin, dass meine Mutter schon im April 1945 in der Ukraine gestorben ist. Sie starb in den Armen dieser Zeugin mit den Worten: »Was wird nur aus meinem kleinen Werner werden?«
Den Sommer 1945 verbrachten wir – meine Tanten Lina und Marie, mein Großvater und ich – immer noch in dem Nachbarhaus von Frau Troyka. Rena war im März von Russen zu dem etwa sechs Kilometer entfernten Gutshof Schmückwalde gebracht worden, der schon zur Kolchose umfunktioniert worden war. Dort musste sie schwere Arbeit in der Mühle verrichten. Mein Großvater baute im Sommer einen zweirädrigen Handwagen mit einer Ladefläche von etwa 2 × 2 Metern. Er hatte die Idee, zu Fuß nach Raineck zurückzugehen (Luftlinie = 160 km). Dazu ist es nie gekommen. Vielmehr wurde der Wagen für einen sehr traurigen Zweck benutzt: Durch das Dorf fuhren regelmäßig vier russische Lkw, die von uns sehr argwöhnisch beobachtet wurden. Als eines Tages ein Vater mit seiner erwachsenen Tochter Kartoffeln aus der Miete (= Kartoffelvorrat, der mit Stroh und Erde abgedeckt war) holen wollten, kamen gerade diese Autos vorbei. Erschrocken rannten die beiden über das freie Feld. Das war ihr Verderben, denn wer weglief, galt als Partisan. Die Wagen stoppten, und ein russischer Fahrer erschoss die Flüchtenden. Opas Wagen wurde nun zum Abtransport der Leichen benutzt. Auffällig war für uns, dass in der Folgezeit nur noch drei Lkw durchs Dorf fuhren.
Ohne es zu ahnen, befand ich mich etwas später mit einem anderen Jungen in ähnlicher Todesgefahr. Wir spielten auf der Dorfstraße. Plötzlich entdeckten wir, wie hinter der Straßenbiegung ein russischer Reiter herannahte. Voller Angst liefen wir, so schnell wir nur konnten, weg, zuerst in Richtung »unseres« Hofes, bogen dann aber doch zum Nachbargehöft ab, krochen mit Mühe unter einen Bretterzaun hindurch und erreichten dann den Friedhof. Hier versteckten wir uns zwischen Gräbern und Büschen und harrten so lange aus, bis uns die Gefahr vorüber schien. Als ich nach Hause kam, berichtete meine Tante, dass der Reiter wütend in das Haus gekommen sei und intensiv nach uns gesucht habe. Hätte er uns gefunden, wären wir als verdächtigte Partisanen wahrscheinlich auch sofort erschossen worden. Ich ahnte nicht, in welcher Todesgefahr ich geschwebt hatte.
Eines anderen Tages blieb ein Lkw vor dem Haus von Frau Troyka stehen, und der Russe eilte in ihr Haus, um nach dem Weg zu fragen. Sie glaubte, er wollte sie vergewaltigen, und schluckte sofort ihre stets griffbereit liegenden Gifttabletten. Da sie nicht sofort starb, versuchte meine Tante sie durch Verabreichung von Brechmitteln zu retten. Sie lehnte jedoch jede Hilfe ab, denn in dieser wirren und hoffnungslosen Zeit wollte sie nicht weiterleben.
In jener Zeit lebten wir von dem, was noch auf dem Hof vorhanden war: Getreide und Kartoffeln. Zum Glück gab es auch Brennmaterial. Da wir jedoch keine Streichhölzer hatten, musste ständig das Feuer erhalten werden. Zu Beginn der Nacht legte man ein Brikett in den Ofen, bis es glühte, tat Asche darauf und entfachte die Glut am anderen Morgen zu neuem Feuer.
Im Laufe des Sommers bekamen wir zusätzliche Mitbewohner auf »unserem« Hof. Eine polnische Frau mit ihren fünf Kindern zog bei uns ein. Sie sprach gut Deutsch, und ich habe sie als freundliche Person in Erinnerung. Auch sie waren Vertriebene, denn sie kamen aus jenem östlichen Teil Polens, der an die Sowjetunion abgetreten worden war. Der südliche Teil Ostpreußens war durch die damit einhergehende Westverschiebung Polens den Polen zugewiesen worden.15