Kitabı oku: «Wunder und Wunderbares», sayfa 7
Vertreibung
Im Oktober 1945 begann die Vertreibung der Deutschen durch die Polen. Am 29. Oktober 1945 wurden wir mit einem Fuhrwerk nach Osterode in die Nähe des Bahnhofs gebracht. Mit uns trafen noch viele andere Deutsche dort ein. Auf dem Hof vor einem Getreidespeicher verbrachten wir die Nacht im Freien auf dem Kopfsteinpflaster. Am anderen Morgen starb dort mein Großvater, den wir, ohne ihn beerdigen zu können, liegen lassen mussten, denn der Zug, der ausschließlich aus Viehwaggons bestand, stand schon zu unserem Abtransport nach Westen bereit. Von Raineck waren wir im Oktober 1944 mit fünf Personen aufgebrochen. Opa war nun schon der Vierte, der nicht überlebte. War ich nun der Nächste?
Was wir mitnehmen durften, war streng reglementiert: nur das, was wir am Leib tragen konnten. So hatte jeder ein Mehrfaches an Unterwäsche und womöglich zwei Hemden an. Unser Handgepäck für vier Personen bestand aus einem Marmeladeneimer, der nur die letzten Habseligkeiten enthielt (z. B. Messer, Gabeln).
In einer zehntägigen strapaziösen Tour erreichten wir nach häufigen und oft langen Stopps das stark zerstörte Berlin. Diese Bahnfahrt ist mir noch in schrecklicher Erinnerung. Manche älteren Menschen starben während dieser Tortur in der Kälte und ohne Versorgung. Dann öffnete man die Waggontür und warf die Leichen ins Freie. Schlimm waren auch die Überfälle, wenn herumstreunende Polen uns noch berauben wollten, obwohl es doch schon lange nichts mehr zu holen gab. Von Berlin aus ging die Fahrt über Rostock in das 16 Kilometer östlich davon gelegene Sanitz, wo wir bei einer Familie einquartiert wurden.
Bei einem längeren Stopp entfernten sich die Frauen oft kilometerweit von dem Zug, um auf den Feldern nach Essbarem (z. B. Steckrüben) zu suchen, denn wir wurden weder mit Essen noch mit Trinken versorgt. Unvergesslich ist mir folgende dramatische Situation: Einige Frauen hatten sich so weit vom Zug entfernt, dass man sie nicht mehr sehen konnte. Plötzlich setzte sich der Zug ohne jegliche Vorwarnung in Bewegung. Die Frauen kamen nicht rechtzeitig zurück. Nun war die Not für die Angehörigen im Viehwaggon groß. Würden sie ihre Zurückgebliebenen jemals wiedersehen? Was könnte man tun? Mir ist in Erinnerung, dass das Vaterunser gebetet wurde. Wir waren bereits etliche Tage in Sanitz, da hörten wir, dass die Vermissten mit einem späteren Zug mitgenommen wurden. Gott sei’s gedankt!
Unfreiwillige Endstation Föhr
In Sanitz erfuhren wir auch, dass mein Cousin Waldemar (* 25. März 1925), der als Soldat verwundet worden war, nach seinem Lazarettaufenthalt in Bark, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bad Segeberg (Schleswig-Holstein), bei einem Bauern untergekommen war. Das war wieder einmal eine gute Nachricht. Im Rahmen der Familienzusammenführung bot sich nun die Chance, die russische Zone zu verlassen. Bald schon wurde ein Zug bereitgestellt, der außer uns noch viele Familien westwärts befördern sollte. Es war zwar nicht Bad Segeberg, das wir erreichten, vielmehr befanden wir uns letztendlich an der Nordseeküste. In der Nähe von Lübeck gab es einen Zwischenstopp. Alle mussten den Zug verlassen und sich in den halbrunden Wellblechbaracken, den so genannten Nissenhütten, einer gründlichen Entlausung unterziehen. Dick eingestaubt mit dem weißen Pulver durften wir den Zug wieder besteigen, der nun Richtung Niebüll dampfte. Wo immer auch dieser für uns unbekannte Ort liegen mochte! Dort angekommen hieß es: »Alle in die Kleinbahn umsteigen!« War das eine Aufregung! Ohne zu wissen, wo es nun hinging, befolgten alle den Umsteigebefehl. Nach kurzer Zeit war Dagebüll erreicht. Das war aber immer noch nicht das Ziel, denn nun lautete der Befehl: »Alle aussteigen, gleich geht’s mit dem Schiff weiter!« Und das mit uns Landratten! In aller Eile wurde auch dieser Befehl befolgt, denn keiner wollte irgendwo zurückbleiben. Als das Schiff schon von der Mole abgelegt hatte und sich auf der Nordsee in Richtung Insel Föhr bewegte, stellten wir fest, dass wir den Marmeladeneimer mit den letzten Habseligkeiten in der Kleinbahn vergessen hatten. Am 24. (oder 25.) Januar 1946 erreichten wir Wyk auf Föhr: Wir hatten nur das, was wir am Leib trugen, doch wir hatten immerhin unser Leben gerettet.
In Wyk wurden wir am Südstrand bei einem schon sehr alten Ehepaar einquartiert. Sie waren Eigentümer eines großen Kolonialwaren-Geschäfts in der Osterstraße. Außer uns waren hier schon andere Flüchtlingsfamilien untergebracht worden, so dass für uns nur noch eine kleine Abstellkammer unter dem Dach übrig blieb. Sie hatte kein Fenster, dafür aber eine kleine Luke. Das wenige einfallende Licht zeigte uns aber immerhin an, ob es Tag oder Nacht war. Die markanteste Erinnerung aus dieser Zeit war für mich der nicht enden wollende Hunger. Anfangs wurde für die Flüchtlinge im Kurhaus Suppe gekocht. Diese Bezeichnung war fast übertrieben, denn wir konnten von Glück reden, wenn wir in unserer Kelle ein Kartoffelstückchen erwischten, von Fett ganz zu schweigen. Meine Tante sagte manchmal lachend: »Zwei Augen schauen in die Suppe und eines schaut heraus.« Mit dem einen herausschauenden Auge war das kleine Fettauge in der Suppe gemeint. Nach dem langen Rückweg war die Suppe schon wieder vergessen, und der Magen meldete sich aufs Neue.
Werner Gitt als 9-Jähriger, 1946.
In Wyk begann für mich nach langer Zeit auch wieder der Schulunterricht. Zwecks Einstufung in die richtige Klasse musste ich einen Text lesen. Nach über einem Jahr »Zwangsferien« fiel dieser Test nicht gerade überzeugend aus, und so musste ich als Neunjähriger noch einmal mit den ABC-Schützen durchstarten. Diesen Rückschritt konnte ich später jedoch bequem wettmachen.
Seit Februar 1945 galt ich als Vollwaise. Meine Mutter war verschleppt worden; die letzte Nachricht von Vater lag bereits einige Jahre zurück. So wurde die Vermutung, dass Vater im Krieg umgekommen sei, immer stärker. Doch dann geschah etwas schier Unglaubliches. Meine Tante erhielt von einem entfernten Verwandten aus Bochum einen außergewöhnlichen Brief. Wie es dazu kam, sehe ich als ein Wunder an.
Nach Kriegsende kam mein Vater in französische Gefangenschaft, und er wusste nichts von dem Schicksal seiner Familie. Es wurde den Gefangenen gewährt, pro Monat einen Brief nach Deutschland zu schreiben. Dafür gab es einen formularartigen Papierbogen mit wenigen vorgegebenen Zeilen; der Inhalt wurde stets kontrolliert. Da nahezu alle unsere Verwandten in Ostpreußen wohnten, schrieb mein Vater immer wieder dorthin. Als er aber nie eine Antwort erhielt und auch nicht wusste, wo wir uns inzwischen befanden, stellte er das Schreiben ein. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, von niemandem etwas zu hören! Es gab für ihn zwei Vermutungen über den Verbleib seiner Familie: Entweder war sie in Ostpreußen durch die Rote Armee umgekommen, oder sie konnte noch rechtzeitig flüchten und befand sich irgendwo im Westen. Wo aber mochten seine Lieben sein, wenn das Letztere zutraf?
Eines Nachts hatte Vater im Lager einen Traum: Er traf darin einen weit entfernten Verwandten, der schon etliche Jahre vor dem Krieg im Rheinland wohnte. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen, und als sie sich nach ihrem Wiedersehen verabschiedeten, lud der Verwandte meinen Vater ein mit den Worten: »Hermann, besuch mich doch mal!« Mein Vater sagte im Traum zu und stellte noch die entscheidende Frage: »Aber wo wohnst du denn? Ich kenne doch deine Anschrift nicht.« Der Verwandte erklärte ihm deutlich: »Bochum, Dorstener Str. 134a.« Da wachte mein Vater auf, zündete in der Nacht ein Licht an und schrieb die soeben im Traum erfahrene Adresse auf. Den wach gewordenen Kameraden im Schlafsaal erzählte er die sonderbare Traumgeschichte. Sie verlachten ihn, weil er sie ernst nahm und sogar beteuerte, dass er gleich am folgenden Tag dorthin schreiben wollte. Welch eine Überraschung! Bald traf der Antwortbrief ein, der die geträumte Adresse als exakt richtig bestätigte. Über diesen entfernten Onkel kam der Kontakt zu meiner Tante Lina nach Wyk auf Föhr zustande. Nun erfuhr mein Vater Schreckliches: Fast die ganze Familie war umgekommen; nur der kleine Werner war übrig geblieben. Bei allem schwer zu Verarbeitenden war dennoch auch Freude dabei. Der Jüngste von allen lebte.
Die Nachricht, dass mein Vater am Leben war, machte mich überglücklich. Ich weiß heute noch, wie ich draußen vor Freude gehüpft bin. Ich konnte es zunächst gar nicht fassen, dass ich nicht mehr Waise war, sondern einen Vater hatte. Nach allem Elend eine Freudenbotschaft: Ich bin nicht der einzige Überlebende. Ich habe einen Vater, zu dem ich gehöre. Nun hatte mein Leben eine ungeahnte Wende erfahren. Es gab wieder eine Perspektive.
Als Vater im Frühjahr 1947 aus französischer Gefangenschaft entlassen wurde, lautete seine Zieladresse Gut Wensin (Kreis Bad Segeberg). Seinem älteren Bruder Fritz war es gelungen, mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis zu diesem Ort in Schleswig-Holstein zu flüchten. Kurz darauf kam er nach Föhr, um mich abzuholen. Offensichtlich wussten wir nicht seine Ankunftszeit, sonst wäre ich schon Stunden vorher am Schiffsanleger gewesen. Unvergesslich ist mir unsere erste Begegnung im Treppenhaus. Ich lief gerade »zufällig« nach oben, da sprach mich Vater an, ohne mich jedoch zu erkennen: »Sag mal, wohnt hier die Frau Riek?« Ich hatte ihn sofort wiedererkannt, ging aber gar nicht auf seine Frage ein, sondern fragte ihn auf Platt: »Papa, kennst mi nich?« So lange hatten wir uns nicht gesehen, dass er mich nicht wiedererkannte. Welch unbeschreibliche Freude, nach so langer Trennung von einem liebenden Vater umarmt zu werden.
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Während ich diesen Text sehr lange nach all diesen Ereignissen niederschreibe, wird mir so recht bewusst, dass ich oft in Todesgefahr gewesen bin – und Gott hat mich bewahrt und geschützt. Ich staune und danke meinem Herrn für alles Durchtragen und für das Geleit im Leben. Die dritte Strophe von »Lobe den Herren« bewegt mich immer wieder zutiefst, und ich kann sie von ganzem Herzen mitsingen:
Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet; in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.
Die Rückkehr meines Vaters war das größte Geschenk nach all den schrecklichen Kriegsereignissen. Er hat noch einmal geheiratet, so dass ich wieder ein familiäres Zuhause hatte. Meinem Vater und der mir ebenfalls sehr zugetanen Stiefmutter habe ich es zu verdanken, dass ich eine gute Ausbildung bekam. Den weiteren Verlauf meines Lebens habe ich in dem Buch »Fragen, die immer wieder gestellt werden«16 geschildert, so dass ich meinen Bericht hier an dieser Stelle beende.
Ein Sprung in das Jahr 1990
Eines Tages erhielt ich einen Anruf von einem mir bis dahin unbekannten Mann. Er erklärte mir, dass er in der Sowjetunion geboren sei und auch dort studiert habe. Er ist jedoch trotzdem Deutscher und beherrscht die russische Sprache in Wort und Schrift. Sein Anliegen: »Ich habe einige Bücher von Ihnen gelesen. Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie mit mir in die ehemalige Sowjetunion reisen und dort Vorträge halten? Ich würde die Übersetzung ins Russische übernehmen.« Ich erbat mir Bedenkzeit. In den folgenden Tagen kam mir immer wieder der Gedanke: Kann ich in ein Land reisen, mit deren Bewohnern ich so schreckliche Kindheitserlebnisse verbinde? Schließlich siegten die Gedanken Jesu, zu dem ich mich 1972 bekehrt hatte. Im Vaterunser lehrt er uns: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« (Mt 6,12). Jesus hatte auch geboten: »Liebt eure Feinde!« Wir haben in Ostpreußen die Russen als Feinde erlebt. Durch sie habe ich Mutter und Bruder verloren. Und nun kommt zur Vergebungsbereitschaft auch noch das Gebot der Feindesliebe. Welch eine Spannung in meinem Herzen. Im Missionsbefehl in Markus 16,15 schließt Jesus kein Volk der Erde aus, denn er sagt ausdrücklich: »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur!« Konnte ich zu diesem Ruf noch NEIN sagen?
Bei einem späteren Telefonat sagte ich zu. So ging die erste Reise nach Moskau, wo wir im Mai 1991 zehn Tage lang an verschiedenen Orten (z. B. Pädagogische Hochschule, Berufsschulen, Krankenhäuser, eine Fabrik und auch eine Kaserne) das Evangelium weitersagten. Gott schenkte viele offene Herzen für das Gesagte, und erstaunlich viele waren bereit, sich Jesus Christus in einer persönlichen Entscheidung hinzuwenden. Wer ist dieser Mann, mit dem Gott mich so zusammengebracht hat? Es ist Dr. Harry Tröster, der in seinem Alltag bis 2004 bei DaimlerChrysler in der Entwicklung tätig war. Inzwischen haben wir fast jährlich eine Missionsreise in den Osten unternommen. Unsere Wege führten uns weitere Male nach Moskau, aber auch je zweimal nach Kasachstan und Kirgisien, nach Weißrussland, mehrmals in das (heute russische) nördliche Ostpreußen und auch nach Polen. Wir haben bei allen Reisen viele liebenswerte Menschen kennen gelernt. Über all dieses gerade in der ehemaligen Sowjetunion Erlebte zu schreiben, würde mehrere Bücher füllen. Heute sehe ich all jene Dienste, die wir im Osten tun durften, als eine segensreiche Führung Gottes an. Die folgenden 14 Berichte sollen ein Zeugnis von dem gnädigen Handeln Gottes ablegen.
Sprung in das Jahr 2005
Im Mai 2005 waren wir zu einer Vortragsreise in Polen17, die auf Einladung von Zbyszek Kołak (Osterode) zustande kam. Er hatte eine Tour zusammengestellt, die uns nach Posen, Elbing, Osterode, Danzig und Marienburg führte. Ich hatte den Wunsch geäußert, Peterswalde (poln. Pietrzwałd) noch einmal zu sehen, denn von unserem Hotel in Osterode (poln. Ostroda) aus waren es bis dahin nur etwa 20 Kilometer. Ich nenne dieses Dorf den traurigsten Ort meines Lebens (siehe Seiten 64 bis 69). Es sind die schlimmsten Kindheitserinnerungen, die ich mit diesem Ort im früheren Südostpreußen verbinde: Einmarsch der Roten Armee, Verschleppung meiner Mutter, Vertreibung mit völlig unbekanntem Ziel. Nie zuvor wusste ich, was Krieg bedeutet. 1945 wurde ich an diesem Ort Augenzeuge aus allernächster Nähe, welche Brutalität und Grausamkeit ein Krieg entfesselt.
Bauernhof in Peterswalde, auf dem wir bis zur Vertreibung wohnten; links Wohnhaus, rechts Stall (Mai 2005).
Am Sonntag, den 22. Mai 2005, hielt ich die Predigt in der Baptistengemeinde Osterode. Am Nachmittag machten wir uns mit Henryk Machs Auto auf den Weg nach Peterswalde. Würde ich wohl etwas wieder erkennen? Sechzig Jahre sind wahrlich eine lange Zeit! Wir fuhren zunächst die einzige Dorfstraße entlang, um einen Überblick zu erhalten. Auf dem Rückweg fiel mir sofort ein alter Bauernhof auf. Das aus roten Ziegeln erbaute Wohnhaus an der Straße konnte ich mühelos als jenes Haus identifizieren, in dem wir bis zur Vertreibung wohnten. Als ich damit begann, das Gehöft von allen Seiten zu fotografieren, kam auch sogleich ein älterer Mann18 aus dem Haus, um zu sehen, warum gerade seine Wohnstätte auf solch ein besonderes Interesse stieß. Mit Henryk Mach als Dolmetscher konnten wir alles sehr schnell aufklären. Ich erzählte ihm, dass wir bis Oktober 1945 in diesem Haus gewohnt haben und dass im Sommer 1945 eine Polin mit mehreren Kindern aus Ostpolen hier einzog. Diese Kinder waren damals meine Spielgefährten, von denen ich als Kind auch sehr schnell so viel Polnisch lernte, dass wir miteinander spielen konnten. Nun erzählte er weiter: »Es waren drei Söhne und zwei Töchter, von denen ich eine geheiratet habe. Wir hatten eine gute Ehe, aber leider ist meine Frau vor drei Jahren ›300 Meter weitergezogen‹ (und damit meinte er den nahe gelegenen Friedhof).« Ich fragte nach seiner Schwiegermutter, die ich als eine sehr korpulente Frau in Erinnerung habe. »O ja«, stimmte er zu und deutete mit abgespreizten Armen auf ihren Umfang: »taka maszyna« (gesprochen: tacka maschinna) – und meinte damit, sie war »so eine Maschine«. Nun gab es nicht mehr den geringsten Zweifel: Ich hatte das richtige Haus gefunden. Er wohnt hier ganz alleine auf diesem Bauernhof, den er aus Altersgründen nicht mehr bewirtschaftet. Als wir uns von diesem freundlichen Mann verabschiedeten, gaben wir ihm drei christliche Bücher in Polnisch.
Vor dem Wohnhaus von Henryk Wozniak in Peterswalde. Von links nach rechts: Übersetzer Henryk Mach, Gunda Perteck, Henryk Wozniak, Werner und Marion Gitt (Mai 2005).
Den Dorfplatz, von dem damals die Verschleppung aller arbeitsfähigen Frauen durch die Russen ausging, gibt es nicht mehr, weil inzwischen Häuser darauf errichtet wurden. Hingegen existierte jener Weg, auf dem damals der Abmarsch begann, auch heute noch, denn er führt in das nächste Dorf. Dieser Weg lädt heute manch einen zu einem Maispaziergang ein, denn die frisch belaubten Bäume am Wegesrand spenden Schatten, und die angrenzenden Raps- und Getreidefelder verbreiten einen angenehmen Frühlingsduft. Wie ganz anders wirkte das auf mich – ich empfand das alles als äußerst beklemmend. Von hier aus begann im Februar 1945 in Schnee und Eiseskälte die Leidenszeit meiner Mutter. Es war für sie der Anfang der Straße des Todes. Von den heutigen polnischen Dorfbewohnern, die erst später das Dorf in Besitz nahmen, war niemand Augenzeuge davon, was damals geschah und was aus meiner Erinnerung nie ausgelöscht werden wird.
Am Abend desselben Tages hatten wir eine Veranstaltung im Osteroder Schloss. Am Ende fand ein Mann zu Christus, der in jungen Jahren auch mit viel Leid konfrontiert worden war. Er berichtete von vier verschiedenen von den Nazis errichteten Arbeitslagern, in denen er während des Krieges hart arbeiten musste. Er zeigte mir eine tiefe Narbe am Bein, die aus jener Zeit stammte. Merkwürdig: Gerade einen Deutschen benutzte Gott, um ihn zu Christus zu führen.
Am nächsten Morgen hatten wir ein Rundfunkinterview bei dem Osteroder Regionalsender »Radio Mazurky«. Der Reporter sagte zu meinem Übersetzer, dass er noch nie in so kurzer Zeit über die Herkunft des Lebens und über das Leben nach dem Tod gehört habe. Danach wollte ich noch einmal den Bahnhof Osterode sehen, jenen Bahnhof, von dem aus wir im Oktober 1945 in den Westen abgeschoben wurden. Von hier aus starteten wir unsere Odyssee in eine völlig ungewisse Zukunft. Nun stand ich erstmals nach 60 Jahren wieder an dieser schicksalhaften Stelle, wo damals niemand mehr eine Hoffnung hatte. Jetzt empfand ich die Rückkehr an diesen Ort als einen Kreis, der sich hier zu schließen schien. Die 60 Jahre dazwischen liefen mir wie ein Film im Zeitraffer ab. Was war doch inzwischen alles geschehen: Schulausbildung, Studium, Familiengründung, Beruf und der Glaube an Jesus Christus. Gott hatte einen neuen Weg für mich und mir außerdem ewige Hoffnung geschenkt. Wie merkwürdig das alles gefügt ist. Jetzt war ich eingeladen, gerade nach Osterode zu kommen. Es galt, den Menschen, die jetzt hier leben und die auch von Gott geliebt sind, die gute Botschaft des Evangeliums zu bringen. Wer versteht die Wege Gottes? Wie groß ist doch unser Gott!
2.2 Der »schwerhörige« Professor aus Moskau
Im Mai 199119 unternahmen wir unsere erste missionarische Reise in die frühere Sowjetunion, und zwar in die Metropole Moskau. Wegen der damals noch schwierigen Einreisebedingungen brauchten wir einen offiziellen Reisegrund. Nun war Phantasie gefragt. Es kam uns zugute, dass mein Übersetzer Dr. Harry Tröster sich für eine Gruppe von Querschnittsgelähmten in Moskau engagierte und versuchte, sie auf mancherlei Weise zu unterstützen. So hatte er 23 Rollstühle überlassen bekommen, die kostenlos in der Aeroflot-Maschine mitgenommen werden konnten. Im Gegenzug erhielten wir eine Einladung zur »Internationalen Autorallye für Querschnittsgelähmte«, die zu jener Zeit in Moskau stattfand. Außer meinem Übersetzer und mir bestand unsere Mannschaft aus zehn weiteren Personen, insbesondere jungen Leuten aus unserer Braunschweiger Gemeinde. Dietrich Müller, Karl Schumann und ich waren als Sportreferenten, die jungen Leute als Begleiter und Harry als Leiter der Mannschaft deklariert. Sieht man von jenen »Rallyefahrten « ab, bei denen uns einige Querschnittsgelähmte durch Moskau zu unseren evangelistischen Einsatzorten brachten, dann haben wir von der offiziellen Rallye nichts gesehen.
Von links nach rechts: Prof. Anatoli Rogow, Dr. Harry Tröster, Schirinai Dossowa und Werner Gitt, August 2004.
Wir blieben etwa zehn Tage in Moskau und waren von der unerwarteten Offenheit für das Evangelium völlig überrascht. Meine zu verschiedenen Themen ausgearbeiteten Manuskripte, die ich vorgesehen hatte, waren hier völlig fehl am Platz. Sie hätten weder Kopf noch Herz der Zuhörer erreicht, denn es waren überwiegend Leute, die aufgrund ihrer atheistischen Erziehung noch nie etwas vom Evangelium gehört hatten. Noch nie habe ich das Gleichnis vom großen Abendmahl (Lukas 14,16-24) so sehr geschätzt wie in jenen Tagen. Diesen Text empfand ich als geradezu maßgeschneidert für unsere Situation. Menschen, die hochoffiziell von Gott selbst in den Himmel eingeladen waren, lehnten sein Angebot ab. Wir waren in Krankenhäusern, Berufsschulen, Universitäten, in der Bibliothek eines großen Autoherstellers, und wir sprachen vor Rollstuhlfahrern und in Hausversammlungen. Welch ein kostbar aufbereitetes Evangelium hatten wir doch in Form dieses Gleichnisses. »Wir sind zu euch gekommen, weil Gott noch Plätze im Himmel frei hat«, so sagte ich es den Zuhörern immer wieder. »Kommt, nehmt Jesus an, den Sohn Gottes, und ihr seid einmal beim großen Fest im Himmel dabei.« Das verstanden die Leute, und nach dem Aufruf zur Entscheidung gingen überall viele Hände hoch. Da wir viele Bibeln und evangelistische Bücher zur Verfügung hatten, bekam jeder eine Ration an geistlicher Verpflegung mit auf den Weg. Am Ende eines jeden Tages waren wir von all den Einsätzen müde und erschöpft, aber die Freude war groß über das, was Gott an den Menschen gewirkt hatte.
Wir wurden ständig von Anatoli Rogow, einem Universitätsprofessor, den Harry noch aus seiner Studienzeit kannte, begleitet. In Moskau hörte er in jenen Tagen mehrmals täglich das Evangelium, und bei den vielen Fahrten quer durch Moskau hatten wir sehr angeregte Gespräche mit ihm. Einmal sagte er mir, dass zwei Deutsche ihn beeindruckt haben, nämlich Hegel und Gitt. Immer hofften wir, dass er bei einem der Einsätze auch einmal die Hand heben würde, um Jesus in sein Herz zu lassen, doch leider vergeblich. Vorbilder hatte er ja inzwischen sehr viele. Aber er blieb eisern, ja er verhielt sich gegenüber der Botschaft geradezu immun. Das Evangelium beschäftigte ihn zwar irgendwie, aber es schien ihn letztlich doch nicht zu erreichen. So nahte unser Abreisetag, und bei ihm blieb alles beim Alten.
Blieb wirklich alles beim Alten? Schon wenige Wochen nach unserer Rückkehr hatte er dienstlich in Stuttgart zu tun. So traf er sich auch mit Harry. Kurz entschlossen lud dieser ihn ins Auto, und sie besuchten uns an einem Wochenende in Braunschweig. Abends luden wir einige junge Leute von der Moskau-Reise zu uns nach Hause ein, um das Wiedersehen ein wenig zu feiern. Es war eine nette Begegnung. Am anderen Morgen besuchten wir den Gottesdienst in unserer Gemeinde. Da Prof. Rogow kein Deutsch verstand, reduzierte sich für ihn alles auf das Erleben der Gemeinschaft. Während des Mittagessens sprachen wir über Zachäus. Gespannt hörte er jetzt zu und achtete konzentriert auf das, was Harry übersetzte. Er legte Messer und Gabel beiseite, um kein Wort zu verpassen. In diesem Augenblick spürte ich: Jetzt rührt Gott sein Herz an. So fragte ich ihn direkt, ob er sich bekehren wolle. Es kam die klare Antwort: JA! Nach dem inzwischen fast erkalteten Essen konnten wir ihm den Weg zu Jesus erklären und zusammen beten. Was in Moskau nicht möglich war, begriff er in unserem Wohnzimmer. Erst jetzt fiel die rettende Botschaft in sein Herz. Nun war das Evangelium für ihn reif geworden. Es bleibt für uns ein unergründliches Geheimnis, wann und wo der Herr Jesus ein Herz öffnet.
Bei unserer nächsten Moskau-Reise im Mai 1993, also zwei Jahre später, trafen wir ihn wieder. Er lud uns zu einem Jugendabend in seiner Gemeinde ein und bat uns darum, auf Fragen, die die jungen Leute beschäftigten, einzugehen. Er sagte, dass er nun seine Aufgabe gefunden habe: »Die Jugend Russlands muss für Christus gewonnen werden, denn sie ist die Zukunft des Landes.«
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