Kitabı oku: «Mörderisches Bamberg», sayfa 3

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Café am Dom

Sonntag, 27. August

Etwa zur gleichen Zeit nahmen Franziska Berger und Tina Meisel im kleinen Außenbereich des Domcafés ihre reservierten Plätze ein. Alle Stühle waren besetzt, wie fast immer an solch herrlichen Sonnentagen. Die Gäste schnatterten munter durcheinander, genossen ihre Kaffees mit leichten Quarkschnitten oder appetitlich zubereiteten Eisbechern. In der kleinen Ringleinsgasse, die vorbeiführte, wälzten sich die Touristen bergab und bergauf. Die einen wollten hinunter in die Dominikanerstraße, wo sie direkt auf das Bamberger Kultgasthaus Schlenkerla stießen, wo das besondere Rauchbier, bekannt für seinen an geräucherten Schinken erinnernden Geschmack, ausgeschenkt wird. Die anderen, die es die Ringleinsgasse hinauf in Richtung Karolinenstraße trieb, hatten von dort nur noch einen kurzen Weg zum Kaiserdom, zur Alten Hofhaltung oder zur Neuen Residenz mit ihrem bekannten Rosengarten, von wo man einen herrlichen Blick auf das ehemalige Kloster St. Michael genoss. Doch nicht nur Touristen füllten die Altstadt. Tausende von Bambergern ließen sich die Freude an ihrer abgesagten Sandkerwa nicht nehmen und durchstreiften in Feierlaune die engen Gassen.

Tina und Franziska indessen hatten eher Interesse an der reichhaltigen Karte des Cafés am Dom, in dem nach traditioneller Handwerkskunst gefertigte Spezialitäten offeriert wurden: frische und hausgemachte Kuchen und Torten, feine Pralinen, Sahnetrüffel und andere Leckereien; alles, was die Augen gerne aufnahmen, was der Zunge und dem Gaumen schmeckte und sich wohlig im Magen anfühlte. Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit hatten sich die beiden Frauen nicht mehr gesehen, obwohl sie doch in derselben Stadt wohnten. Damals waren sie beide gerade 20 gewesen, als sie am E.T.A Hoffmann-Gymnasium ihr Abitur gemeistert hatten. Rund neun Jahre waren seitdem vergangen, aber sie fühlten sich nach nur wenigen ersten holprigen Fragen schnell wieder verbunden.

Tina erzählte gerade, wie sie nach dem Abi erst einmal um die halbe Welt gereist war – vom Papa finanziert –, bevor sie sich an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen für ein Jurastudium eingeschrieben hatte. Franziska hatte niemanden gehabt, der ihr das Reisen hätte finanzieren können. Also hatte sie nach dem Abi für ein paar Monate bei einer örtlichen Supermarktkette gejobbt, Kartons geschleppt und Paletten gefahren, die Packstücke im Zentrallager eingeordnet oder in den riesigen Kühlraum gebracht. Ihr schwer verdientes Geld hatte sie gespart, bevor sie sich für das Herbstsemester an der örtlichen Otto-Friedrich-Universität eingeschrieben und sich fortan mit Medienkultur, Gesellschaftswissenschaften, Informationstechnik und Aspekten der Kommunikationspolitik auseinandergesetzt hatte. Als sie ihren Bachelor in Kommunikationswissenschaften in der Tasche gehabt hatte, war der Bewerbung bei der Mediengruppe Oberfranken in der Gutenbergstraße 1 nichts mehr im Weg gestanden. Vor zwei Jahren hatte sie sich sogar an die Finanzierung ihrer Eigentumswohnung Am Hollergraben gewagt.

„Und du hast zwischenzeitlich tatsächlich den Weg zum gehobenen Polizeiverzugsdienst eingeschlagen?“, wollte Franziska jetzt von ihrer ehemaligen Mitschülerin wissen.

„Ja und ich hab es bis heute nicht bereut. Wenn schon nicht Anwalt, dann zumindest ein Job, bei dem es auch um Recht und Gerechtigkeit geht. Wir haben ein gutes, kollegiales Team und ich fühle mich dort wohl.“ Tina klang überzeugt und aufrichtig. Die Arbeit bei der Kripo schien ihr wirklich enormen Spaß zu machen.

Franziska erinnerte sich an die gemeinsame Schulzeit. Tina Meisel hatte damals schon als unbedingt zuverlässig gegolten, was sie versprach, das hielt sie auch. Ihr roter Lockenkopf und die kecken Sommersprossen um die kleine Stupsnase herum waren es, die ihr zu ihrem damaligen Spitznamen Pumuckl verholfen hatten.

„Erzähl“, forderte Franziska sie jetzt auf. „So einfach kommt man doch nicht an eine Position wie die deine. Da war der Weg doch sicher hart?“

„Ach, da gibt es gar nicht so viel zu erzählen. Mit dem Abi in der Tasche war ich ja fast ein Jahr in der Welt unterwegs. Neuseeland, Australien, Japan, Thailand, Singapur, Bali und Indien. Nach vier Semestern Jura hab ich einfach keinen Sinn mehr gesehen und hingeschmissen. Alles viel zu weit weg vom echten Leben. Also Bewerbung bei der Kripo Bamberg. Eingestellt: als Kriminalkommissar-Anwärterin – das geht, wenn man Abi hat. Ansonsten muss man erst noch durch die harte Schule mit Streifendienst und Co. Die nächsten drei Jahre war ich an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Bachelorstudium. Zurück in Bamberg hab ich dann Bernd kennengelernt, war unheimlich verliebt, bis ich vor vier Wochen mitbekommen hab, dass er auch anderswo rumvögelt.“

„Und dann gleich die Trennung?“

„Na klar. Die andere hat den Trottel echt verdient.“

„Sicher wahr“, nickte Franziska. „Trotzdem klingt das ganz schön abgebrüht nach nur einem Monat. Du trauerst ihm echt nicht nach?“

„Ich hab ja einen großartigen Job, mit dem ich mich trösten kann. Seit zwei Jahren und acht Monaten bin ich jetzt als Kriminalkommissarin im Dienst.“ Tina strahlte.

„Wow, das klingt nach echtem Berufsglück, ich beneide dich.“

„Wieso das denn?“, wunderte sich die Polizeibeamtin. „Du stehst doch schon viel länger im Beruf, hast keine Zeit verloren wie ich, immer zielstrebig. Wahrscheinlich bist du auch sehr erfolgreich, ich hab deinen Namen immer wieder unter Artikeln bei uns im Fränkischen Tag gelesen – hab aber zu keinem Zeitpunkt vermutet, dass genau du dahintersteckst, sonst hätte ich mich längst schon mal bei dir gemeldet. Und seit der Schulzeit hast du dich auch kaum verändert – immer noch rank und schlank. Ganz ehrlich: Das ist ein schönes Leben. Was willst du mehr? Bist du eigentlich liiert?“

„Gott behüte, bloß das nicht!“

„Auch schlechte Erfahrungen?“, fragte Tina neugierig nach.

„Gott sei Dank nein. Der Richtige hat sich einfach noch nicht bei mir vorgestellt. Braucht er aber auch nicht so bald, ich bin ganz gern unabhängig.“

„Auch keine lose Beziehung?“

„Auch keine lose Beziehung!“, bestätigte Franziska.

„Und was machst du, wenn dir mal danach ist? Na ja, ich meine … wenn dir mal nach Sex zumute ist?“

Franziska musste lauthals lachen, schüttelte ihre blonde Tina-Turner-Mähne und meinte: „Dann gehe ich in den Mojow-Club, oder ins Agostea, da lernst du immer jemanden kennen.“

„Auch für einen One-Night-Stand?“

„Warum nicht?“

Die jungen Frauen grinsten sich an und rückten dann zur Seite, um dem Kellner Platz zu machen. Der stellte zwei Milchkaffees, eine Obstschnitte und einen beeindruckenden Eisbecher vor den beiden ab und wünschte guten Appetit.

Franziska griff nach ihrer Kuchengabel. „Sag mal, wenn du schon nicht in die Fußstapfen deines Vaters treten wolltest, hat sich dann wenigstens einer von deinen kleinen Brüdern erbarmt?“

„Axel oder Johannes als Anwalt?“ Tina lachte und zog den blauwandigen Kelch mit ihrem Früchteeis näher zu sich heran. „Kannst du dich nicht mehr an sie erinnern, wie faul die zwei damals waren? Null Bock auf gar nichts. Nur Flausen und Fußball im Kopf. Am Ende waren meine Eltern froh, dass sie überhaupt die Mittlere Reife geschafft haben.“ Sie stach beherzt in ihren Eisbecher. „Der Ehrgeiz kam bei den beiden erst viel später. Johannes hat sich dann bei Siemens in Erlangen beworben, für eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Und, was für ein Wunder, er wurde tatsächlich genommen. Heute bereist er als Vertriebler die halbe Welt und verkauft U-Bahnzüge. Anscheinend sehr erfolgreich. Vor zwei Jahren hat er die Liebe seines Lebens geheiratet – wie er sagt. In zwei Monaten wird er Vater.“

„Aber das ist doch schön“, freute sich Franziska. „Und Axel, der hoffnungsvolle Nachwuchsspieler vom FC Bamberg?“

„Ach, der Axel“, Tina verdrehte die Augen. „Der war ja schon immer ein Hitzkopf und ist das auch geblieben. Immer in Bewegung, Stillsitzen ist einfach nicht seine Sache. Mit der Fußballerkarriere ist’s leider nichts geworden, dafür hat er seine ganzen anderen sportlichen Hobbies zum Beruf gemacht. Der tanzt auf allen Hochzeiten: In Staffelstein betreibt er eine Paragliding-Schule, führt Wandergruppen durch die Fränkische Schweiz und bringt Leuten am Walberla bei Schlaifhausen das Klettern bei.“

„Oh, ein echter Naturbursche. Da fliegen die Mädels sicher scharenweise auf ihn“, warf Franziska ein.

„Schon, aber soviel ich weiß gibt es da nichts Festes. Das letzte, was ich von Axel zu diesem Thema gehört habe, ging in etwa so: Schwesterherz, die Weiber rennen mir die Bude ein, warum soll ich da mein Herz in feste Hände geben? Na ja, der Junge sieht schon gut aus, das muss man neidlos zugeben.“

Franziska lachte. „Was meinen die beiden eigentlich dazu, dass aus ihrer Schwester eine große Verbrecherjägerin geworden ist?“

„Ich glaube, sie finden das eigentlich ganz spannend. Nur Johannes wird immer spießiger, seit er verheiratet ist. Der würde mich lieber an einem Schreibtisch sehen, wo das gefährlichste die scharfen Kanten der Papierstapel sind. Tja.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während Franziska und Tina beide nach ihren Milchkaffees griffen und den ersten Schluck genossen.

„Tina, was ist eigentlich deine Meinung zu dem Fall, den ihr seit gestern zu lösen habt?“, nahm Franziska den Faden wieder auf und gestikulierte mit ihrer Kuchengabel. „Ich meine das tote Mädchen aus der Regnitz?“

„Aha, auf diese Frage hab ich schon gewartet. Da meldet sich die eifrige Journalistin in dir. Du weißt aber, dass ich dir darüber nichts sagen darf.“

„Ja, ich weiß. Ich frage dich auch nicht, um darüber zu schreiben. Mir geht das arme Ding nur ständig durch den Kopf. So jung und schon tot. Ermordet. Was müssen das für Menschen sein, die so eine Tat begehen? Unvorstellbar. Schrecklich. Auch deshalb hab ich vorhin gesagt, dass ich dich beneide. Weißt du, anstatt immer nur von außen drüber zu schreiben, würde ich mich am liebsten selbst auf die Suche machen und den Mörder zur Strecke bringen.“

„Bloß nicht!“, schreckte die Kommissarin zurück. „Das könnte verdammt gefährlich werden. Dafür sind wir zuständig. Mein Chef, der Hagenkötter – du hast ihn auf der Pressekonferenz gesehen, der mit dem Schnauzbart – kriegt den Täter schon zu fassen. Da bin ich mir absolut sicher. Er ist geradlinig, vielleicht ein wenig querköpfig, aber gerecht – und ein verdammt guter Ermittler.“

„Ich meine ja nur … Oh, Mist!“ Franziska hatte einen Blick auf ihre Uhr geworfen. „Wie die Zeit dahinrast! Um 18 Uhr will mein Chef meinen Bericht über euren neuen Fall auf dem Tisch haben und ich hab noch keine einzige Zeile geschrieben. Ich muss, Tina. Treffen wir uns bald mal wieder? Ich hab mich so gefreut, dass wir uns nach so langer Zeit wieder begegnet sind. – Ich übernehme die Rechnung“, setzte sie hinzu, als Tina in ihre Handtasche greifen wollte und war kurz darauf winkend verschwunden.

Wer ist die Tote in der Regnitz?, hämmerte sie zuhause in die Tastatur ihres Laptops, nachdem sie am Hollergraben angekommen war. Vor ihrem geistigen Auge erschien der sich sachte drehende Leichnam des toten Mädchens, durch einen Wasserwirbel an der Oberfläche der Regnitz gehalten. Um viertel vor sechs drückte sie auf Senden und schickte ihren Beitrag an den Fatzke aus Wolfenbüttel.

Orientierungslos

Montag, 28. August

Bischof Carlo Eposito ging es immer noch mehr als schlecht. Die tote Johanna war in seinen Gedanken, in seiner ganzen Verzweiflung. Niemand konnte ihm die Last abnehmen, die große Schuld, die er auf sich geladen hatte. Wann immer es ihm möglich war, betete er für das Seelenheil der von ihm Getöteten und schloss ihre trauernden Eltern in seine Gebete mit ein. Er wusste noch nicht, wie das Ganze ausgehen würde.

Sein langjähriger Bekannter und guter Freund von Sensheim hatte quasi die Regie übernommen vor gut einer Woche: „Lass mich mal machen … ich regle das schon, du kannst nichts dafür, ein schrecklicher Unfall …“ Dann hatte man ihn zu seinem Wagen geführt, wo sich Giuseppe seiner angenommen hatte. Der gute, treue Giuseppe. „Fahren Sie den Bischof in sein Hotel und bringen Sie ihn zu Bett“, hatte von Sensheim seinen Fahrer auf Italienisch angewiesen. „Kümmern Sie sich um ihn.“

Eposito hatte bis um die Mittagszeit geschlafen. Dann waren die Geschehnisse der letzten Nacht in sein Gedächtnis zurückgekrochen. Fetzenweise. Er konnte sich seitdem nicht richtig konzentrieren. Je angestrengter und häufiger er nachdachte, desto öfter fiel er in ein Tal der Erschöpfung und hätte sich am liebsten nur ins Bett gelegt. Heute, gleich nach dem Frühstück, hatte von Sensheim ihn am Hotel abgeholt. „Heute ist dein letzter Tag in Bamberg, Carlo. Morgen um diese Zeit befindest du dich bereits wieder auf der Rückfahrt nach Rom. Alles wird gut. Gott wird dir vergeben, schließlich hast du in seinem Auftrag gehandelt. Lass uns diesen letzten Tag gemeinsam in Bamberg verbringen. Zeit genug, heute noch unsere schönen Bamberger Kirchen zu bewundern. Das hast du dir doch gewünscht. Das lenkt dich hoffentlich etwas ab.“ Doch das Gegenteil war der Fall.

Diözesanrat Maria Ludwig von Sensheim führte ihn durch die Altstadt, zeigte ihm alle bekannten Kirchen, die er sehen wollte, erzählte von deren Geschichte und den vielen kostbaren Kunstwerken, die sie in ihren Mauern bargen. Carlo Eposito lauschte zunächst den Worten seines Freundes, aber dann, als sie aus der St. Martinskirche traten, fiel ihm der erste dieser verteufelten Kästen auf, der unmittelbar neben dem Kircheneingang platziert war. Ein Mann stand davor, wühlte in seinen Hosentaschen nach Münzen und warf diese in ein kleines Plastikkästchen, bevor er sich eine Zeitung entnahm. Tod in der Regnitz, Polizei tritt immer noch auf der Stelle. Fette Buchstaben prangten vom Titelblatt. Eposito sprach zwar kaum Deutsch, aber die Worte Regnitz und Polizei brachte er schnell zusammen. Der Tod des Mädchens beherrschte die Schlagzeilen.

„Gehen wir zur Oberen Brücke“, vernahm er die Worte seines Freundes und Stadtführers wie aus der Ferne. „Das hier zu unserer Linken ist übrigens der Neptunbrunnen. Wir Bamberger nennen ihn Gabelmann, wegen des Dreizacks, den Neptun in der Hand hält.“ Eposito nahm den Brunnen gar nicht richtig wahr. Dafür starrte er auf den nächsten Zeitungskasten, unter dessen Plexiglasscheibe er eine weitere Schlagzeile erkannte. Die Worte Tod und Regnitz verstand er. Diese verdammte Stadt schien voll von diesen Zeitungskästen zu sein. Drüben, jenseits der Straße Obstmarkt standen schon wieder zwei von diesen Dingern.

„Das Viertel hier hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stark verändert“, hörte er von Sensheim erzählen, „vor allem nach den Luftangriffen vom 22. Februar 1945.“ Doch Eposito war auch die Geschichte dieses Bamberger Viertels egal. Am liebsten hätte er sich an Ort und Stelle in Luft aufgelöst. Er fühlte die Blicke der Menschen, die an ihm vorbeigingen. Sie schienen ihn anzuklagen und zu fragen: Warum? Warum hast du sie erwürgt? Was hat sie dir angetan?

Nichts! Er wollte ihr doch nur helfen, sie von ihrer Besessenheit befreien. Er hatte doch nichts falsch gemacht?

„Ich beschwöre dich, Satan, Feind des menschlichen Heils, erkenne die Gerechtigkeit und Güte Gottes, des Vaters, der deinen Hochmut und deinen Neid durch gerechtes Urteil verdammt hat. Weiche von dieser Dienerin Gottes, die der Herr nach seinem Bild geschaffen, mit seinen Gaben beschenkt und als Tochter seiner Barmherzigkeit angenommen hat.“

Sein Gebet war innbrünstig gewesen und das Mädchen war sofort in Trance verfallen. Dann hatte er die lateinischen Gebete aus dem Rituale Romanum gesprochen, hatte der Besessenen das Ende seiner grünen Stola auf die Brust gelegt und sie mit Weihwasser bespritzt.

„Fugite partes adversae – Flieht, ihr diabolischen Kräfte“, hatte er gebetet und dem Mädchen mit seinem Daumen und dem Katechumöl das Kreuz auf die Stirn gezeichnet. Dann, ganz urplötzlich, ohne Vorwarnung, war es geschehen: Das Mädchen war von einer Sekunde auf die andere aus der Trance erwacht und in rasende Zuckungen verfallen, hatte sich wie eine Schlange gewunden und war ihm mit ihren spitzen Fingernägeln in den Hals gefahren. Er hatte ihren heißen Atem gespürt, der nach dem Leibhaftigen gerochen hatte. Der Satan, der in diesen zarten Körper gefahren war, hatte sich mit unheimlichen Kräften gegen seine Vertreibung gewehrt.

Dann waren der Kehle des Mädchens diese gutturalen Laute entfahren, dieses Gebrüll, das aus dem Grund der Hölle zu kommen schien. Sie waren immer lauter geworden, das Mädchen hatte ihn angefaucht, nicht mehr aufgehört. Der Satan hatte ihn persönlich angegriffen, ihn, den Gesandten Gottes, hatte ihn von seinem Vorhaben abbringen wollen, das Böse aus dem Körper des Kindes zu vertreiben.

Hätte er sich bloß nicht auf diese Sache eingelassen.

Er war in Panik geraten. Böse Mächte hatten gedroht über ihn zu kommen. Er hatte sich wehren müssen, hatte Satan eine Lehre erteilen müssen, hatte den Heiligen Geist in seiner Not angerufen. Gemeinsam würden sie den Teufel besiegen! Dann, tatsächlich, war die Kraft des Heiligen Geistes über ihn gekommen und hatte ihm die Hände an den dünnen, nackten Hals des sich unter ihm windenden Beelzebubs geführt.

Er hatte zugegriffen, erst mit einer, dann mit beiden Händen. Dann hatte er gedrückt. Fest. So fest er konnte. Luzifer hatte sich vehement gewehrt. Doch er hatte nicht locker gelassen und plötzlich hatte er gemerkt, wie die Kräfte des Satans schwanden. Der Gestank der Hölle hatte sich verzogen.

Als er die Augen geöffnet hatte, war vor ihm das Kind gelegen. Es hatte sich nicht mehr gerührt, war nur mehr eine leere Hülle gewesen.

Er, Eposito, hatte über das Böse gesiegt – doch das Kind war tot.

Immer wieder spielten sich diese Szenen vor seinem geistigen Auge ab, und zwischenzeitlich fragte er sich, ob nicht doch der Teufel diese Schlacht gewonnen hatte. Er hatte ihn zum Morden verführt, hatte ihn benutzt und zum Narren gehalten. Auch sein langjähriger Freund, Maria Ludwig von Sensheim, konnte ihm nicht mehr helfen. Als er ihn von dem Mädchen wegriss, war es bereits zu spät.

*

Der Kurienbischof stand in seinem Zimmer im Hotel Brudermühle. Er war gerade vom Abendessen zurückgekehrt. Die mörderische Hitze, die tagsüber über der Stadt gelegen hatte, machte ihm gesundheitlich zu schaffen. Er hatte von Sensheim gebeten, die Besichtigungstour früher zu beenden, als ursprünglich geplant.

Nun blickte er von seinem Hotelzimmer geistesabwesend auf das Alte Rathaus hinüber, das zum Greifen nahe war. Noch immer wälzten sich die Touristenströme über die Obere Brücke. Unter seinem Fenster rauschten die Wasser der Regnitz und die Strömung des Flusses schien eine Todesmelodie zu komponieren, die drohte, seinen Kopf und seine Gedanken platzen zu lassen. „Raus, du musst hier raus!“, brüllte ihm eine innere Stimme zu.

Fluchtartig verließ er sein Zimmer und fand sich Minuten später etwas orientierungslos auf der Unteren Mühlbrücke wieder. Er starrte erneut hinüber zum Alten Rathaus. Es begann zu dämmern, die Sonne stand bereits tief im Westen und die Hitze verlor allmählich ihre Kraft.

Regungslos stand er da, der schlaksige alte Mann, und wusste nicht so recht wohin. Die trüben Augen in seinem langen, schmalen Gesicht waren gegen den Himmel gerichtet, als ob er ein Zeichen Gottes erwartete. Doch Gott meldete sich nicht, ließ ihn allein mit seinen Ängsten. Seine gewaltigen Ohrmuscheln waren auf Empfang geschaltet, doch alles, was sie wahrnahmen, war das ständige Rauschen der Flussströmung. Die Falten, die sich beiderseits seiner Nasenflügel und des Mundes nach unten zogen, hatten sich in den letzten Tagen noch tiefer in sein Gesicht gegraben. Ein aufmerksamer Betrachter wäre nicht umhingekommen, ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem amtierenden Papst zu attestieren, wenn da nicht des Bischofs Haupt gewesen wäre – haarlos wie ein Kinderpopo.

Dann kam plötzlich Bewegung in seine hagere Gestalt. Schritt für Schritt legte er zurück, ohne darauf zu achten, wohin er ging. Er folgte dem Fluss stromaufwärts. Was hatte er nur falsch gemacht? Pater Amorth fiel ihm ein, sein ehemaliger Lehrmeister für Exorzismen, der letztes Jahr in hohem Alter verstorben war, sowie der emeritierte deutsche Papst Benedikt XVI. Ein kluger Mann, nicht nur in kirchlichen Angelegenheiten. Im Jahr 2009 soll er mitten auf dem Petersplatz zwei vom Teufel besessene Männer, Giovanni und Marco, vom Bösen befreit haben. Völlig irrsinnig sollen sie vorher ihre Köpfe auf das Pflaster des Platzes gestoßen haben und wie ein Peitschenhieb soll es die beiden getroffen haben, als Benedikt XVI. mit seinem Segen den Kampf gegen Satan gewonnen und die bösen Mächte vertrieben hatte. Wenn er wieder zurück in Rom war, musste er, Eposito, Benedikt unbedingt an seinem Wohnsitz, im Kloster Mater Ecclesiae, besuchen, musste sich den Rat dieses weisen Mannes einholen und ihm im Rahmen des heiligen Sakraments der Beichte erzählen, was sich in Bamberg ereignet hatte.

Er fasste wieder Mut. Ein leichtes Lächeln huschte für einen Moment über seinen Mund und seine trüben Augen versprühten wieder so etwas wie einen Funken Hoffnung.

Während er seinen Gedanken nachgehangen war, hatte Eposito nicht auf seinen Weg geachtet. Nun sah er sich um. Er war ständig flussaufwärts gegangen, an alten, verfallenen Mühlen vorbeigekommen, hatte diverse kleine Brücken überquert und las jetzt Mühlwörth von einem Straßenschild ab Das sagte ihm nichts. Links von ihm schloss eine lange Häuserzeile die schmale Teerstraße ab, rechts von ihm rauschte die schnell fließende Regnitz vorbei. Dann sah er, drüben auf der anderen Flussseite, ein Haus, das er dieser Tage schon einmal besucht hatte. War das nicht die Villa Concordia, heute Sitz des Internationalen Künstlerhauses? Maria Ludwig von Sensheim hatte ihn letzte Woche dorthin geführt und ihm einiges über das Gebäude erzählt. Nur schade, dass er sich so gut wie nichts gemerkt hatte – einst musste es wohl ein barockes Bürgerpalais gewesen sein.

Die Dunkelheit war zwischenzeitlich mit aller Macht über die Stadt hereingebrochen. Lediglich ein schmaler Streifen mattroten Lichts hinter dem westlichen Horizont kündete davon, dass die Sonne weiter auf ihrer Wanderung war. Über ihm schickte die kommende Nacht ihr dunkles Blau voraus, durchsetzt mit funkelnden Sternen und, ganz im Osten, einem satten, glänzenden Vollmond. Es wurde Zeit, umzukehren.

Der Schein des Monds brach sich in den Wassern der Regnitz und vermischte sich mit dem grünen Schimmer einer einsamen Leuchtreklame. Vom nahen Stadtzentrum tönte immer noch Verkehrslärm herüber. Carlo Eposito trat näher an das eiserne Geländer am Flussufer heran, das hier zum Schutz der Fußgänger aufgestellt worden war. Erst jetzt bemerkte er die Informationstafel, die sich hauptsächlich an Touristen richtete. Schleuse 100 las er im fahlen Schein einer altertümlichen Laterne. Das sagte ihm etwas. Hier in der Nähe musste es gewesen sein, wo der Fluss die Leiche des Mädchens freigegeben hatte. Herr, nimm Johanna auf in deinen Schoß.

He! Papa.“ Eine Gestalt hatte sich aus dem tiefen Schatten eines riesigen Wacholderstrauchs geschält und kam langsam auf den Kurienbischof zu.

Ihr Gesicht war von einer übermächtigen Kapuze verborgen. Eposito war sich dennoch sicher, dass er diesen Mann nicht kannte.

Dann ging alles sehr schnell. Das dünne Stahlseil legte sich wie eine geschmeidige, hinterlistige Schlange um den faltigen Hals des Bischofs. Sofort wurde die Schlinge mit großer Kraft zugezogen. Eposito spürte einen brennenden Schmerz, versuchte, sich zu befreien, war jedoch machtlos gegen die Kraft des Angreifers, der dem Zappelnden jetzt sein Knie in den rechten Oberschenkel stieß, ihn zu Fall brachte und zu Boden drückte.

Unbeholfen lag der Bischof bäuchlings auf dem rauen Kopfsteinpflaster, sein Gesicht wurde in den Staub des engen Weges gedrückt. Die Häuserzeile rückte hier ganz eng an den Fluss heran. Eposito roch den trockenen Dreck der Straße, der sich mit dem Gestank von Diesel und Benzin vermischte, er sah die Asphaltflecken, die das Pflaster durchzogen, hörte sein eigenes, rasselndes Stöhnen. Es klang nach dem nahenden Tod. Der fremde Angreifer saß auf ihm und zog immer noch mit seiner ganzen Kraft an der stählernen Schlinge. Hat dich Gott geschickt? Ist das die Strafe für meine Tat? Wartet nun das Fegefeuer auf mich?

Eposito spürte den Schmerz des Todes nicht mehr, als er in die Bewusstlosigkeit hinüberdämmerte. Dann explodierte ein helles, gleißendes Licht in seinem Kopf und trug ihn fort. Gott, mein Herr, bald bin ich bei dir. Ich bin ein Sünder. Verstoße mich nicht. Nehme meine Buße an.

Der Mörder löste das Stahlseil vom Hals des Toten und steckte ihm ein papierenes Kärtchen mit einer handgeschriebenen Zeile in eine seiner Anzugstaschen: Papa era cattivo. Dann machte er sich am Bischofsring zu schaffen und verschwand still und leise in der Dunkelheit.

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