Kitabı oku: «Die Revoluzzer», sayfa 5

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Im Mai 1795 begann für Samuel ein neues Leben. Wie schon in den vergangenen zwei Jahren ging er täglich eine halbe Stunde zu Fuss hinunter nach Waldenburg. Mit einem Gefühl der Erleichterung liess er am ersten Tag die in den Sommermonaten geschlossene Gemeindeschule links liegen und klopfte ans Portal des Schönthaler Hofs. Die Pfarrmagd liess ihn ein.

Der Unterricht fand in einem eigens dafür bestimmten Raum statt. Der Kandidat Hoffmann verlangte von den drei Grynäus-Kindern (der Älteste war bei Verwandten in Basel untergebracht und besuchte bereits das Pädagogium), einen Aufsatz über die Anfangsworte des Gedichts Das Göttliche des deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe zu schreiben. An der Wandtafel stand: «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!» Und während die Federn von Johanna, Amalie und August Grynäus leise über das Papier kratzten, prüfte er Samuel, um sich einen Überblick über dessen Wissensstand zu verschaffen.

Sebastian Hoffmann war ein ernsthafter, hagerer Mensch mit dünnem, aus der Stirn gekämmtem Haar. Er war einundzwanzig Jahre alt und stammte aus einer nicht unvermögenden Basler Familie. Auf Wunsch des Vaters hatte er Theologie studiert. Nach fünf Semestern hatte er sein Studium aber unterbrochen und eine Stelle als Hauslehrer angenommen. Wohl aufgrund der Lektüre aufklärerischer Literatur zweifelte er an der Existenz eines Gottes, wie ihn sich die christliche Lehre vorstellte. Darüber sprach er freilich mit niemandem.

Seinem Stand entsprechend war er schwarz gekleidet. Selbst das sorgfältig geknüpfte Halstuch zwischen dem bis zu den Ohren reichenden Kragen seines Rocks war schwarz. Anders als sein Dienstherr, der altfränkische Kniebundhosen und Seidenstrümpfe trug, zog er lange enge Beinkleider vor, die der revolutionären Mode entsprachen. Er sei eben ein Sansculotte, pflegte er zu sagen, wenn man ihn darauf ansprach.

Als Hoffmann die Befragung Samuels abgeschlossen hatte, erklärte er ihm, dass er noch viel zu lernen habe, wenn er einmal, wie das der Pfarrer hoffe, ins Pädagogium eintreten wolle. Flüssiges Lesen und fehlerfreies Schreiben gehörten, ebenso wie die vier Grundoperationen des Rechnens, lediglich zur Basis einer gepflegten Bildung. Es werde nun darum gehen, ihn auch ins Bruchrechnen und in weitere Geheimnisse der Mathematik, insbesondere auch in die Geometrie einzuführen. Ob er überhaupt wisse, wer Pythagoras und wer Euklid gewesen seien? Und ohne eine Antwort abzuwarten, stellte der Kandidat fest, dass Geschichte, Geographie und mindestens die einfachsten Kenntnisse von Biologie, Physik und Chemie zum unverzichtbaren Bestandteil seines Unterrichts gehörten. Und natürlich die Sprachen. Zuallererst Französisch. Denn nur wer Französisch beherrsche, könne sich in der heutigen Zeit guten Gewissens als Mitglied einer Gesellschaft bezeichnen, welche die Vernunft und den Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben habe. Dann natürlich Latein. Griechisch und Hebräisch würden auf dem Pädagogium folgen.

Bis dahin hatte Hoffmann ohne Punkt und Komma gesprochen. Ob er sich klar genug ausgedrückt habe, wollte er jetzt wissen. Streng blickte er durch seine Brillengläser auf den völlig verdatterten Samuel, der von diesem Vortrag kaum etwas begriffen hatte.

Um die schmalen Lippen des Hauslehrers spielte ein Lächeln. Nun, man werde sehen, meinte er versöhnlich.

In der Pause nahm der um ein Jahr ältere August Grynäus Samuel beiseite. «Du musst keine Angst haben vor Hoffmann», beruhigte er ihn. «Er spielt sich gerne auf, aber im Grunde ist er ein patenter Kerl.»

Tatsächlich erwies sich Sebastian Hoffmann als idealer Lehrer. Er forderte viel, blieb aber stets geduldig und verstand es, seine Schüler zu begeistern. Pfarrer Grynäus hatte dafür gesorgt, dass Samuel an den Schultagen Kleider trug, aus denen sein Sohn August herausgewachsen war. Es liege ihm daran, erklärte er dem Kandidaten, dass er den Schützling von Madame Staehelin, der aus einfachen Verhältnissen stamme, genau gleich behandle wie seine eigenen Kinder.

Der Hinweis wäre nicht nötig gewesen, meinte Hoffmann. Selbstverständlich beurteile er seine Schüler allein nach dem Mass ihres Fleisses und ihrer Leistungen. «Auch im Freistaat Basel», fuhr er fort, «wird man lernen müssen, dass gesellschaftliche Unterschiede nur im allgemeinen Nutzen begründet sein dürfen.»

Theophil Grynäus hüstelte. Es war nicht das erste Mal, dass ihm der Kandidat mit den Menschenrechten kam, die er durchaus kannte und im Prinzip für richtig hielt. Im Prinzip.

Ab und zu unternahm Sebastian Hoffmann mit seinen Schülern einen Ausflug in die Umgebung. Es liege ihm daran, erklärte er dem Pfarrer, der ihn nach dem Sinn seiner Exkursionen befragte, den Kindern eine Vorstellung vom Wirken der Natur zu vermitteln, davon, dass in dieser Welt alles mit allem zusammenhänge.

«Vom göttlichen Wirken», fühlte sich Theophil Grynäus bemüssigt zu bemerken.

«Selbstverständlich ist das Wirken der Natur ein Gesetz des Être suprême», bestätigte Hoffmann.

Der Pfarrer schwieg verstimmt. Bei aller Sympathie für die Aufklärung und den Fortschritt hielt er den «Kult des höchsten Wesens», den der im vergangenen Jahr hingerichtete Robespierre eingeführt hatte, für blasphemisch. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob der junge Mann, bei all seiner Gelehrtheit, den Seelen der ihm anvertrauten Kinder nicht Schaden zufüge.

An einem Juliabend des Jahres 1795 sassen die Leute von Sankt Wendelin am grossen Tisch in der niedrigen Stube beim Abendbrot, das Hanna zubereitet hatte. Alle, auch Madame Staehelin und Salome, waren todmüde, denn die beiden städtischen Frauenzimmer hatten es sich nicht nehmen lassen mitzuhelfen, als es darum ging, an diesem heissen Hochsommertag das Heu einzubringen. Ein paar Tage zuvor hatten Mathis und seine beiden älteren Söhne, zum zweiten Mal in diesem Jahr, das Gras geschnitten und gezettet. Seither war es mehrmals gewendet worden, damit es an der Luft trocknete. Bei Tagesanbruch hatte man es zu Schwaden zusammengerecht und auf den Wagen geladen, dem die beiden Pferde vorgespannt waren. Fuhre um Fuhre war es zur Scheune gebracht worden. Mit Rechen und Gabel waren Salome und Samuel daneben hergelaufen und hatten das Heu, das hinunterfiel, wieder auf den Wagen gepackt. Jetzt lag es auf dem Boden des Tenns. Für den dritten Schnitt, der, wenn das Wetter günstig war, im Frühherbst anstand, blieb nur noch wenig Raum. Mathis Jacob war zufrieden. Im kommenden Winter würde sein Vieh nicht unter Futtermangel leiden müssen.

Hanna brachte aus der Küche eine weitere Schüssel Kraut, auf dem ein grosses Stück Speck lag. Vor dem offenen Fenster blieb sie kurz stehen. «Schaut euch den schönen Sonnenuntergang an!», rief sie.

Die anderen hoben die Köpfe.

«Die Sonne geht nicht unter», behauptete Samuel. «Die Erde dreht sich von ihr weg.»

«Wer erzählt solchen Unsinn, Sämi?», wollte die Mutter wissen.

«Das ist kein Unsinn.» Der Junge war beleidigt. «Herr Hoffmann hat uns erklärt, dass die Erde eine Kugel ist, die in einem Jahr die Sonne umkreist und sich täglich um sich selbst dreht. Deshalb wird es bei uns Nacht, und jene, die auf der anderen Seite der Welt leben, haben Tag.»

«Und weshalb fallen wir nicht in den Himmel hinauf, ich meine hinunter, wenn die Erde eine Kugel ist und sich dreht?», fragte Martha. «Kannst du mir das erklären, Magisterlein?»

Die Geschwister lachten.

«Das weiss ich nicht.» Samuel liess sich nicht beirren. «Aber ich werde Herrn Hoffmann fragen.»

«Iss jetzt», sagte die Mutter streng, «und hör auf mit deinen albernen Geschichten!»

«Das ist keine alberne Geschichte», bemerkte Dorothe Staehelin. «Der kleine Bursche hat recht. Dass die Erde die Sonne umkreist und sich jeden Tag um die eigene Achse dreht, hat vor bald dreihundert Jahren Nikolaus Kopernikus entdeckt, ein grosser Gelehrter. Ihr solltet stolz sein auf Euren Jüngsten …» Sie verstummte, als sie realisierte, dass Barbara Jacob die Lippen zusammenkniff und ihr einen feindseligen Blick zuwarf.

Barbara stand auf. «Ich habe in der Küche zu tun.» Abrupt drehte sie sich um und verliess die Stube.

Mathis Jacob konnte in dieser Nacht nicht einschlafen. Barbara hatte ihm im Bett den Rücken zugekehrt und beleidigt geschwiegen. Offenbar nahm sie es ihm übel, dass er bei Tisch nicht für sie Partei ergriffen hatte. Sicher fand sie, dass Dorothea sie belehrt hatte, um deutlich zu machen, dass sie nur eine dumme Bauernfrau sei. Als er glaubte, sie schlafe, verliess er leise die Kammer und ging in die Stube.

Dort sass er jetzt, den Kopf in die Hände gestützt, am Stubentisch und grübelte beim Schein einer Kerze über einem Buch, das ihm Dorothea Staehelin vor ein paar Tagen ausgeliehen hatte. Die Wirthschaft eines philosophischen Bauern, hiess es. Ein Arzt, Hans Caspar Hirzel, hatte es verfasst. Er beschrieb darin Hans Jakob Gujer, bekannt als Kleinjogg, der im zürcherischen Rümlang einen Musterbetrieb geführt hatte. Der Mann hatte unter anderem Klee anstelle von Gras angebaut und konnte damit mehr Kühe füttern. Dadurch fiel mehr Mist und Gülle für die Düngung an, die er mit Kompost und Torfasche anreicherte. Und dies wirkte sich positiv auf die Ernte aus.

Mathis seufzte. Es gab sie immer wieder, diese hellen Köpfe, die zwar nicht an Schulen gebildet worden waren, die aber durch Beobachtung und Experimentierlust neuen, nutzbringenden Ideen zum Durchbruch verhalfen.

Er selber war kein Gujer. Wie seine Frau hatte auch er in der Gemeindeschule nicht viel mehr gelernt, als notdürftig zu lesen und zu schreiben und natürlich jene frommen Sprüche herzusagen, deren Kenntnis der Pfarrer für das Seelenheil seiner Schäfchen für unverzichtbar hielt. Aber anders als Barbara hatte er, wohl dank seines taufgesinnten Vaters, der darauf bestanden hatte, dass er täglich die Bibel zur Hand nahm, Freude an Gedrucktem bekommen. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, die Pamphlete und Zeitungen zu lesen, die sein Schwiegervater aus Basel mitbrachte. Aber der Gedanke an Kleinjogg, der sich aus eigener Kraft ein Wissen angeeignet hatte, das ihm selber verschlossen blieb, quälte ihn. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in all den Jahren, die hinter ihm lagen, aus seinem Verstand zu wenig gemacht zu haben. Das Gespräch beim Abendessen hatte es einmal mehr bestätigt: Nicht einmal, dass sich die Erde um die Sonne dreht, hatte er gewusst. Das musste er von seinem neunjährigen Sohn erfahren.

Er stand auf und trat ans Fenster. Am samtschwarzen Nachthimmel leuchteten die Sterne. Was wusste er von ihnen? So gut wie nichts. Den Grossen Wagen kannte er und den hellen Polarstern. Auch den Morgen- und Abendstern konnte er am Himmel ausmachen. Ob sie aber in Wahrheit ein und derselbe Himmelskörper waren, wie er einmal gehört hatte, wusste er nicht mit Sicherheit. Vielleicht könnte ihm das Dorothe (heimlich nannte er sie noch immer so) sagen. Aber sie würde er nicht fragen. Um keinen Preis der Welt.

Wie immer, wenn er intensiv über etwas nachdachte, strählte Mathis sich mit den Fingern der Rechten den Bart. Dann fasste er einen Entschluss. «Ich will von Sämi lernen», sagte er halblaut. «Er soll mir alles beibringen, was er von seinem Lehrer erfährt.»

Und so sassen vom nächsten Tag an Mathis Jacob und sein Jüngster nach dem Essen zusammen am grossen Tisch. Abend für Abend. Der kleine, blonde Bursche als Schulmeister seines grossen, dunklen Vaters, dessen Sehnsucht nach Bildung ihn die ungewohnte Rolle – recht eigentlich eine Umkehrung der Verhältnisse – annehmen liess. Samuel hielt sich genau an das Vorbild von Sebastian Hoffmann. Beim Bruchrechnen etwa zerschnitt er einen Apfel in zwei Hälften, dann machte er aus ihnen vier Viertel und schliesslich acht Achtel. Er brachte dem Vater bei, einen Bruch mit zwei Zahlen zu schreiben, die durch einen Strich getrennt sind, und erklärte ihm, dass unter dem Strich der Nenner anzeigt, in wie viele Teile das Ganze dividiert wird, während über dem Strich der Zähler deutlich macht, wie viele Teile des Ganzen gemeint sind. Ein paar Tage später liess er ihn wissen, dass man Brüche erweitern und kürzen konnte. Samuel führte Mathis nicht nur in die ersten Geheimnisse der Mathematik ein, er liess ihn auch an seinem neu erworbenen Wissen über Heimat- und Naturkunde, Geschichte und Geometrie teilhaben. Das Kind lehrte ihn, dass eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Auch von Pythagoras erzählte er, der rund fünfhundert Jahre vor Christi Geburt gelebt hatte. Gemeinsam konstruierten Vater und Sohn rechtwinklige Dreiecke. Auf das Erlernen französischer und lateinischer Vokabeln allerdings verzichtete Mathis. Dafür sei er zu alt, meinte er. Es falle ihm schon schwer genug zu verstehen, was ihm sein Jüngster in der Muttersprache beibringe.

Die Kenntnisse, die er sich aneignete, entsprachen lediglich jenem Basiswissen, das man Söhnen reicher Basler Stadtbürger vermittelte, um sie für den Eintritt ins Pädagogium vorzubereiten. Gleichwohl eröffnete der abendliche Unterricht bei seinem Sohn dem einfachen Mann eine neue Welt. Wenn er jetzt am Morgen oder abends im Stall seine Kühe molk, hörte er kaum mehr zu, wenn Peter und Paul einander von der kleinen Welt in Waldenburg berichteten. Mathis überdachte, was er gelernt hatte und grübelte über den praktischen Nutzen seines neuen Wissens nach. Er las jetzt auch den Hinkenden Boten aufmerksamer, jenen Volkskalender, der einmal jährlich im Spätherbst ausgeliefert wurde und dessen Titelblatt ein Kriegsinvalider mit einem Holzbein zierte. Bis dahin hatte er sich vor allem für die im Almanach publizierten Daten der regionalen Vieh- und Wochenmärkte interessiert. Nun nahm er sich auch die zahlreichen Artikel vor, welche die Leserschaft über Ereignisse des vergangenen Jahrs, diesseits und jenseits der Eidgenossenschaft, unterrichtete. Dazu kamen verschiedene Bücher, die ihm Dorothea Staehelin auslieh. Ihr war sein Lerneifer, der sie faszinierte und rührte, nicht entgangen.

Seine Frau Barbara reagierte mit gemischten Gefühlen auf die abendlichen Unterrichtsstunden. Einerseits erfüllte es sie mit Stolz, dass ihr Jüngster seinem Vater Dinge beibringen konnte, die sie selber nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte. Andererseits ärgerte sie sich im Stillen darüber, dass Madame Staehelin ihrem Mann Bücher zusteckte. Sie befürchtete, das Wissen, das sich Mathis aneignete, trage dazu bei, dass er sich, zusammen mit Sämi, immer mehr von ihr und den vier Grossen entferne. «Wir sind doch nur kleine Leute und Untertanen», hatte sie einmal, bedrängt von ihren Ängsten, die Familie könne auseinanderfallen, zu ihm gesagt. «Was willst du dich über deinen Stand erheben?»

Mathis hatte sie lange angeschaut. Dann hatte er die Stirn in Falten gezogen und sich von ihr abgewandt.

9

«Auf ein Wort, Bürger Jacob!»

Mathis, der sich nach dem sonntäglichen Gottesdienst im August 1795 mitten unter den Gläubigen vor der Peterskirche mit seinem Schwiegervater Emil Strub unterhielt, wandte sich erstaunt um. Bürger Jacob hatte ihn noch nie jemand genannt. Vor ihm stand Sebastian Hoffmann. Ihm musste die helle fordernde Männerstimme gehören. Er kannte den seltsamen Menschen, der stets enge, lange Hosen trug, nur vom Sehen. «Meint Ihr mich?»

Der Kandidat nickte. «Euer Jüngster, notabene ein überaus begabter Schüler, hat mir viel von Euch erzählt. Es ist mir ein Bedürfnis, einem Mann die Hand zu drücken, der sich nicht zu schade ist, von einem Kind zu lernen, einem Menschen, der willens ist, sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien.»

Mathis starrte den eifrigen jungen Mann, dessen Wangen sich gerötet hatten und dessen Augen ihn hinter blitzenden Brillengläsern musterten, verwundert an. «Wovon will ich mich befreien?»

«Aus Eurer selbst verschuldeten Unmündigkeit», wiederholte der Kandidat. Das Wort stamme nicht von ihm, sondern von Immanuel Kant, einem deutschen Denker. Die Menschen müssten lernen, erläuterte er, sich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. «Ihr, Bürger Jacob, gehört zu jenen, die bereits einen ersten Schritt getan haben.» Er streckte ihm seine Hand entgegen.

Zögernd schlug Mathis ein. «Und weshalb nennt Ihr mich Bürger Jacob?»

«Das ist eine Frage des Prinzips der Gleichheit, das wir Patrioten hochhalten.»

«Aha. Und Ihr seid demnach der Bürger Hoffmann?»

«Genau.»

«Bürger Hoffmann», wiederholte Mathis. Er wusste aus den verschiedenen Pamphleten, die er mit seinen Freunden im Hauskreis diskutierte, dass sich in Frankreich alle, ob hoch oder niedrig, als Bürger ansprachen. Selbst der König war, bevor man ihn um einen Kopf kürzer gemacht hatte, nur noch der Bürger Capet gewesen. Gleichwohl erschien ihm die Anrede seltsam. Sie war ihm sogar etwas genierlich – umso mehr, als er aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass sich sein Schwiegervater über den Kandidaten mokierte. «Und wie ist das nun mit der Erde?», fragte er deshalb, um das Thema zu wechseln. «Dreht sie sich tatsächlich um die eigene Achse und einmal im Jahr um die Sonne?»

Sebastian Hoffmann schaute ihn überrascht an. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. «Hat Euch das Samuel erzählt? Ja, ja, da hat er recht. Und nicht nur die Erde, auch die Planeten kreisen um die Sonne. Sie ist unser Zentralgestirn.»

Mathis fasste sich ein Herz und stellte die Frage, die ihn schon lange beschäftigte: «Drehen sich auch der Abend- und der Morgenstern um die Sonne?»

«Das sind nicht zwei Planeten, das ist nur einer: die Venus.»

«Und da seid Ihr sicher?»

«Natürlich. Ihr seht sie nur zu unterschiedlichen Zeiten, weil da oben», Hoffmann deutete zum Himmel, «alles in Bewegung ist. Ich sehe schon», sagte er nach einer kurzen Gedankenpause, «Ihr seid einer, der als Bauer fest auf der Erde steht und gleichzeitig die Arme zu den Sternen streckt. Bemerkenswert.» Er hüstelte. «Aber jetzt muss ich mich verabschieden. Pfarrer Grynäus hat seine Base, die Bürgerin Staehelin, zum Mittagessen eingeladen, und er erwartet, dass ich ihr die Honneurs mache. Es war mir eine Freude, Euch kennenzulernen.» Nochmals griff er nach Mathis’ Hand und schüttelte sie überschwänglich.

Die beiden Männer sahen ihm nach. «Da geht er, der Bürger Hoffmann, und lässt den Bürger Jacob einfach stehen», frotzelte Emil Strub.

Einen grossen Teil der folgenden Nacht verbrachte Mathis Jacob im Freien. Bereits am Nachmittag hatte er bemerkt, dass eine seiner Kühe, die trächtig war, im Verlauf der nächsten Stunden kalben würde. Sie sonderte einen zähen Schleim ab, war unruhig, legte sich hin und stand auf. Immer wieder. Er würde bei ihr bleiben, um Geburtshilfe zu leisten. Dorothea Staehelin hatte ihn gebeten, mit Salome dabei sein zu dürfen. Das Mädchen solle sehen, wie neues Leben auf die Welt komme. Mit elf Jahren sei sie alt genug zu erfahren, was jedes Bauernkind wisse. So begleiteten Mutter und Tochter den Bauern, als er nach dem Nachtessen hinaus auf die Weide ging. Barbara und ihre Kinder blieben zurück.

Es war einer jener schier unerträglich klaren Spätsommerabende, an denen die Luft, lange nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, noch schwer und süss über dem Land hängt. Die drei sassen schweigend um ein Feuer, das Mathis angezündet hatte, um die Mücken fernzuhalten. Die Kuh hielt sich in ihrer Nähe, wandte ihnen den Kopf zu und betrachtete sie aus ihren grossen, sanften Augen. Fast unmerklich wurde es dunkel. Die Konturen der Hügel waren vor dem schwarzen Himmel nur noch zu erahnen. Aus dem nahen Wald drangen die Geräusche der Nacht. Salome lehnte ihren Blondschopf an die Schulter der Mutter und verfiel in einen leichten Schlummer.

Sie erwachte, als Mathis eine Fackel entzündete, die er mitgenommen hatte. Er trat hinter das Tier, dessen Flanken arbeiteten, und zeigte dem Mädchen die Fruchtblase, die aus der Schamspalte hervordrängte. Die Wehen hatten eingesetzt. Die Kuh brüllte mehrmals. Dorothea Staehelin legte den Arm um ihre Tochter, die zum ersten Mal das Mysterium einer Geburt miterlebte. Mit gestreckten Gliedmassen lag das Tier jetzt schwer atmend auf der Seite.

«Da», sagte Mathis endlich. Er stand auf und warf einen Armvoll Holz ins Feuer. Im Schein der flackernden Flammen wurden die Vorderbeine des Kälbleins sichtbar. Eine Viertelstunde später platzte die Fruchtblase, ein Schwall Flüssigkeit ergoss sich ins Gras und Salome sah das Maul und kurz darauf den Kopf aus dem Leib des Muttertiers hervorgucken. Jetzt ging es plötzlich sehr rasch. Das Kalb wurde der Länge nach ausgestossen, und die Nabelschnur zerriss. Die Kuhmutter stand schwerfällig auf und begann ihr Neugeborenes abzulecken.

Während sie auf die Nachgeburt warteten, wollte Salome, sichtlich bemüht, das Erlebte zu verarbeiten, von ihrer Mutter wissen, ob auch sie einmal in ihrem Bauch gewesen und ob es bei ihrer eigenen Geburt ähnlich zugegangen sei. Dorothea nickte und zog sie an sich.

Gegen Mitternacht kehrten sie zum Hof zurück. Dorothea schickte Salome, der die Augen zuzufallen drohten, ins Bett. Sie selber trat zu Mathis, der, den Kopf im Nacken, in den nächtlichen Himmel starrte. Er warf ihr einen Seitenblick zu. «Da oben ist alles in Bewegung», sagte er schliesslich.

Die Frau schwieg. Ihr Pächter sei ein Mann, der mit den Füssen auf der Erde stehe und die Arme zu den Sternen strecke, hatte Sebastian Hoffmann beim Mittagessen im Pfarrhaus gesagt. Das ist ein poetisches Bild, hatte Dorothea gedacht. Der Hauslehrer des Pfarrers hatte ausserdem von den Fragen des Bauern nach den Planeten berichtet. Sie nahm an, dass Mathis jetzt versuchte, das Gehörte zu verstehen und in sein Weltbild einzufügen. «Ihr scheint einen grossen Eindruck auf den Kandidaten Hoffmann gemacht zu haben», bemerkte sie.

«So?» Wieder ein Seitenblick. «Er ist ein seltsamer Mensch. Er nannte mich Bürger Jacob.»

Sie unterdrückte ein Lächeln. «Er ist ein Schwärmer», meinte sie dann, «einer von jenen, die davon überzeugt sind, dass mit der Revolution in Frankreich auch die hohen Ideen der Aufklärung in den Köpfen der Menschen Einzug halten werden. Aber Ihr könnt ihm trauen. Er ist einer von uns.»

Einer von uns. Mathis dachte darüber nach, wer mit diesem «uns» wohl gemeint war.

«Er gehört zu den Patrioten», beantwortete Dorothea Staehelin die Frage, die er nicht gestellt hatte.

«Das hat er mir gesagt.» Mathis wusste, dass sich eine Gruppe von Basler Bürgern so nannte. Sie unterstützten den Stadtschreiber Ochs und dessen Schwager, den Ratsherrn Peter Vischer, im Kampf für die politischen Rechte der Landbevölkerung. Den Patrioten standen die Aristokraten gegenüber, die von Bürgermeister Debary angeführt wurden. Für ihresgleichen sollte die Landschaft für Zeit und Ewigkeit Untertanengebiet bleiben. Aber Ochs, frankophil und der Aufklärung verpflichtet, galt als der kommende Mann. Im Auftrag seiner Vaterstadt hatte er verschiedentlich mit den Mächtigen in Paris verhandelt. Er hatte eine wichtige Vermittlerrolle gespielt, als im letzten April ein Frieden zwischen Frankreich und Preussen und im Juli zwischen Frankreich und Spanien geschlossen wurde. Für die Gespräche hatte er sein Haus, den herrschaftlichen Holsteinerhof in Basel zur Verfügung gestellt. Peter Ochs, dachte Mathis, gehörte zu den reichen städtischen Patriziern. Auch wenn er sich für die Landleute einsetzte, war er in seinem ganzen Wesen wohl ein Gnädiger Herr. Ob er es schätzen würde, wenn ein einfacher Bauer, wie er es war, ihn als Bürger Ochs anspräche?

«Ihr sagt ‹uns›.» Mathis vermied es, sie anzusehen. «Gehört Ihr dazu?»

«Ja.» Das tönte beinahe leidenschaftlich. Sie fasste ihn am Oberarm. «Und ich hoffe, dass auch Ihr uns anschliesst, so wie der Uhrmacher Wilhelm Hoch und der Orismüller aus Liestal, zwei Landleute, die, wie Ihr, fähig sind, über ihren Stand hinauszudenken.»

Sein Körper versteifte sich. Ihre Berührung erschreckte ihn. Doch dann legte er seine Hand auf die ihre. Sie sahen sich an. Schweigend.

«Dorothe», sagte er leise und küsste sie auf die Stirn.

Sie senkte den Kopf. «Es darf nicht sein», flüsterte sie. «Du bist verheiratet.»

Am Fenster ihrer Kammer, hinter dem Vorhang verborgen, stand Barbara Jacob. Sie hatte nicht einschlafen können. Erst um Mitternacht war Mathis mit Madame und der kleinen Mamsell zurückgekehrt. Sie hatte gehört, wie Dorothea Staehelin ihre Tochter hinaufschickte. Aber ihr Mann war nicht gekommen. Schliesslich hatte sie das Bett verlassen, auf den Hof hinausgespäht und beobachtet, wie Mathis die vornehme Frau küsste. Barbara schien, sie habe sich nicht mehr von ihm lösen wollen.

Als er später die Schlafkammer betrat und zu ihr ins Ehebett stieg, kehrte sie ihm den Rücken zu und stellte sich schlafend. Er realisierte nicht, dass ihre Schultern bebten.

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