Kitabı oku: «Kaukasische Sinfonie», sayfa 2
In der Mitte des zweiten Satzes des Klavierkonzerts hat Jakobs Frau den Pavillon betreten und eine Reihe hinter mir Platz genommen. Unsere Familie ist mit den Erchingers gleich doppelt verschwägert. Maries ältere Schwester, Martha, ist mit Hannes verheiratet. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie da war. Maries Duft ist unverkennbar. Keine andere Frau in Katharinenfeld benutzt Moschusparfum. Sie ist ihrer siebenunddreissig Jahre zum Trotz noch immer eine Schönheit. Sie macht auch einiges dafür. Allein für ihre Frisur wendet sie viel Zeit auf. Mit dem Brenneisen kräuselt sie ihr volles, dunkles Haar, steckt es mit Kämmen aus Perlmutt hoch und lässt es dann kaskadenartig über ihren schmalen Rücken fallen. Kein Wunder, dass sie auffällt in einem Dorf, in dem die Frauen ihr Haar zu einem strengen Dutt knüpfen oder es zu Zöpfen flechten und als Kranz auf dem Kopf oder Schnecken über den Ohren tragen. Marie ist stets elegant gekleidet. Ausserdem trägt sie einen goldenen Halsreif und grosse, goldene Ohrringe, die Jakob für sie kurz nach der Hochzeit in Sankt Petersburg gekauft hatte. Im frommen Katharinenfeld gibt es keinen Juwelier. Wenn sie durch die Strassen geht, fast schwebend wie ein Wesen aus einer anderen Welt, wagen ihr die braven Schwaben nur verstohlen nachzuschauen. Sie fürchten ihre scharfzüngigen Ehefrauen, die über die kleine Erchinger, wie sie sie immer noch nennen, herziehen. Dieses herausgeputzte Weibsbild, behaupten sie, habe den Pfad der Tugend verlassen und sei längst in die breite Strasse eingebogen, die direkt in die Hölle führt.
Ihr Vater, Georg Erchinger, ist viel zu früh, ein Jahr vor der Hochzeit seiner jüngeren Tochter verstorben. Jakob und seine Frau leben zusammen mit Maries Mutter im elterlichen Haus am Äusseren alten Wingert. Mein Bruder hat in seiner Wohnung ein geräumiges Arbeitszimmer, in dem sein Flügel steht. Dort komponiert und übt er. Im Übrigen lässt er sich von den beiden Frauenzimmern verwöhnen. Sie lesen ihm jeden Wunsch von den Augen ab.
Marie hatte zahlreiche Verehrer. Aber sie wollte stets nur Jakob, den sie seit ihrer Kindheit liebt. Während der Sommerfrische, die Tante Lotte mit ihr und Martha auf Eben-Ezer verbrachte, stand sie, wenn Jakob Klavier spielte, stundenlang neben ihm und wendete auf sein Nicken hin die Notenblätter. Sie bewunderte ihn, wich nicht von seiner Seite, es sei denn, er wurde ihrer überdrüssig und schickte sie fort. Dann zog sie sich zurück, war unglücklich, weinte. Im Prinzip ist das noch heute so. Als Kind hat er ihr beigebracht, Klavier zu spielen, und sie ist eine ganz passable Pianistin. Ihr eigentliches Instrument ist aber die Geige. Das gab ihr die Möglichkeit, mit ihm zusammen zu sein, zu üben und später gemeinsam mit ihm aufzutreten.
Auch wenn die Katharinenfelder hinter ihrem Rücken die Mäuler über Marie zerreissen, so hindert sie dies nicht, ihr zuzujubeln, wenn sie zusammen mit ihrem Mann Vittorio Montis Czardas spielt. Sie steht in ihrem schulterfreien roten Kleid auf der Bühne, lächelnd, mit halb geschlossenen Augen, und lässt den Bogen über die Saiten ihrer Violine tanzen. Sie scheint nicht zu bemerken, dass sie ihr Publikum verzaubert und es von seinen Vorfahren träumen lässt, die einst, wie unser Vater, die Donau hinunter zum Schwarzen Meer gefahren sind.
Sie ist Primgeigerin im Orchester. Niemand neidet ihr den Posten. Marie ist unbestritten eine begnadete Violinistin, eine Künstlerin. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist allerdings hoch. Manchmal sucht sie mich in meiner Praxis auf. Sie hat Schmerzen im Nacken und in den Schultern, ausserdem im Handgelenk. Dazu kommt ihre ständige Angst, den hohen Ansprüchen Jakobs nicht zu genügen. Ich verschreibe ihr schmerzlindernde Salben, die ich nach den Rezepten von Mariam Stepanyan, der verstorbenen Hebamme und Kräuterfrau von Eben-Ezer, herstelle. Schon mein Vorgänger, Josef Erchinger, Maries Grossvater, hielt grosse Stücke auf die Heilkunst der Steppenhexe, wie er Mariam nannte. Was Marie Not täte: für ein paar Monate ganz mit dem Geigenspiel aufzuhören, um sich richtig auszukurieren. Am besten in Bordshomi, wo es Mineralquellen gibt, die Wunder bewirken sollen. Aber als ich ihr einmal den Vorschlag machte, schaute sie mich entgeistert an. «Das geht nicht», sagte sie. Ich vermute, sie hat Angst, dass Jakob sich eine andere Violinistin suchen würde, wenn sie, auch nur vorübergehend, mit dem Geigenspiel aufhörte.
Endlich richtet sich Jakob auf, schaut vom Podium herunter zu mir und begrüsst seine Frau mit einem Kopfnicken. «Rachmaninow schreibt für die Instrumentierung des Orchesters zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen und Tuba vor», zählte er auf. «Ausserdem Pauken, grosse Trommel, Becken und natürlich die Streicher. Nur die Hörner bereiten mir Bauchweh. Wir haben lediglich zwei im Orchester. Was meint ihr, soll ich mich damit begnügen oder mir bei den Generälen Ersatz besorgen?»
Generäle nennt er die Mitglieder der Blaskapelle. Die Musikanten tragen schmucke Uniformen und ziehen hinter Jakob mit schmetternden Klängen durchs Dorf. Er erwartet keine Antwort auf seine Frage. «Wenn wir das Klavierkonzert am Erntedankfest spielen wollen, kommt eine harte Zeit auf euch alle zu», sagt er stattdessen. «Ich werde wöchentliche Proben ansetzen, und natürlich Extraproben, getrennt für die Bläser und Streicher. Und üben müsst ihr, üben, üben.» Er streicht sich das rote Haar aus der Stirn.
Wir schweigen, denn wir kennen Jakob gut genug. Er wird jeden Einwand von Seiten der Orchestermitglieder weglächeln, wird keine Ausrede gelten lassen. Wer in einer Probe fehlt, wird sie einzeln nachholen müssen. In seiner sanften, hartnäckigen Art wird er nicht lockerlassen, bis alle ihren Part zu seiner Zufriedenheit beherrschen.
Die braven Katharinenfelder Musiker werden heimlich murren, aber sie werden sich seinem Willen beugen. Auch ich. Marie ohnehin. Wir alle sind stolz auf ihn, auf ihn, seine Begabung, sein Können und seine Erfolge.
Zwischen 1895 und 1898 hat Jakob am Konservatorium von Sankt Petersburg Komposition und Instrumentation studiert. Zusätzlich besuchte er Vorlesungen über musikalische Formenlehre und kontrapunktischen Satz. Ausserdem nahm er Klavierunterricht in einer Meisterklasse, sass täglich vier bis sechs Stunden am Flügel und vervollkommnete sein Spiel. Abends ging er oft in die Oper, ins Konzert oder ins Ballett. Ab und zu begleitete ich ihn. Er pflegte mit geschlossenen Augen dazusitzen. Manchmal zog er eine Kladde aus der Innentasche seines Fracks und machte sich Notizen. Er komponiert schon seit seiner Kindheit. Ein halbes Jahr vor Abschluss seiner Ausbildung wurde ihm die Aufgabe gestellt, das Gedicht Sehnsucht von Joseph von Eichendorff zu vertonen. Er schuf eine Melodie, die mir noch heute die Tränen in die Augen treibt. Jakob schloss sein Studium mit der Kleinen Goldmedaille ab.
Anschliessend begann er eine Laufbahn als Pianist. Er spielte in Kasan, Jekaterinburg, Moskau und Sankt Petersburg, gab Konzerte in Riga, Königsberg, Berlin und Dresden, in Böhmen und Mähren und sogar in Wien. Manchmal trat er gemeinsam mit Marie auf, die bereits damals konzertreif spielte. Aber um 1900, als Ludwig Wieland starb, kehrte er nach Katharinenfeld zurück und übernahm dessen Aufgaben. Seither dirigiert er nicht nur das Sinfonieorchester und die Blasmusik, sondern leitet auch den Kirchenchor und verleiht dem sonntäglichen Gottesdienst mit seinem Orgelspiel Glanz. Ab und zu geht er noch auf Tournee. Aber lediglich für wenige Konzerte in Georgien, nur ausnahmsweise auch Russland.
Ich fragte ihn einmal, ob es ihm nicht leidtue, sein Talent in unserem grusinischen Krähenwinkel versauern zu lassen. Jakob sah mich erstaunt an. «Weshalb sollte es mehr wert sein, mit seiner Kunst einem Publikum aus blasierten Adeligen und reichen Bürgern die Zeit zu vertreiben als den Nachkommen schwäbischer Einwanderer die Freude an der Musik und am Musizieren zu wecken? Und wer sagt dir, dass ich mein Talent versauern lasse?» Er ereiferte sich. «Ich versuche ständig, mein Spiel zu verbessern, komponiere und …» Er stockte, ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht. «Ich will ein grosses Orchesterwerk schaffen. Ich weiss schon, wie ich es nennen werde.» Er errötete. «Kaukasische Sinfonie», sagte er schliesslich. «In ihr soll alles enthalten sein, was wichtig ist: die Schönheit unseres Landes und die Menschen, die hier leben, arbeiten, Kinder zeugen, sie grossziehen und sterben. Und ihre Sehnsucht nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.» Er machte eine hilflose Handbewegung. «Alles. Ich stelle mir ein Werk vor, das die wichtigsten Episoden, die das Leben ausmacht, in Tönen zum Ausdruck bringt und sich unmerklich zu einem Ganzen vereint.»
Dass er seinen Traum erzählte, war zweifellos ein Vertrauensbeweis. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Auch nicht mit unserer Mutter. Obwohl ich weiss, dass sie nicht verwundert wäre, wenn sie davon erführe. Was immer mein Bruder macht, ist für sie richtig. Wenn sie an Feiertagen mit Vater, Hannes und Martha und deren Kindern zum Gottesdienst nach Katharinenfeld kommt, versäumt sie es selten, mir zu erzählen, wie er sich bereits 1879 als Dreijähriger das Klavierspiel selbst beigebracht hat. Sie war vernarrt in Jakob – sie ist es immer noch. Er ist ihr Liebling, so wie für den Vater Hannes, der einzige von uns drei Brüdern, in dessen Blut das bäuerische Erbe unserer Emmentaler Vorfahren fliesst.
Jakob
1
Im Frühjahr 1879 entdeckte Sophie Diepoldswiler, dass Jakob über ein ausserordentliches musikalisches Talent verfügte. Wenn sie am Piano sass, wich der Dreijährige nicht von ihrer Seite. Er kniete neben ihr auf der Klavierbank und schaute gebannt auf ihre Finger. Manchmal sang sie mit ihm Kinderlieder, die sie mit einfachen Akkorden begleitete. Wenn sie im Gemüsegarten arbeitete, spielte er im Kies zwischen den Beeten. Immer wieder stellte er ihr Fragen zur Musik, die ihn beschäftigten. Sophie antwortete, so gut sie konnte. Wurde es ihr zu viel, schickte sie ihn zu Mayranoush. Die Armenierin war ihre Amme gewesen. Heute führte sie die Hauswirtschaft auf Eben-Ezer.
Einmal, als Sophie aus dem Garten zurückkehrte, sass Mayranoush auf der Veranda und rüstete Gemüse. Auch wenn immer mehr graue Strähnen ihr einst rabenschwarzes Haar durchzogen, war sie, fand Sophie, die schönste Frau, die sie kannte. Niemand hatte Augen wie Mayranoush: mandelförmig, unergründlich, dunkel. Sie neigte zur Melancholie. Nur selten spielte ein Lächeln um ihre vollen Lippen. Sie war gross und schlank. Nach dem Tod ihres Verlobten, von dem sie ein Kind empfangen hatte, wollte sie nichts mehr von Männern wissen. Seit ihr Sohn, Hovan, Sophies Milchbruder, einjährig an der Bräune verstorben war, hatte sie ihre ganze Liebe Sophie geschenkt, die an ihr hing, wie man an einer Mutter hängt. Wenn sie unter sich waren, sprachen sie Armenisch miteinander.
«Wo ist Jakob?», fragte Sophie.
Mayranoush unterbrach ihre Arbeit. «Er ist oben und spielt Klavier.»
«Er spielt Klavier?» Sophie schaute sie ungläubig an.
«Gewiss, er macht das schon seit einiger Zeit. Immer wenn er aus dem Gemüsegarten kommt, geht er in eure Wohnung und spielt. Hörst du ihn nicht?»
Sophie lauschte. Tatsächlich waren aus dem Fenster ihrer Wohnung ganz leise Töne zu vernehmen – manchmal sogar Dreiklänge. «Wer hat ihn das gelehrt?»
Mayranoush lächelte. «Wenn nicht du, wer dann?»
Sophie schüttelte den Kopf. Sie ging ins Haus und stieg die Treppe hoch. Die Tür zur Wohnung war offen. Ebenso jene zum Salon. Auf der Schwelle blieb sie stehen.
Jakob kniete auf der Klavierbank, damit er die Tasten des Pianos erreichen konnte. Er sang eine offenbar selbst erfundene Melodie, verwendete dazu Worte in einer eigenen, unverständlichen Sprache und begleitete sie mit Akkorden. Sophie trat hinter ihn und schaute ihm über die Schultern. Er schlug mit dem Zeigefinger der linken Hand den Grundton an und mit Zeige- und Ringfinger der rechten die entsprechenden Tasten der grossen Terz und der Quinte. Scheinbar bereitete es ihm keine Mühe, Dreiklänge zu bilden.
Das Kind spürte, dass es nicht mehr allein war. Es brach sein Spiel ab, drehte sich um und schaute die Mutter schuldbewusst an.
Sophie hob den Kleinen hoch und schloss ihn in die Arme. «Wer hat dich das gelehrt, Jakob?»
«Niemand, es ist ganz einfach.» Der Bub löste sich von ihr. «Ich zeige es dir.» Er kniete sich wieder auf die Klavierbank. «Wenn du hier beginnst», er schlug ein C an, «und dann alle weissen Tasten der Reihe nach hintereinander spielst, dann passen die Töne zueinander, bis du wieder denselben hast wie am Anfang, nur höher. Du kannst damit weiterfahren bis ans Ende des Klaviers. Es sind immer dieselben Töne, von ganz unten bis ganz oben, genau gleich wie eine Treppe.» Sein Zeigefinger hämmerte mit rasender Geschwindigkeit drei Tonleitern hintereinander hinauf und hinunter.
Sophie war bass erstaunt. «Und schaffst du es auch, wenn du die Tonleiter», sie korrigierte sich: «die Reihe mit einer anderen Taste anfängst, beispielsweise mit dieser?» Sie zeigte aufs G. Gespannt beobachtete sie, wie Jakob einen Ton nach dem andern anschlug und nach dem E, ohne zu zögern, ein Fis spielte, bevor er mit dem eine Oktave höheren G zum Abschluss kam.
«Aber diese Reihe kannst du wohl nicht.» Sophie zeigte aufs H. Die H-Dur-Tonleiter mit ihren fünf Kreuzen schien ihr denn doch zu schwierig für den Kleinen. Jakob lachte glücklich. Im Nu spielte er h-cis-dis-e-fis-gis-ais-h und schaute die Mutter stolz an. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel.
«Ich kann noch mehr.» Jakob spielte sein Lieblingslied: C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Caffee! Er sang es und spielte dazu, zeitlich versetzt, die zweite Stimme auf dem Klavier.
«Ich fasse es nicht», flüsterte Sophie. «Sag einmal Jakob», sie trat zu ihm ans Piano, «weisst du auch wie die Töne heissen? Zum Beispiel dieser hier?» Sie deutete aufs C.
Der Kleine sah sie verwundert an. «Haben sie denn Namen?»
«Und wie nennt man das?» Sophie spielte eine Tonleiter.
«Eine Reihe?», fragte Jakob zweifelnd.
«Kannst du drei Töne, die zusammenpassen, gleichzeitig spielen?»
Der Bub schlug verschiedene Dur- und Moll-Akkorde an.
«Und wie sagt man diesen drei Tönen?»
«Ich weiss es nicht.»
Sophie fuhr ihm über den Kopf: «Das musst du auch nicht wissen, mein Liebling, noch nicht. Ich bin stolz auf dich!» Sie nahm sich vor, ihm zu zeigen, wie man richtig spielt, welche Finger auf welche Tasten gehören.
Von diesem Tag an setzte sie sich jeden Morgen eine Stunde mit Jakob ans Klavier. Zuerst brachte sie ihm bei, wie man Tonleitern hinauf und hinunter korrekt mit den fünf Fingern der rechten Hand spielt. Sophie gab ihm auf, das Erlernte fleissig zu üben. «Du musst so weit kommen», erklärte sie ihm, «dass deine Finger, ohne dass du denkst, die richtigen Tasten von allein finden.» Aber das war kein Problem für ihn. So konnte sie ihm schon bald zeigen, wie man die linke Hand einsetzt.
Lange bevor sie Jakob im Klavierspiel unterrichtete, hatte Sophie mit ihm zahlreiche Kanons gesungen. Jeden Abend vor dem Einschlafen: Dona nobis pacem oder O wie wohl ist mir am Abend, tagsüber: Froh zu sein, bedarf es wenig, auch Hejo, spann den Wagen an und natürlich Bruder Jakob, an dem er wegen der Namensvetternschaft besonders Freude hatte.
Zwei Jahre später war Jakob in der Lage, anspruchsvolle Stücke zu spielen. Sophie würde jenen Sonntag Ende März wohl nie vergessen. Als sie und Simon von einem Spaziergang zurückkehrten, überraschten sie ihre beiden grusinischen Mägde, die im Treppenhaus standen und andächtig dem Klavierspiel lauschten, das durch die angelehnte Wohnungstür in der Beletage klang. Sophie hielt ihren Mann am Arm zurück. «Jakob hat ein neues Stück entdeckt», flüsterte sie.
«Kennst du es?», fragte Simon.
Sie nickte. «Es ist der Fandango in d-Moll von Padre Antonio Soler, einem spanischen Komponisten. Ich habe ihn im letzten November geübt. Aber er spielt ihn besser als ich!»
«Der Kleine ist ein Künstler», behauptete Ekaterina, als die Schlussakkorde verklungen waren. Tamara nickte bestätigend.
«Was sagt sie?», fragte Simon, der nicht Georgisch konnte.
«Jakob sei ein Künstler», übersetzte Sophie. Sie registrierte, wie ihr Mann lächelte.
«Ein Künstler», wiederholte er. Jakob, das wurde er nicht müde zu behaupten, sei seinem eigenen, viel zu früh verstorbenen Bruder, dem Maler, dessen Namen er trug, wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie sein Onkel war der kleine Jakob feingliedrig, hatte ein von Sommersprossen übersätes Gesicht und rotes, weiches Haar. Sophies Schwager hatte einige Bilder und Skizzen hinterlassen, die in ihrer Wohnung hingen. Sie hätte ihn gerne gekannt.
Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock erschien Jakob.
«Das hast du wunderbar gespielt!», rief Sophie.
«Ich habe es mit Herrn Fresendorff heimlich geübt», sagte der Bub. «Es ist ein Geschenk für dich.»
2
Seit einem Jahr gab es auf Eben-Ezer einen neuen Bewohner: Cornelius Fresendorff, den Hauslehrer von Karl und Hannes, die inzwischen acht-, respektive siebenjährig waren. Er wolle nicht, dass seine Buben bei den Schwaben in Katharinenfeld zur Schule gehen, hatte Simon erklärt. Dort würden sie zusammen mit fünf Dutzend anderen Kindern unterrichtet und lernten wenig bis nichts. Er wusste, wovon er sprach. Er selbst war in seiner Kindheit im Emmental während sechs Jahren im Winterhalbjahr mit fünfundsiebzig Leidensgenossen in einer engen Stube eingepfercht gewesen, wo ein überforderter Schulmeister mit zweifelhaftem Erfolg der ungebärdigen Schar die Grundlagen des Schreibens und Rechnens eingeprügelt hatte. Tatsache war, dass Simon noch heute keinen fehlerfreien Brief zustande brachte. Dass er fähig war, die Bücher eines Gutsbetriebes zu führen, verdankte er den Brüdern Hieronymus und Benedict Lüthi, bei denen er das Käserhandwerk erlernt hatte.
«Ich will, dass wir für Karl und Hannes einen Hauslehrer anstellen», hatte Simon gesagt. «Am besten einen aus dem Baltikum.» Dort spreche man Deutsch und Russisch, und richtig Russisch sprechen und schreiben müssten die Buben lernen, wenn sie es in Grusinien zu etwas bringen wollten. Er hatte einem Agenten in Tiflis den Auftrag gegeben, in Riga in der Zeitung für Stadt und Land ein entsprechendes Inserat aufzugeben.
Immer wenn sie an Cornelius Fresendorffs Ankunft auf Eben-Ezer dachte, musste Sophie lächeln. Sie und Simon hatten am Teich im Blumengarten miteinander geplaudert, als ein Fremder durch die Birnbaumallee aufs Herrenhaus zuritt. Sie sahen ihm belustigt entgegen. Der Mann fühlte sich sichtlich unwohl auf seinem Maulesel. Ein zweites Tier, das sein Gepäck trug, führte er am Halfter neben sich her. Er war kleingewachsen und etwas rundlich. Seinem noch unfertigen, bartlosen Gesicht konnte man entnehmen, dass er nur wenig über zwanzig war. Er trug einen schwarzen Anzug, ausserdem einen breitkrempigen Hut. Durch die runden Gläser seiner Brille musterte er das Ehepaar und fragte, ob dies hier das Gut der Diepoldswilers sei.
Sophie wurde warm ums Herz. Er sprach das Deutsch der Balten, dasselbe, das ihr Vater gesprochen hatte. «Ihr seid gewiss unser neuer Hauslehrer. Herzlich willkommen auf Eben-Ezer!», begrüsste sie ihn.
Er stieg umständlich von seinem Tier und zog den Hut, unter dem ein schwarzer Haarschopf zum Vorschein kam. Er deutete eine Verbeugung an und schlug die Hacken zusammen. «Gestatten», sagte er, «Cornelius Fresendorff.» Die lange Fahrt mit der Eisenbahn und in Postkutschen habe ihm die Seele aus dem Leib geschüttelt, klagte er. Dass er am Schluss in Katharinenfeld noch zwei Maulesel habe mieten müssen, ausgerechnet er, der weiss Gott kein Reitersmann sei, habe seiner Reise nach Grusinien die Krone aufgesetzt.
«Ihr seid also aus den Ostseeprovinzen», eröffnete Simon beim Nachtessen, das man wie üblich gemeinsam mit dem Gesinde einnahm, das Gespräch. Er bemühte sich, jenes Hochdeutsch zu sprechen, das er aus den Büchern Gotthelfs kannte. Üblicherweise blieb er beim Berndeutschen. Mit den Dienstboten und den Leuten aus dem Dorf redete er ein fehlerhaftes Russisch, das er sich im Laufe der Jahre mühsam angelernt hatte.
«Aus Kurland», beantwortete Fresendorff Simons Frage, «um genau zu sein, aus Libau, wo mein Herr Vater als Arzt praktiziert.»
«Und studiert habt Ihr in Sankt Petersburg?»
«Ja. Mein Vater, dem ich in meiner Jugend oft assistiert habe, hätte es zwar lieber gesehen, wenn ich nach Dorpat gegangen und Medikus geworden wäre, wie er. Aber ich habe mir in den Kopf gesetzt, klassische Philologie und Geschichte zu studieren.»
«Philosophie, meint Ihr wohl?», fragte Simon.
«Nein, Philologie – Sprachwissenschaften.» Der junge Mann säbelte ein grosses Stück vom Schmorbraten ab, den Sophie nach einem Rezept ihrer Grossmutter zubereitet hatte. Er balancierte es auf seinen Teller, zerkleinerte es, spiesste ein Stück ums andere mit seiner Gabel auf und spülte alles mit einem tüchtigen Schluck Wein hinunter. Klassische Philologie, dozierte er, beschäftige sich mit altgriechischen und lateinischen Texten, mit Dramen, Epen und Lyrik, aber auch mit historiographischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Zeugnissen der alten Römer und Griechen.
«Aha», sagte Simon und machte ein ratloses Gesicht. Ihm wurde bewusst, dass er einen seltsamen Vogel auf den Hof geholt hatte.
Sophie wirkte eher besorgt. «Und das alles müssen meine Buben jetzt bei Euch lernen?»
«Gott bewahre!» Fresendorff hielt Wassilij, dem alten Diener des Barons, der den Mundschenk machte, das leere Weinglas hin. «Ich bringe ihnen zuerst einmal Lesen und Schreiben bei, auf Deutsch und Russisch, dann Rechnen, später Geschichte, Naturkunde und Geografie. Wenn es Euch recht ist, beginne ich mit dem Unterricht gleich morgen: vier Stunden am Vormittag, zwei am Nachmittag. Am Mittwoch- und am Samstagnachmittag sollen sie frei haben.»
Sophie sah ihren Mann fragend an. Der zuckte mit den Schultern. «Das ist in Ordnung», meinte sie. «Ich habe im Anbau ein Schulzimmer eingerichtet: ein Pult und eine Wandtafel für Euch, zwei kleine Tische und Schiefertafeln samt Griffel für Karl und Hannes. Wenn Ihr mehr braucht, so sagt es mir.»
Cornelius Fresendorff lebte sich auf Eben-Ezer ein. Sobald sie die Schulstube betraten, war ihr Lehrer für Karl und Hannes die höchste Autorität. Sie fügten sich willig seinen Anweisungen, bemühten sich, seinen Anforderungen gerecht zu werden, und gierten nach seinem Lob. Mayranoush schloss den jungen Mann, der ihr, so gelehrt er auch sein mochte, etwas weltfremd erschien, in ihr Herz. Sie half ihm, seine beiden Kammern unter dem Dach einzurichten: einen Schlafraum und eine Stube mit einem Kanonenofen, der im Winter für behagliche Wärme sorgte. In dieser kleinen Wohnung hatte Simon vor seiner Heirat gelebt. Die Armenierin bat Hovhannes Stepanyan, den Zimmermann, für den neuen Lehrer ein Regal anzufertigen, in das er seine vielen Bücher einordnen konnte. Sie selbst nähte ihm Kleider, die hier draussen in der Steppe praktischer waren als sein schwarzer Anzug.
Wenn die Buben im Bett waren, trafen sich die Diepoldswilers mit Mayranoush und Cornelius im Salon. Wie schon zu Zeiten des Barons wurde für die Männer Cognac serviert, während die Frauen aus winzigen Tassen stark gesüssten türkischen Kaffee tranken. Man plauderte, erzählte sich Geschichten und Fresendorff las aus Büchern vor, welche die anderen nicht kannten. Ab und zu sang Sophie Lieder aus Des Knaben Wunderhorn und begleitete sich dazu auf dem Klavier.
Eines Abends brachte der Balte eine Klarinette mit. Er habe in Sankt Petersburg in einem Orchester mitgespielt, sagte er, und wenn sie nichts dagegen habe, so könne man gemeinsam musizieren.
«Was möchtet Ihr denn spielen?», fragte Sophie.
Ob sie den Walzer aus der Schönen Helena von Jacques Offenbach kenne?
Sophie erstarrte. Im Sommer vor neun Jahren hatte eine Kosakeneinheit, die zur russisch-osmanischen Grenze unterwegs war, auf dem Gutshof drei Tage gerastet. Baron von Fenzlau hatte den Offizieren in seinem Haus Gastrecht gewährt. Auf seinen Wunsch hatte Sophie, damals ein siebzehnjähriges, törichtes Ding, zur Unterhaltung der Gäste Leutnant Schota Awalischwili, der seine Violine mit sich führte, auf dem Piano zu Offenbachs Walzer begleitet. Sie hatte sich in den gut aussehenden jungen Mann verguckt. Am nächsten Tag war sie auf dem Hügel bei der alten Kapelle, dort, wo jetzt das Grab ihres Vaters war, von ihm verführt worden. Hätte Simon sie nicht geheiratet und ihren Erstgeborenen, Karl, als eigenen Sohn anerkannt, würde sie heute ein vaterloses, unter liederlichen Verhältnissen gezeugtes Kind aufziehen müssen. Ihr Mann wusste nichts Genaues von den Umständen, die zu ihrer Schwangerschaft geführt hatten. Er wollte es auch gar nicht wissen, denn das gehörte zu den Dingen, über die man auf Eben-Ezer nicht sprach.
Und jetzt kam dieser Mensch aus Kurland und wollte mit ihr den Walzer spielen, der sie, nachdem der Leutnant weitergeritten war, über Wochen als Ohrwurm gequält hatte. «Nein!», sagte sie schroff. «Ich kenne das Stück nicht und will es auch nicht kennenlernen.»
Fresendorff schaute sie verwundert an und spielte dann die ersten Takte von Ännchen von Tharau. «Aber das habt Ihr gewiss schon gehört?»
Sophie nickte. Sie kannte das populäre Liebeslied.
Von diesem Abend an spielten die beiden regelmässig deutsche und russische Volkslieder – er mit seiner Klarinette die Grundmelodie, sie die Begleitung. Wenn Sophie sang, dann intonierte der Hauslehrer, zum Vergnügen von Simon und Mayranoush, die zweite Stimme. Karl, Hannes und der fünfjährige Jakob stiegen aus den Betten und schlichen sich in ihren Hemden vor die Tür des Salons, um zuzuhören. Und selbst der alte Wassilij, zu dessen Pflichten es gehörte, die sechs Ulmer Doggen aus ihrem Zwinger zu befreien, damit sie nachts das Anwesen schützten, blieb draussen auf dem Platz vor dem Haus unter dem offenen Fenster stehen und lauschte.
Cornelius Fresendorff war ein musikalischer Mensch, dem Jakobs Talent nicht verborgen blieb. Er war der Meinung, das Kind sei alt genug, die Grundzüge der Musiktheorie kennenzulernen. «Wenn mich nicht alles täuscht, verfügt Euer Jüngster über eine ausserordentliche Begabung, die unterstützt werden muss», sagte er zu Sophie. Er würde sich freuen, Jakob einmal in der Woche unterrichten zu dürfen. Zögernd stimmte sie zu, und so lehrte Fresendorff Jakob seit einem halben Jahr die Notenschrift, sprach mit ihm über Taktarten und Rhythmen, über Tonhöhen, Intervalle und Akkorde, und selbst die systematische Anordnung aller zwölf Dur- und Molltonarten im Quintenzirkel erläuterte er ihm.
Bereits nach kurzer Zeit war Jakob in der Lage, einfache Lieder ab Blatt zu spielen. Sobald er die Melodien im Kopf hatte, begann er sie zu variieren. Tatsächlich schien ihm das Improvisieren und das Erfinden neuer Melodien mehr Freude zu machen als das strenge Spiel nach Vorgabe.
«Du musst zuerst die Grundlagen beherrschen, bevor du zu komponieren beginnst», versuchte Cornelius Fresendorff ihn zu bremsen.
«Aber die Melodien sind hier drin!» Der Bub schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Sie wollen hinaus. Ich muss sie spielen.»
Kurz vor Weihnachten gab der Balte Jakob den Klavierauszug des ersten Satzes der Berchtoldsgaden-Musik. «Versuch das einmal!», forderte er ihn auf. «Es stammt von Leopold Mozart, dem Vater des grossen Wolfgang Amadeus, der bereits als Sechsjähriger in Konzertsälen aufgetreten ist.»
Jakob setzte an, spielte die ersten Takte, zögerte, spielte weiter. Manchmal unterliefen ihm Fehler. Sein Lehrer stand daneben, schweigend. Sophie verkrampfte die Hände. «Das ging schon ganz ordentlich», meinte Fresendorff, als der Junge schliesslich aufblickte. «Das werden wir jetzt üben, bis es sitzt, und so werden wir es in Zukunft mit allem halten, was ich dir gebe.»