Kitabı oku: «Kaukasische Sinfonie», sayfa 4

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Am Sonntag nach dem Besuch auf Mamutlie ritt Simon auf seinem Kabardiner Verdandi südwärts durch die Steppe. Er hatte den Arm um Hannes gelegt, der vor ihm im Sattel sass. Vater und Sohn wurden begleitet von Lewan Gabaschwili, einem Georgier aus dem Dorf, Cornelius Fresendorff und Wassilij. Der Russe sass, seinem Alter zum Trotz, noch immer gut im Sattel. Er hatte darum gebeten, mitkommen zu dürfen. Die Männer hatten ihre Nabadis, Hirtenmäntel, die man beim Schlafen als Decken benutzen konnte, hinter ihren Sätteln aufgeschnallt. Ihr Ziel war Baron von Fenzlaus ehemalige Jagdhütte am Ufer des Pinesauri. Sie würde Gabaschwili als künftige Wohnung dienen. Nachdem durch den Erwerb des Kutzschenbachschen Forsts die Waldungen von Eben-Ezer markant grösser geworden waren, hatte sich Simon entschlossen, dem jungen Mann, der bis dahin in der Zimmerei von Hovhannes Stepanyan gearbeitet hatte, das Amt eines Wald- und Wildhüters anzuvertrauen.

Ab und zu warf Simon einen Blick auf Cornelius. Er hatte nicht vergessen, wie erbärmlich der junge Mann bei seiner Ankunft auf Eben-Ezer auf seinem Maulesel gesessen war. Damals hatte er sich vorgenommen, ihm das Reiten beizubringen. «Hier draussen müsst Ihr mit einem Pferd umgehen können», hatte er ihm erklärt. «Ihr werdet mich von jetzt an einmal in der Woche begleiten, wenn ich bei den Hirten, die mein Vieh hüten, zum Rechten sehe.»

«Ich muss doch Karl und Hannes das Abc beibringen», hatte Cornelius einzuwenden gewagt. Ihm graute davor, mit dem Patron durch die Steppe zu galoppieren.

«Den Unterricht könnt ihr am Mittwochnachmittag nachholen, wenn die Buben freihaben.» Simon war energisch geworden: «Wenn einmal eine Bande von Tataren hinter Euch her ist, werdet Ihr froh sein, reiten zu können. Und wenn wir schon davon sprechen», er hatte den Schulmeister streng angeschaut, «könnt Ihr mit einem Gewehr umgehen?»

«Um Himmels willen!» Der Balte war ehrlich entsetzt gewesen. «Ich habe noch nie eine Flinte in den Händen gehabt. Ich bin ein friedlicher Mensch. Von meinem Vater habe ich gelernt, Wunden zu heilen, nicht welche zuzufügen.»

«Dann ist es höchste Zeit, dass sich das ändert. Ich werde Euch schiessen lehren. Glaubt mir: Früher oder später werdet Ihr es brauchen. Ihr seid nicht mehr in Libau. Dies ist ein wildes Land, und wer sich nicht zu wehren weiss …» Simon hatte den Satz nicht beendet.

Zu seiner Befriedigung sass Fresendorff inzwischen ganz passabel im Sattel. Mit seinen Schiesskünsten war es allerdings nicht weit her. Noch immer erschrak er, wenn er den Abzug betätigte, und verzog regelmässig jeden Schuss.

Es war ein herrlicher Frühsommertag. Das kniehohe Gras, das reif für den ersten Schnitt war, beugte sich unter einer sanften Brise. Simon machte Hannes auf fünf grosse Vögel aufmerksam, die mit weit ausgebreiteten Schwingen scheinbar schwerelos hoch über ihnen am Himmel kreisten. «Das sind Gänsegeier», sagte er. «Du erkennst sie an ihrem hellbraunen Federkleid und den fast schwarzen Schwingen, dem weissen Kopf und dem kurzen Schwanz. Sie wohnen im Gebirge.»

«In den Nassen Bergen?»

Dass sich der Bub noch an den Namen erinnerte!

Am Pfingstsonntag waren die Diepoldswilers mit Alexander von Kutzschenbach auf die Hochebene gestiegen, die zu dessen Besitz gehörte. Es war eine baumlose, mit dichtem Gras bewachsene Steppe. Sophie war von den zahlreichen Blumen, die da oben wuchsen, entzückt gewesen. Sie hatte verschiedene Enziane und Hyazinthen entdeckt, rote, blaue und weisse Bergkornblumen, ferner zahlreiche Arten von Glockenblumen, Rittersporn, Eisenhut und sogar eine ihr unbekannte Orchideenart: ein einzelner, purpurroter Kelch auf einem hohen Stängel.

Man befinde sich auf rund tausendsiebenhundert Meter über dem Meer und auf dem Breitengrad von Nizza, hatte ihr Herr von Kutzschenbach erklärt. Sowohl für Menschen und Tiere als auch für die Vegetation sei das Klima ausserordentlich günstig. Er habe hier oben eine Käserei, denn er nutze das Plateau als Sömmerung für sein Vieh.

Man picknickte am Ufer eines Stausees, den man als Reservoir für die Bewässerung des Talkessels von Mamutlie angelegt hatte. Fern im Norden schienen die mit Schnee und Eis bedeckten Gipfel des Grossen Kaukasus bis in den Himmel zu ragen. Im Süden schimmerte bläulich die Kette der Nassen Berge, die von den Einheimischen Kriego genannt wurden. Sie waren bis zu dreitausend Meter hoch und trennten Georgien von Armenien.

«Ja, vielleicht nisten die Geier in den Nassen Bergen», bestätigte Simon. «Vielleicht auch im Dschawachetischen Gebirge, wer weiss das schon.»

Hannes schwieg. Man war nun bereits seit zwei Stunden unterwegs. Er lehnte den Kopf gegen die Brust seines Vaters, der ihn an sich zog. Nach einer Weile schlief er ein.

Cornelius Fresendorff, der sich bisher mit Gabaschwili unterhalten hatte, lenkte sein Pferd neben jenes von Simon. «Lewan erzählt mir, Mamutlie sei ein kleines Fürstentum. Die Tataren würden Herrn von Kutzschenbach Boeg-Aga nennen – grosser Herr.»

Simon lachte. «Jedenfalls herrscht er über viele Leute: deutsche Handwerker und Schweizer Käser, deren Kinder in der Kirche, die unter der Woche als Schulhaus dient, unterrichtet werden. Die Hofknechte sind fast durchweg Ungläubige. Ihre Frauen werden als Melkerinnen beschäftigt. Zu Mamutlie gehören ausserdem noch fünf weitere Güter. Bogas-Kessan bewirtschaftet von Kutzschenbach selbst, die andern vier hat er an Einheimische verpachtet.»

«Und weshalb macht er das?»

«Wahrscheinlich findet er, es sei klüger, von den Tataren Pachtzins zu bekommen, als sie sein Vieh stehlen zu lassen.»

«Also ist er das – ein Boeg-Aga?»

Simon zuckte mit den Schultern. Genau darüber hatten er und Sophie auf der Rückreise nach Eben-Ezer eine Auseinandersetzung gehabt.

Als sie am Pfingstmontag, erneut begleitet von vier Leibwächtern, in ihrer Kutsche heimwärts gefahren waren, hatte Sophie aus dem Fond des Gefährts spöttisch bemerkt: «Eine Oase deutschen Schaffensgeists.»

«Wie bitte?» Simon, der die Zügel in den Händen hielt, hatte den Kopf halb nach hinten gedreht.

«Mamutlie sei eine Oase deutschen Schaffensgeists, hat er am Samstag gesagt, und gestern, als wir mit den Kutzschenbachs in die Kirche gingen, nannte er sein Gut ‹ein deutsches Dorf nach deutscher Art und in deutschem Geist›. Hast du das nicht gehört?»

«Ist es denn nicht so?», hatte sich Simon gewundert.

«Nun, mir will scheinen, beim Aufbau der Siedlung hätten auch Schweizer geholfen, Grusinier, Armenier, Griechen, Perser und Tataren. Ich weiss das von seiner Frau. Auch Barbara hat ihren Beitrag geleistet: Sie kümmert sich nicht nur um die Hauswirtschaft, sondern auch um die Herrschaften aus Tiflis, Leute von der Regierung mit ihren Frauen, die nach Mamutlie kommen, um zu sehen, wie man sich dort inmitten von Räuberdörfern eingerichtet hat. Die arme Frau!» Sophie seufzte.

«Weshalb soll sie eine arme Frau sein?»

«Ist dir an ihren Kindern nichts aufgefallen?»

«Es sind ganz normale gesunde Buben und Mädchen.»

«Karl, der älteste, ist sechzehn», begann Sophie aufzuzählen. «Margarethe fünfzehn, Alex zwölf, Kurt zehn.» Sie machte eine Pause. «Elisabeth ist drei, und Marie kam letztes Jahr auf die Welt.» Sophie schaute ihren Mann bedeutungsvoll an.

Simon zuckte mit den Schultern. «Ja und?» Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte.

«Zwischen Kurt und Elisabeth ist eine Lücke von sieben Jahren! Barbara hat in dieser Zeit vier weitere Kinder geboren. Drei von ihnen wurden innerhalb einer Woche von der Bräune dahingerafft. Sie waren damals zwischen zwei und vier Jahre alt. Das vierte Kind, ein sechsjähriges Mädchen, ging ein Jahr darauf elend an der Brechruhr zugrunde. Sie alle liegen auf dem Friedhof von Mamutlie. Kannst du dir vorstellen, was es heisst, vier Kinder zu verlieren?»

Simon, der auf dem Kutschbock sass, wandte ihr den Rücken zu, so dass sie nicht sehen konnte, wie sich sein Gesicht verfinsterte. Der Tod hatte ihn während seiner ganzen Kindheit und Jugend begleitet. Als er neun Jahre alt war, stand er am Sarg seiner Mutter, die zusammen mit dem Brüderlein begraben wurde, das sie tot zur Welt gebracht hatte. Zwei Jahre später schleiften zwei durchgebrannte Pferde seinen Vater zu Tode. Er war dreizehn gewesen, als seine Schwester Esther, die von ihrem Vetter vergewaltigt worden war, ihre Leibesfrucht von einer Kurpfuscherin abtreiben liess und den Eingriff nicht überlebte. Fünf Jahre darauf krepierte sein Bruder Jakob nach langem Leiden an der Schwindsucht. Sophie brauchte ihn nicht zu fragen, ob er sich vorstellen konnte, wie Barbara von Kutzschenbach gelitten haben musste. Wahrscheinlich hatte sie, so wie er, den Schmerz in sich hineingefressen.

Karl, der dem Gespräch gefolgt war, enthob Simon einer Antwort, die wohl schroff ausgefallen wäre. «Was ist die Bräune?», fragte er.

Sophie erstarrte. Die Halsenge, wie die Bräune auch genannt wurde, war der Schrecken aller Mütter. Die Schwaben in Katharinenfeld bezeichneten die Krankheit als den Würgeengel der Kinder. Sie forderte auf der ganzen Welt Jahr für Jahr Zehntausende von Opfern. «Das ist eine furchtbare Krankheit. Die Ärzte nennen sie Diphterie», erklärte sie. «Im Rachen entwickelt sich ein schlecht riechender, weissgelblicher Belag, man hat starke Schmerzen im Hals, man hat Fieber, man hustet, und das Atmen fällt einem immer schwerer. Mayranoushs kleiner Sohn, mein Milchbruder Hovan, ist daran gestorben – und eben, drei Kinder von Frau Kutzschenbach.»

«Und die Brechruhr?» Karl wollte immer alles ganz genau wissen.

«Das kann ich dir sagen.» Simon drehte den Kopf zum Jungen, der schräg hinter ihm sass. «Sie brach auf dem Schiff aus, mit dem wir mit der Auswandererharmonie der Kinder Gottes von Schwaikheim, einer Gruppe von Frömmlern», er lachte trocken, «die Donau hinuntergefahren sind. Mich hat es auch erwischt. Man kann seinen Stuhl nicht zurückhalten, und man kotzt sich die Seele aus dem Leib. Es ist, als müsse man auslaufen. Ausserdem sinkt die Körpertemperatur, man friert ständig und phantasiert wirres Zeug. Vierzehn von uns sind gestorben. Wir haben sie auf einer Donauinsel bestatten müssen. Ich habe nur überlebt, weil mein Bruder mich gepflegt hat.» Er verstummte und liess seine Schultern fallen.

Sophie legte Karl die Hand auf den Arm und bedeutete ihm, keine weiteren Fragen mehr zu stellen.

Gestern nach dem Gottesdienst in der Kirche von Mamutlie hatten sie und Barbara die vier Kindergräber besucht. Die Mutter war mit gefalteten Händen und unbewegtem Gesicht dagestanden. Betete sie? Aus ihrem hochgesteckten Haar hatte sich eine Strähne gelöst und war ihr ins Gesicht gefallen. Sie schien es nicht zu bemerken. Als Sophie sie nach einer Weile fragte, wie sie diesen vierfachen Schicksalsschlag überlebt habe, zitierte Barbara aus dem Buch Hiob: «Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?» Wie fast alle Kolonistenfrauen war sie bibelfest. Sie lese, gestand sie, jeden Tag ein Kapitel aus der Heiligen Schrift und schöpfe daraus Kraft.

«Die arme Frau», wiederholte Sophie. «Zehn Mal war sie bisher schwanger. Neben der Erziehung der Kinder muss sie für die ganze Familie kochen und plätten. Zusammen mit ihrer hochbetagten Mutter flickt und näht sie bis tief in die Nacht hinein. Es hat Jahre gedauert, bis sie eine tüchtige Hausangestellte aus der Schweiz bekam, Käthi Bieri, die jetzt mit Gottlieb Graf verheiratet ist. Stell dir vor: Barbara war noch nie in Tiflis, obwohl ihr Mann häufig dort ist und sich von den Einheimischen als Boeg-Aga ansprechen lässt – hoher Herr, als sei er ein englischer Sahib in Indien.»

«Was stört dich daran?»

«Wie nennen dich unsere Leute auf Eben-Ezer?»

«Simon, sagen sie zu mir, und manchmal Patron.»

«Eben. Und weshalb beschäftigst du auf unserem Hof keine Schweizer und Deutschen?»

«Die Grusinier und Armenier, die bei uns leben, sind tüchtige Leute, die ihr Handwerk verstehen. Und was das Käsen betrifft, so haben Dawit Achwlediani und seine Söhne rasch begriffen, wie man Emmentaler produziert. Was soll ich also Schweizer anstellen, die erst noch eine höhere Entlöhnung erwarten?»

«Die Schweizer von Herrn von Kutzschenbach haben sich, nachdem sie genügend Geld erspart hatten, selbstständig gemacht, so wie unser Nachbar, Gottlieb Graf», sagte Sophie. «Sie haben von adeligen Grossgrundbesitzern Land gekauft, auf dem seit Generationen Einheimische als Pächter und Kleinbauern lebten. Den armen Leuten blieb nichts anderes übrig, als sich den neuen Herren als Hirten und als Melkerinnen anzudienen.»

«Worauf willst du hinaus?»

«Kurz vor seinem Tod hat mein Vater in sein Lebensbuch geschrieben: Wir Siedler sind nur zu Gast in diesem Land, und es wird sich eines Tages rächen, dass wir uns aufführen, als gehöre es uns. Der Boeg-Aga auf seiner ‹Oase deutschen Schaffensgeists› täte gut daran, sich diesen Satz hinter die Ohren zu schreiben, statt immer mehr Fremde anzustellen, die den Einheimischen ihr Land wegnehmen.»

«Lewan hat mir von Räuberbanden erzählt, welche die Gegend um Mamutlie unsicher machen», unterbrach Cornelius Simons Gedankengänge. «Wie setzt sich Herr von Kutzschenbach gegen sie zur Wehr?»

«Er hat eine bewaffnete Leibwache, zehn berittene Tataren.» Ihm scheine, hatte Simon vor einer Woche zum Deutschen gesagt, seine Garde unterscheide sich nicht gross von den tatarischen Viehdieben, mit denen er sich auf Eben-Ezer herumschlage. Von Kutzschenbach hatte gelacht. «Die meisten von ihnen waren wohl selbst Räuber, bis sie in meine Dienste traten. Wie heisst es so schön? Der Armenier treibt Handel, der Georgier feiert, der Russe trinkt Wodka, und der Tatar stiehlt.» Tatsächlich kenne kaum ein Asiate die deutschen Begriffe Zuverlässigkeit, Pflichttreue und Pünktlichkeit, fuhr er fort. Man müsse sie behandeln wie Kinder: streng, aber gerecht. Nur durch ein gutes Beispiel und Erziehung gelinge es, aus einem Tataren einen brauchbaren Menschen zu machen.

Kurz vor der Abreise hatte Alexander von Kutzschenbach Simon noch eine Warnung mit auf den Weg gegeben: «Mein Haupttschapar Allachwer wird euch mit drei seiner Leute bis Kariani begleiten und dort Zviad Ratischwili einen Brief übergeben, in dem ich ihm mitteile, dass ich mich entschieden habe, meinen Wald bei Dmanissi Ihnen und nicht ihm zu verkaufen. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Er ist ein cholerischer Mensch und wird meinen Entschluss nicht einfach akzeptieren. Wenn ich Ihnen raten darf: Seien Sie auf der Hut vor ihm. Die Ratischwilis sind eine gewalttätige Brut. Sie sind es schon immer gewesen.»

Er sei nie unbewaffnet unterwegs, hatte Simon erwidert, und er wisse sich zu wehren.

Ratischwili
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Die vier Reiter erreichten das einfache Blockhaus am Pinesauri, in dem Lewan Gabaschwili in Zukunft hausen würde. Hannes bestaunte das gewaltige Geweih, das über der Türe befestigt war.

«Dein Grossvater hat diesen Hirsch erlegt», sagte Simon. «Er war ein grosser Jäger.»

Die Sonne hatte bereits den Zenit überschritten. Nach einem kleinen Imbiss drängte Simon darauf weiterzureiten. Er wollte Lewan den neuen Wald zeigen. Sie folgten einem schmalen Pfad flussaufwärts. Unterwegs erklärte Simon dem Georgier, wie er sich die Bewirtschaftung des Forsts vorstelle. Seine Lehrmeister, die Brüder Lüthi auf dem Ulmenhof, waren auch Waldbesitzer gewesen. Sie hatten ihm beigebracht, was unter Jungwuchspflege zu verstehen sei und dass eine Waldung durchforstet werden müsse, um die Stabilität des Baumbestandes sicherzustellen und den Zuwachs zu lenken. Er legte dem Georgier ans Herz, dort, wo die Laubbäume ihre im Schatten der eigenen Krone abgestorbenen Äste nicht von allein verlören, im unteren Stammbereich, eine Astung vorzunehmen, um die Qualität des Holzes zu erhöhen. Schliesslich kam er auf Wildschäden zu sprechen, die, wenn es zu viel Reh-, Rot- und Schwarzwild gab, für die Entwicklung eines Mischwaldes eine ernsthafte Gefahr darstellten. «Du wirst die Tiere im Auge behalten und mir berichten, wenn wir zur Jagd blasen müssen. Im Übrigen wirst du dort, wo es notwendig ist, Zäune ziehen. Weisst du auch, wie man einzelne Jungpflanzen vor Verbiss schützen kann?»

Lewan nickte. «Wir pflegen unbehandelte Schafwolle um die Gipfelknospen der jungen Bäume zu wickeln.»

Das Gespräch verlief nicht so einfach, wie es hier aufgezeichnet ist. Simon und Lewan bedienten sich, wie das in Transkaukasien unter den Angehörigen verschiedener Völker üblich war, des Russischen. Allerdings kamen sie mit ihrem Wortschatz, wenn es um Fachausdrücke der Waldpflege ging, an ihre Grenzen. Manchmal konnte ihnen Hannes helfen. Er spielte auf Eben-Ezer oft mit Gleichaltrigen aus dem Dorf und beherrschte deshalb leidlich Georgisch. Wenn die Männer nicht mehr weiterwussten, liess er sich vom Vater respektive von Lewan erklären, was sie meinten, und übersetzte es für den anderen. Als Cornelius Fresendorff, der dem Dialog folgte, seinen Schüler lobte, beugte sich Simon über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: «Du bist ein Teufelskerl! Ich bin froh, dass ich dich mitgenommen habe.»

Sie hatten inzwischen jenen Teil des Waldes erreicht, der bis vor einer Woche noch Herrn von Kutzschenbach gehört hatte. Der Pfad führte durch dichtes Unterholz. Auf einmal zügelte Simon sein Pferd und bedeutete seinen Begleitern, ebenfalls anzuhalten. Er lauschte. Ihm war, als habe er gehört, wie jemand den Hahn einer Flinte spannte. In diesem Moment fiel ein Schuss und Hannes schrie gellend auf. Eine Kugel hatte ihn ins linke Bein getroffen. Simon glitt mit dem Kind in den Armen vom Pferd und legte es sorgfältig auf den Boden. Er und Fresendorff beugten sich über den Jungen. Die Wunde sah übel aus. Hannes schrie ununterbrochen. Simon schaute Cornelius verzweifelt an. «Was machen wir nur?», stammelte er.

«Man muss zuerst das Blut stillen», sagte der Balte. Er entledigte sich seines Jacketts, zog sein Hemd über den Kopf und zerriss es. Er legte einen Streifen des Leinenstoffs mehrfach zusammen und drückte ihn mit der flachen Hand auf die Wunde. Hannes schrie laut auf und fiel dann in Ohnmacht.

«Das ist gut», murmelte Cornelius, «so spürt er die Schmerzen nicht.» Er bat Simon, ihm eine weitere Binde vorzubereiten, und legte sie über die blutdurchtränkte erste. Im selben Augenblick pfiff eine zweite Kugel über ihre Köpfe.

«Das Feuer kommt von dort!» Wassilij, der sich neben Lewan auf den Bauch gelegt hatte, wies in die entsprechende Richtung. «Das Schwein will uns töten.»

Simon sprang auf und nahm sein Gewehr aus dem Futteral, das am Sattel seines Pferdes befestigt war. Dann warf er sich zu Boden. Kurz darauf erfolgte ein weiterer Schuss. Jetzt hatte auch er das Mündungsfeuer gesehen und konnte sich ausrechnen, dass der Schütze knapp achtzig Meter von ihnen entfernt war. Aufgrund der Abstände, in denen er auf sie feuerte, war sich Simon sicher, dass der Mann eine Waffe hatte, die nach jedem Schuss nachgeladen werden musste. «Nimm deine Flinte!», befahl er leise Lewan. «Wenn er das nächste Mal nachlädt, stürmen wir nach vorn und nehmen ihn in die Zange. Aber ich will ihn lebend.»

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis eine vierte Kugel über sie flog.

«Jetzt!», schrie Simon. Die beiden Männer rannten in weitem Abstand voneinander dorthin, wo sie den Schützen vermuteten. Nach wenigen Sekunden sahen sie ihn. Der Mann stand hinter dem hellen Stamm einer Rotbuche und lud fieberhaft seine Büchse. Als die beiden ihre Gewehre auf ihn richteten, warf er seine Waffe weg und blieb stehen. Simon musterte den Kerl. Er war jung, noch keine zwanzig. Sein schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, die dichten Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Am Kinn spross ein schütterer Bart. Der Kleidung nach zu schliessen, kam er aus begüterten Verhältnissen. Ein reicher Rotzbengel.

«Wer bist du, du Lumpenhund?», herrschte Simon ihn auf Russisch an.

Der andere starrte seinen Bezwinger hasserfüllt an und schwieg.

Simon, der jetzt nach dem Schock des Überfalls spürte, wie eine unbändige Wut in ihm hochstieg, gab dem Burschen zwei Maulschellen. «Wenn ich dich etwas frage, gibst du Antwort!», brüllte er.

«Grigol Ratischwili», stiess der Bursche zwischen den Zähnen hervor, «der Sohn von Fürst Ratischwili.»

«Fürst!», höhnte Simon. «Und weshalb schiesst du auf uns, du Verbrecher?»

«Georgien gehört dem georgischen Adel. Ihr Fremden habt hier nichts zu suchen. Stattdessen stehlt ihr unser Land und verschachert es untereinander, so wie diesen Wald, der im Besitz unserer Vorfahren war und uns wieder gehören wird, sobald ihr euch dorthin schert, wo ihr hergekommen seid. Wir hassen euch!» Der junge Mann spuckte Simon an.

Das hätte er besser unterlassen. Simon schlug den Kerl nieder und gab ihm einen Fusstritt. «Stehlen!», empörte er sich. «Fürstengesindel wie deine Familie hat riesige Grundstücke für gutes Geld an die Siedler verkauft!», schrie er. «Und jetzt wollt ihr uns ermorden, damit ihr beides behalten könnt, das Geld und das Land. Ihr seid keinen Deut besser als dreckiges Tatarenpack!» Er holte tief Atem. «Du feiger Hund schiesst sogar auf Kinder. Komm, schau dir an, was du angerichtet hast!» Er packte Grigol am Genick, stellte ihn auf die Füsse und stiess ihn vor sich her.

Hannes, der auf dem Boden lag, war totenbleich. Sein blondes Haar klebte an der Stirn.

Cornelius Fresendorff, der mit nacktem Oberkörper neben ihm stand, hatte, nachdem es ihm gelungen war, die Blutung zu stillen, seinen Nabadi über ihn gebreitet. Der Junge friere, erklärte er. Seine Haut sei, obwohl schweissbedeckt, ganz kalt, und sein Puls rase. Zunächst sei Hannes unruhig gewesen und voller Angst. Jetzt sei er teilnahmslos und verliere immer wieder das Bewusstsein. «Wir müssen ihn schleunigst nach Hause schaffen und einen Arzt kommen lassen. Die Wunde ist am Knie und sieht schlimm aus», fuhr er fort. «Ich weiss nur nicht, wie wir ihn transportieren. Sein Bein sollte ruhiggestellt werden, aber ich wage nicht, es zu schienen.»

Wassilij, der bisher schweigend neben Hannes gekniet und dessen Hand gehalten hatte, hob den Kopf. Während seiner Zeit in der Armee, sagte er, habe man Verwundete auf eine Decke gelegt, die man an beiden Enden verknotet habe, so dass daraus eine Art Hängematte wurde. Darin habe man sie ins Lazarett getragen.

«Das würde allerdings bedeuten, dass wir den Weg zu Fuss zurücklegen müssten», gab Fresendorff zu bedenken. «Unter drei bis dreieinhalb Stunden ist das nicht zu schaffen.»

«Ihr und ich werden das Kind tragen», entschied Simon. «Es ist keine schwere Last. Du, Wassilij, wirst vorausreiten und uns mit einer Kutsche entgegenkommen.»

Während Wassilij auf sein Pferd stieg und Fresendorff die mehrfach gefaltete Decke unter dem Sattel seines Pferds hervorzog, kniete sich Simon neben seinen wimmernden Sohn. Er legte seinen Arm unter dessen Nacken, küsste ihn auf die Stirn und versicherte ihm, dass alles gut werde. «Du brauchst keine Angst zu haben», sagte er leise, «ich bleibe jetzt bei dir.» Ob ihn das Kind überhaupt verstand? Immer wieder fuhr er Hannes durchs Haar. Simon biss sich auf die Zähne. Das Leiden des Siebenjährigen war kaum zu ertragen. Er wandte den Kopf ab. «Alles wird gut», wiederholte er. «Wir sind bald daheim bei Mutter und Mayranoush.» Er stand auf und nahm sein Gewehr. Seine Wut war einem kalten Zorn gewichen. Als er jetzt Grigol Ratischwili anschaute, der von Lewan bewacht wurde, murmelte er: «Kommt aber ein Schade daraus, so soll er lassen Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.» Es war die einzige Bibelstelle, die er auswendig kannte. Sie entsprach seiner Vorstellung von Moral. Er hob die Waffe, zielte kurz und schoss. Schreiend fiel der fürstliche Mordgeselle zu Boden. Sein linkes Knie war zertrümmert.

Cornelius Fresendorff schaute ihn entsetzt an, versagte sich aber jeden Kommentar.

Lewan Gabaschwili nickte befriedigt. Obwohl von den Russen verboten, war Blutrache in Transkaukasien durchaus üblich, und seiner Meinung nach hatte der Patron nichts anderes getan, als die Gerechtigkeit wiederhergestellt.

«Bring sein Pferd hierher!», sagte Simon zum Georgier. «Er mag selbst sehen, wie er nach Hause findet. Sein Gewehr und sein Messer behältst du. Anschliessend reitest du nach Katharinenfeld und richtest Doktor Erchinger aus, er solle so rasch wie möglich nach Eben-Ezer kommen. Wann können wir aufbrechen?», wandte er sich an Cornelius.

«Ich bin so weit.»

«Das ist gut.»

Jeder von ihnen packte ein Ende der Decke, auf der Hannes lag. Dann fassten sie ihre Pferde am Zügel und machten sich auf den Rückweg.

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