Kitabı oku: «Blutherbst», sayfa 4

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»Ich wünschte, es wäre wirklich nur eine schlechte Ernte oder ein Sturm gewesen«, murmelte Alfr mit düsterer Miene. Die missgebildeten Fische waren etwas, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Dabei spielte die verstörende Andersartigkeit der Tiere selbst kaum eine Rolle. Die Konsequenzen, die dem Verlust der Fischerträge folgen würden, waren es, die ihn zermürbten. Er hatte Tage damit verbracht, Informationen zu sammeln und Berechnungen anzustellen, nachdem die Verderbnis bei einigen Seelachsen festgestellt worden war. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass inzwischen gut siebzig Prozent der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln auf Norselund vom Fischfang abhingen.

Sollte diese Quelle tatsächlich versiegen, würde das Land seiner Väter in Tod und Chaos versinken. Die Folgen wären ungleich schwerer, als es die des Einbruchs des Grau in den ersten Jahren der Fall gewesen war. Selbst wenn sie jedes Jahr den gesamten Nahrungsüberschuss vom Festland aufkauften, wäre das Todesurteil für Tausende unterzeichnet. Und letztendlich waren die Meere der Welt im Grunde eins. Lange würde auch ein Fischsterben an den Küsten des Königreiches nicht auf sich warten lassen, wenn es zum Schlimmsten kam. Dort war das Land nach dem Grau noch fruchtbarer als auf der Insel, doch selbst in den Marken brachte der Ackerbau längst nicht mehr genug ein, um das Volk zu ernähren.

Abrupt wandte er sich vom Meer und seinen Grübeleien ab und Varg zu.

»Hattest du eigentlich vor der Abreise noch Gelegenheit, deine Nichte zu sehen?«, wollte der Jarl wissen.

»Nein«, erwiderte Alfr mit Bedauern in der Stimme, »das war alles zu knapp. Die kleine Talida wird noch ein paar Monate warten müssen, bis sie ihren dicken Onkel kennenlernt. Vendela ist mit dem Säugling in Krakebekk geblieben, es wäre auch noch viel zu früh für so eine lange Reise gewesen.

Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich mich erst einmal aufs Neue in Falkehaven eingewöhnen. Dann sehe ich zu, dass ich es bis zum Herbst entweder nach Krakebekk schaffe. Oder, was mir selbstverständlich lieber wäre, Vendela mit dem Kind nach Falkehaven zu Besuch kommt. Ich habe nicht besonders viel Sehnsucht nach einem längeren Aufenthalt bei meinem Schwager. Von Vorteil wäre natürlich, dass ich mir dort unsere Werft anschauen könnte. Es wäre durchaus interessant, die Anlage einmal selbst sehen zu können, für die ich seit so langer Zeit das Material besorge.«

Die letzten Worte hatte er leise gesprochen, so sehr war ihm die Geheimhaltung der Werft in Fleisch und Blut übergegangen. Nur wenige wussten von den neuen Schiffen, welche dort seit Jahren in einer Zusammenarbeit aller Jarle entwickelt wurden.

»Warst du in letzter Zeit einmal dort, oder kannst mir Genaueres darüber sagen, wie es vorangeht?«, wollte Alfr nun wissen. »Ich sehe zwar ein, dass schriftliche Berichte darüber zu riskant sind, aber interessieren würde es mich schon. Es geht um Schiffe, weißt du, und die sind neben dem Essen mein liebstes Steckenpferd.«

Varg zog eine Augenbraue hoch und lächelte. »Das letztere Steckenpferd solltest du im Auge behalten. Langsam siehst du nicht mehr gesund aus.

Aber um deine Frage zu beantworten, sie kommen inzwischen mit dem neuen Modell recht gut voran, soweit ich informiert bin. Nachdem sie zweimal von vorn beginnen mussten, weil die Konstruktionen zu instabil geworden sind, scheinen sie jetzt auf dem richtigen Weg zu sein. Wie lange es noch dauert, bis wir ein paar echte Schiffe haben, wissen die Götter.«

Alfr nickte langsam. »Das ist gut. Langfristig wird das der Sicherung unserer Grenzen sehr zuträglich sein.«

Er streckte sich und strich dann mit den Händen über sein gewaltiges Wams. »Was mein anderes Steckenpferd hier angeht, das brauche ich nicht aktiv im Auge zu behalten. Es ist ja leider unübersehbar.

Wo wir schon dabei sind, ich weiß wohl, dass ich ein Problem habe. Man kann sich ebenso gut zu Tode fressen, wie man sich zu Tode saufen kann. Mir ist bewusst, dass ich langsam aber sicher ein Alter und eine Gewichtsklasse erreiche, in der ich auf dem besten Wege dahin bin.«

»Nun, so schlimm ist es, denke ich, noch nicht«, meinte Varg beschwichtigend. »Aber es ist wichtig, das man solche Dinge nicht verdrängt. Wie du schon sagtest, ist es ein bisschen wie mit dem Saufen. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, glaubt man, dass die Leute merken müssen, wie sie sich zugrunde richten. Aber es ist verdammt leicht, sich selbst zu belügen, bis man völlig im Arsch ist. Die Grenze ist beinahe unsichtbar und man überschreitet sie schleichend. Und wenn man erst einmal in den Abgrund gefallen ist, gestaltet sich der Weg zurück äußerst unerquicklich.«

»Noch geht es mir relativ gut«, meinte Alfr schulterzuckend, »aber wenn ich so weitermache, wird sich das in den kommenden paar Jahren ändern. Ich habe immer viel gegessen und ich habe immer gerne gegessen. Aber was ich seit knapp zehn Jahren tue, hat mit Ernährung wahrhaftig nicht mehr viel zu tun.

Ich fresse, wie die Trunkenbolde, die mittags schon in den Straßen liegen, saufen. Es ist nicht so, dass mir das nicht schon vor einigen Jahren klar geworden ist. Bis ich dreißig war, ging das alles noch, weil ich essen konnte, was ich wollte, ohne richtig fett zu werden. Und wohl auch, weil ich mich um nichts kümmern musste.

Versteh mich nicht falsch, ich liebe es, mich um Falkehaven zu kümmern. Aber je mehr Verantwortung ich übernommen habe, umso mehr habe ich gefressen. Und mittlerweile, naja, du siehst ja, wie ich aussehe. Den ästhetischen Aspekt einmal außen vorgelassen, wird das Ganze langsam zum Problem. Auch wenn Sikah mein Fett nicht zu stören scheint. Sie hat vor ein paar Jahren gemeint, ich sollte mir keine Sorgen machen, und das es sicher schon dickere Jarle als mich gegeben hätte. Inzwischen wäre sie mit so einer Aussage vermutlich etwas vorsichtiger.

Aber wie dem auch sein, ich will die Verachtung, die ich in den Blicken meines hochgeschätzten Schwagers sehe, nicht auch in den Augen anderer Männer sehen. Und wenn ich so weitermache, wird das nicht mehr lange dauern. Selbst in Falkehaven nicht, wo man mich höher schätzt und respektiert als irgendwo sonst.

Dieser Tage, wo Nahrung noch immer vielerorts knapp ist, ist ein fetter Mann gleich doppelt verachtungswürdig. Wenn ich dieses Zeichen von Schwäche weiter mit mir herumschleppe, bin ich selbst schuld. Außerdem gehe ich langsam auf die vierzig zu, was das Ganze nicht besser macht. Ich will nicht als Alfr der Fette in fünf Jahren tot umfallen, weil mir das Herz platzt wie bei einer übermästeten Sau.«

Varg bemerkte, wie Alfr bei den letzten Worten noch blasser geworden war, als er ohnehin schon war. Er konnte sich nur allzu gut in den Mann hineinversetzen. Scham ob der Schwäche paarte sich mit Angst vor einem elendigen, ehrlosen Tod zu einem Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit. Er selbst war etwa ein Jahr nach dem Tod seiner Lifa an einem ähnlichen Punkt angelangt.

»Ich erzähle dir das nur«, fuhr Alfr seufzend fort, »damit du weißt, dass ich keineswegs die Augen vor meiner Situation verschließe. Und außerdem, weil ich glaube, dass du es am ehesten verstehst. Ich weiß nicht, wie ich es angehen soll, aber ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich bald etwas tun muss. Spätestens nächstes Jahr.

Vielleicht ist das Essen bei Hof ja so beschissen, dass ich schon ein paar Pfund verloren habe, wenn wir die Rückreise antreten.«

Varg erwiderte sein sardonisches Grinsen, schüttelte aber leicht den Kopf.

»Da muss ich dich, fürchte ich, enttäuschen. Das Essen ist für gewöhnlich exquisit. Aber falls es dich aufmuntert, die Gesellschaft bei Tisch wiederum ist dem Verderben des Appetits zumeist überaus förderlich.«

Der Jarl legte dem jüngeren Mann die Hand auf die Schulter.

»Vielleicht hilft es dir ja schon ein wenig, dass auf unserer Reise nicht überall ständig etwas zu Essen herumliegt. Die Fahrt, aus deiner gewohnten Umgebung herauszukommen, sollte dich nach einer Weile auch ein wenig entspannen. Für die Zeit, bis wir bei Hof angekommen sind, haben sich Verantwortung und Stress für dich zumindest erledigt. Und wenn wir uns erst einmal dort befinden, besteht die größte Herausforderung meist auch nur darin, zu nicken und zu lächeln, ohne dem Geschwätz allzu viel Bedeutung beizumessen.«

»Ich sehe schon, wir nehmen unsere repräsentative Aufgabe überaus ernst«, gab Alfr zurück. »Nun, ich bin jedenfalls wirklich froh, dass Sikah mitkommen konnte. Die Reise scheint ihr gut zu tun und so fühlt sich das Ganze nicht gar so sehr nach verschwendeter Zeit an.«

»Wie geht es ihr?«, wollte Varg wissen, »allgemein, meine ich, nicht im Moment. Dein Vater sagt immer nur, dass sie kränkelt, aber das kann verdammt alles heißen. Wir müssen nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst. Aber ich weiß, dass ihr seit Jahren Kinder wollt und ... bei meiner Lifa hat es damals ja auch länger gedauert.«

Alfr sah auf und lächelte den Jarl an. Es rührte ihn, dass die Jahre und unzählige Fässer von Bier, Met und Wein den Schmerz des sonst so harten Mannes noch immer nicht völlig fortgewaschen hatten.

»Viel mehr als das kann ich dir auch nicht sagen, Varg. Sie hat seit jeher kurze Phasen gehabt, in denen sie sich schwach fühlt, das fing an, als sie zwölf oder dreizehn Winter gezählt hat. Sie ist dann kraftlos, wird von Schwindel geplagt und kann kein Essen bei sich behalten. Von diesen Dingen hat sie sich, als sie jünger war, schnell erholt. Das hat immer ein paar Tage gedauert und danach war alles wieder in Ordnung. Ich meine, sie war nie das, was man einen Wildfang nennen würde, so wie meine ältere Schwester einer ist. Aber mit der Zeit sind die schlechten Phasen öfter gekommen und länger geblieben.

Seit ein paar Jahren, vielleicht drei oder vier, kenne ich sie eigentlich nur kränklich. Wenn ich recht darüber nachdenke, sind es jetzt die guten Tage, die kommen und gehen, und nicht umgekehrt. Sie schläft zu viel und isst zu wenig und sie ist meist viel zu schwach.«

Er zuckte mit den Schultern und seufzte Tief, ein Laut voller Hilflosigkeit und Resignation.

»Ich nehme an, was uns an Heilern und Kräuterfrauen zur Verfügung steht, habt ihr schon ausprobiert?«, fragte Varg.

»Ja, immer mal wieder. Aber du weißt ja, wie das ist. Ein Leiden mit einem Dutzend Symptomen, das bedeutet meist hundert Heilmittel und Medizinen, die allesamt nichts taugen. So ist es auch hier. Im Grunde weiß niemand, was ihr eigentlich fehlt.«

»Den Vorschlag, einen der höheren Priester aufzusuchen, wenn wir schon im Zentrum der Macht der Kirche sind, kann ich mir vermutlich sparen«, meinte Varg. Der Blick, den der Mann ihm halb amüsiert zuwarf, war beredt genug und der Jarl nickte. »Nun, vielleicht kann Darane sie sich auf der Reise mal anschauen. Er ist kein Heiler, aber ein fähigerer Magier als die Bande auf dem Festland, möchte ich meinen.

Und falls ihr das nicht möchtet, können vielleicht unsere neuen Verbündeten helfen. Die Druiden der Vannbarn sind laut dem Zauberer nicht so mächtig, wie die unseren es vor dem Krieg waren, aber einen Versuch ist es allemal wert, denke ich.«

»Du traust diesem dunklen Mann«, Alfr machte eine Kopfbewegung in Richtung der Kabinen, wo Darane sich irgendwo aufhalten musste, »wirklich sehr, nicht wahr?«

»Ja, das tue ich«, erwiderte Varg. »Ich weiß, dass ich damit so ziemlich allein stehe.« Er zuckte mit den Schultern.

»Ich verstehe«, murmelte Alfr und hob dann wieder den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, was Darane angeht, aber ich werde mit Sikah darüber sprechen.

Auf jeden Fall danke ich dir. Ich persönlich wäre wirklich froh, wenn wir irgendwann im Laufe des Jahres die Möglichkeit hätten, Sikah mit einem Druiden zusammenzubringen. Deine neuen Vasallen mögen einer anderen Kultur angehören und uns fremd erscheinen, aber das Druidentum ist tief im Herzen unseres Volkes verwurzelt. Wenn ihr etwas helfen kann, dann diese alte Kraft.«

Varg nickte und klopfte ihm auf die Schulter. »Dann werden wir uns darum kümmern, sobald wir wieder zu Hause sind.«

Die zwei Männer standen noch lange schweigend an der Reling. Der Anblick des zerwühlten, dunklen Meeres, das unter dem stahlgrauen Himmel dahinrollte, tat ihrer beider Gemüter gut.

Alfr spürte, wie dieses Gespräch viel von der Anspannung von ihm genommen hatte, die er dieser Tage mit sich herumtrug. Er zweifelte nicht daran, dass sie sich bald wieder aufbauen würde, dafür würden seine Grübeleien schon sorgen. Aber es war gut, über Dinge sprechen zu können, mit denen er sich sonst niemandem anvertraute. Seinen Vater und Sikah wollte er nicht mit seinen Ängsten und Problemen belasten. Engere Vertraute hatte er nie gehabt, wie so viele Kinder von hoher Geburt.

Er war froh, dass der Jarl von Ulfrskógr, seit Jahren der Mensch, der seinem Vater am nächsten stand, auch ihm in Freundschaft verbunden war.

Alfr ahnte nicht, dass er sich in Kürze an jeden Trost klammern würde, der ihm geblieben war. So behielt er diese Reise an der Seite seiner Gemahlin als eine schöne, unbeschwerte Zeit in Erinnerung.

4. Kapitel 3

Lendir

Lendir atmete auf, als er zum ersten Mal wieder vereinzelt kleine Pilze und Flechten am Waldboden sah. Auch an den unteren Enden der Baumstämme zeigte sich stellenweise erneut Bewuchs durch Ranken und Moose. Diese Veränderungen waren ein Zeichen dafür, dass sie den auf gespenstische Weise leblosen Teil des Waldes hinter sich gelassen hatten.

Die unnatürliche Leere unter den dunklen Bäumen war einem dünnen Unterholz gewichen. Es bestand aus kleinen Büschen, Farnen, Moosen und Flechten. Auch Beeren und Pilze gab es wieder, was eine zusätzliche Erleichterung war. Ihr mitgebrachter Proviant ging langsam zur Neige und Nahrungsmangel war das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Obwohl es so schien, als hätten sie den kranken Wald hinter sich gelassen, verließ Lendir sich nicht mehr auf seinen Orientierungssinn. Zu oft hatte er in den vergangenen Tagen getäuscht, in diesen Waldungen, die nicht mehr die seinen waren. Regelmäßig suchte er Augenkontakt zu Tasheili, um sich zu versichern, dass der von ihm eingeschlagene Weg sie tatsächlich nach Osten führte. Noch zweimal hatte die Hirtin die von ihm gewählte Richtung korrigieren müssen. Seit vorgestern nickte sie jedoch nur und lächelte, wenn sie wieder einmal seinen Blick spürte. Wie es schien, fand er sich im Moment besser zurecht, was daran liegen mochte, dass die Magie des Waldes hier schwächer wurde. Oder auch nur die Verderbtheit derselben nicht mehr so gravierend war. Das half ein wenig gegen das Gefühl der Verlorenheit, dass sich seiner immer hartnäckiger zu bemächtigen versuchte.

Ein sanfter Druck an seinem Arm ließ ihn leicht aufschrecken. Er drehte den Kopf und erwiderte das Lächeln von Uniro, die lautlos neben ihm herschritt. Er bot seiner Gemahlin den Arm, woraufhin sie sich bei ihm unterhakte.

»Wir kommen langsam wieder in gesunden Wald«, sagte sie leise, während sie nebeneinander hergingen. »Ich wünschte, ich wüsste, wie lange wir noch im Schutz der Gehölze verweilen können, bevor wir den Rand erreichen.«

Ihre Stimme war ruhig und fest, doch Lendir hörte und fühlte ihre Besorgnis und die verhaltene Furcht, die darin mitschwang. Wie weit der Wald noch reichen würde, vor allem aber was dahinter kam, war inzwischen auch seine größte Sorge. Er war nicht so vermessen, sich im Bezug auf ihre Verfolger in Sicherheit zu wiegen. Die Jäger, die ihnen nachstellten, waren ebenso unberechenbar wie unermüdlich. Doch bei aller Gefahr, die nach wie vor hinter ihnen lag, war der Weg vor ihnen nicht weniger bedrohlich und ungewiss. Sie befanden sich in einem Teil des Waldes, den seit Jahrhunderten kein Mitglied ihres Volkes mehr betreten hatte. Irgendwo im Osten mochte der Ort liegen, welcher der Legende nach gleichermaßen die Quelle des Dunkelsilberwaldes wie auch des Volkes der Silvalum selbst war. Es war aber ebenso gut möglich, dass nichts als endlose, verlassene Einöde auf sie wartete. Die Zuflucht, auf die sie hofften, konnte sich als ein altes Märchen herausstellen, das sich im Laufe der Jahrhunderte zum Mythos entwickelte hatte.

»Von jetzt an«, sagte er sanft, »weiß niemand mehr, was vor uns liegt. Ich wünschte mir auch weniger lose Enden, weniger Ungewissheit, aber wir können nur weitergehen und auf das reagieren, was wir vorfinden. Zumindest scheint es so, als wenn die anderen uns gehen lassen würden. Tasheili hat unsere Spur trefflich verschleiert und wir haben die Jäger offenbar hinter uns gelassen.« Oder aber sie wissen, was im Osten liegt, fügte er stumm in Gedanken hinzu. Und sie halten es für verschwendete Zeit, uns weiter zu folgen, weil wir ohnehin dem Untergang geweiht sind.

Die junge Frau sah ihm ins Gesicht und lächelte traurig. Offenbar war Lendir nicht der Einzige, der von düsteren Vorahnungen heimgesucht wurde.

»Wollen wir hoffen, dass zumindest die Gefahr hinter uns von uns abgelassen hat«, sagte Uniro schließlich. »Die Dinge, die vor uns liegen, sind in ihrer Ungewissheit schrecklich genug. Sowohl was den Weg angeht, wie die Früchte unserer Leiber. Mögen die Bäume wissen, ob all das hier überhaupt einen Sinn hat.«

Der Waldläufer zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, blieb aber stumm. Er wusste nicht, was er seiner Gefährtin darauf erwidern sollte, zu sehr zerfraßen ihn selbst die Zweifel. Zweifel an sich selbst, aber auch an dem, was er getan hatte. Er war sich nur zu gut darüber im Klaren, dass all dies nichts als eine Verzweiflungstat darstellte. Er und die seinen versuchten vor dem Säuglingssterben davonzulaufen, dass ihr Volk seit Jahren heimsuchte, so einfach war das. Und dabei vielleicht ebenso sinnlos wie naiv. Die Veränderung des Umfeldes mochte helfen, wenn die verderbte Waldmagie der Grund für das Kindersterben war, oder auch nicht. Wenn sie scheiterten, würde nicht einmal das eine Kind aus zehn Geburten leben, aber spielte das dann noch eine Rolle?

»Glaubst du, dass wir das Tal finden werden?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Das Tal dachte er und seufzte leise. Brúndalur, das braune Tal, oder, in der alten Sprache, Brúncluah, was so viel wie altes Leben bedeutete. Die Wiege ihres Volkes und des ersten Saatkornes des hohen Waldes. Es gab auch Legenden der Menschen darüber, in denen es meist das Rabental genannt wurde. Angeblich, weil ständig riesige Raben über dem Wald im Inneren des Tals kreisten, die Augen des großen Hirten. Das war natürlich Unsinn, denn selbst unter den Silvalum gab es seit tausend Jahren niemanden mehr, der auch nur behauptete, diesen Ort gesehen zu haben. Und doch, wenn diese Wiege ihres Volkes existierte, war es nur folgerichtig, in Zeiten höchster Not dort Zuflucht und Heilung zu erhoffen. An dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Selbst wenn es dort enden sollte, war die Reise nicht umsonst gewesen. Alles war besser, als langsam in den Klauen der verdorbenen Waldmagie ihrer Heimat dahinzusiechen und mit anzusehen, wie ihre Säuglinge starben.

Dennoch fürchtete Lendir jeden neuen Tag. Er fürchtete, der Wald könne einfach zu Ende sein. Nur ein langgezogener Waldrand, wie im Westen bei Silvershire, und dahinter eine leere Ebene, nichts als endlose Weite aus Gras oder Steppe. Keine Silberbuchen mehr, keine Waldmagieadern, die den Boden durchzogen, nur noch fremdes Land. Niemand wusste, ob ein Silvalum überhaupt in der Lage war, längere Zeit außerhalb der Ströme der Magie des Waldes zu leben. Es war durchaus möglich, das er sie alle in den sicheren Tod führte, noch bevor das ungeborene Leben in den Leibern seiner Gefolgsleute auch nur eine Chance bekam, so gering diese sein mochte.

»Ich weiß es nicht«, gab er nach einem kurzen Moment zu. »Ich hoffe es. Aber ich glaube, dass alles, was vor uns liegt, besser ist als das, was wir hinter uns gelassen haben. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag, oder wie lange sie dauert. Hinter uns liegt nur der Tod.«

Sie hielt inne und legte ihm ihre Hände auf die Brust. Ihre Augen suchten seinen Blick, bevor sie sprach. »Ich spüre und teile Deine Zweifel«, sagte sie ernst. »Abends sind wir nicht allein und die anderen machen sich schon genug Sorgen. Aber ich weiß, dass wir vielleicht in unser Verderben laufen.«

Er öffnete den Mund, doch sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Len, du sollst nur wissen, dass ich es nie bereuen werde, dir gefolgt zu sein. Ebenso wenig wie ich es je bereuen werde, deine Gefährtin geworden zu sein. Oder dein Kind zu tragen. Vergiss das nie, falls der Weg noch dunkler wird.«

Er schluckte schwer und spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Unfähig zu sprechen zog er sie fest in die Arme und hielt sie, während er um Fassung rang. Rührseliger Narr schalt er sich, während eine einzelne Träne über seine Wangen lief und sich im Haar seiner Gefährtin verlor. Rührseliger alter Narr. Sie standen für einen viel zu kurzen Moment so da, dann gingen sie weiter, bevor jemand von den anderen sie bemerkte. Ihre Brüder und Schwestern gingen nahezu lautlos um sie herum ihres Weges. Einige stumm, andere flüsternd im gemeinsamen Gespräch versunken. Die Gruppe bewegte sich angesichts der Tatsache, dass sie mehrere hundert Personen zählte, mit gespenstischer Stille.

Lendir hob den Blick zu den Kronen der allgegenwärtigen Bäume. Wenn sich die Beschaffenheit des Bodens während ihrer Reise auch immer wieder geändert hatte, das schützende Blätterdach der Silberbuchen war beständig über ihnen.

Kann der Weg für unser Volk überhaupt noch dunkler werden, fragte er sich. Sie hatten ihre einzigen Verbündeten abgeschlachtet, verloren fast den gesamten Nachwuchs an ein nicht greifbares Grauen und waren nun, nicht zuletzt durch sein eigenes Tun, in sich gespalten. Die Silvalum als Volk mochten den Tiefpunkt ihrer Existenz erreicht haben. Für seine Gefährten auf dieser verzweifelten Reise hingegen lauerten viele unbekannte Abgründe. Die Verfolger mochten sie noch immer einholen, und wenn das geschah, gab es nichts auf der Welt, das sie zu retten vermochte. Lendir und die anderen Waldläufer würden bis zum Tode kämpfen, um die Frauen und das ungeborene Leben in ihnen zu schützen, doch gegen ihre Jäger konnte keine sterbliche Macht bestehen. Noch entmutigender war die Vorstellung, dass sie es nach Osten schafften, das Ende des Waldes erreichten, und wenig später in der Fremde starben, weil sie das Band zur Magie ihrer Heimat verloren hatten. Dass sie verreckten wie Fische, die unachtsam auf trockenes Land geworfen wurden. Oder aber sie blieben am Leben, fanden eine neue Heimat und verloren trotzdem alle Kinder, weil die Verderbnis bereits in ihren Körpern selbst war. Diese letzte Möglichkeit, ebenso so einfach und naheliegend wie unspektakulär, erschien Lendir ob ihrer Banalität als die grausamste.

Warst du eigentlich schon immer so ein feiger, melancholischer Narr, oder ist das ein neuer Wesenszug, kam ihm plötzlich in den Sinn. Als Nächstes grübelst du wieder über den Ursprung und den Grund der Verunreinigung der Waldmagie. Oder des Zornes der alten Götter, den sie bedeuten mag. Solche Abwärtsspiralen im Denken und Fühlen haben vermutlich auch Mirtiro und die Irren, die ihm folgen in den Wahnsinn getrieben. Nur kranke Gemüter konnten Hunderte von Menschen abschlachten und praktisch einen Krieg mit dem Königreich anfangen. Wenn du nicht damit aufhörst, dich selbst zu zerfleischen, kannst du dir gleich die Kehle durchschneiden, dann sind die anderen mit Tasheili alleine besser dran.

Er schloss halb die Augen und rief sich das Bild der Hirtin vor Augen. Ihre schlanke, gerade Gestalt, von der Schwangerschaft noch kaum gezeichnet, genau wie die seiner jungen Gefährtin. Lendir fragte sich, ob die Ruhe und das Selbstbewusstsein, dass die Hirtin ausstrahlte, ebenso vorgetäuscht war, wie es bei ihm der Fall war. Er glaubte es nicht, hoffte es nicht.

Der Schrei, der plötzlich die Luft durchschnitt, war hoch und wimmernd und beendete seine Gedanken wie der Hieb einer Klinge. Die Akustik im Inneren des Waldes war tückisch, doch sein Kopf fuhr instinktiv nach Nordosten und er begann zu rennen. Weitere Geräusche bestätigten ihm, dass er in die richtige Richtung lief. Neuerliche Schreie, Rufe und irgendetwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Eine Art Summen, fern und nah zugleich. Er bewegte sich mit dem Geschick und der Schnelligkeit eines Eichhörnchens über den Waldboden, während seine Hände ohne sein Zutun Bogen und Köcher fanden. Er spürte mehr als er sah, wie die anderen auseinanderstoben. Alle anwesenden Männer, wie auch einige der Frauen, waren aktive oder ehemalige Späher, im Kampf ausgebildete Waldläufer. Lendir sah, wie dutzende von Bögen mit aufgelegten Pfeilen in die Richtung schwenkten, aus denen der Lärm kam.

Er kam wie angewurzelt zum Stehen, nachdem er die ersten seiner Gefährten erreicht hatte. Die Silberbuchen wuchsen in diesem Bereich mehrere Meter auseinander und vor ihnen Tat sich eine kleine Lichtung auf. Sein Blick war auf einen Punkt zwischen den Stämmen gebannt, während die anderen zu seiner Linken und Rechten langsam einen Halbkreis bildeten. Das Geschöpf stand zwischen zwei der uralten Bäume, keine dreißig Schritte vor dem ehemaligen Anführer der Späher. Man hatte den Eindruck, es wäre gerade direkt aus einem der Stämme der Silberbuchen getreten. Wenn die alten Überlieferungen der Wahrheit entsprachen, konnte das tatsächlich der Fall sein.

Der Körper der Gestalt war entfernt humanoid, wenn auch mit bizarren Proportionen. Die knorrigen Beine waren zu kurz, der verdrehte Leib zu lang und die Arme wirkten gelenklos und tentakelartig. Sowohl der Rumpf als auch die Extremitäten schienen aus zahllosen, ineinander verknoteten Wurzeln zu bestehen. In den dickeren Ranken der Kreatur, die sich knapp vier Schritte hoch erhob, konnte man mattleuchtende Adern von silbrigem Harz erkennen. Wie Blutgefäße schien die mystische Substanz, die sonst nur von den Silberbuchen produziert wurde, den ansonsten verdörrt wirkenden Körper netzartig zu durchziehen. Das Geschöpf wiegte sich leicht, wie eine Weide im Wind, doch die knorrigen Wurzelbeine machten nicht den Eindruck, mit dem Waldboden verwachsen zu sein. Zwischen den Schultern bildete eine einzige, dicke Wurzel einen kurzen, knotigen Hals. Der Kopf war eine groteske Mischung aus Baumkrone, Stamm und verzerrtem, entfernt menschenähnlichem Gesicht.

Neben der Kreatur lag ein Waldläufer reglos am Boden, die Glieder verdreht wie die einer von einem jähzornigen Kind achtlos weggeworfenen Puppe. Lendir glaubte zunächst, dass der Schrei, den er anfangs gehört hatte, von dem unglücklichen Mann verursacht worden war. Dann jedoch erklang das hohe, wimmernde Weinen aufs Neue. Es erscholl in seinem Kopf und schien gleichzeitig tief aus dem Inneren des Waldes zu kommen. Er begriff nach einer Sekunde, dass es die Kreatur war, die diese Laute hervorbrachte. Es war ein Geräusch von solcher Trauer, Pein und Melancholie, dass sich seine Augen unweigerlich mit Tränen füllten. Nachdem es verklungen war, entstand ein Moment der Stille, der sich endlos hinzuziehen schien. Auf der einen Seite verharrte das Geschöpf, auf der anderen Seite dutzende von Silvalum, die mit ihren Bögen auf den alptraumhaften Besucher zielten.

Plötzlich spürte er eine sanfte Berührung, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte. Er drehte den Kopf ein kleines Stück und sah die ebenmäßigen Züge der Hirtin. Ihr Gesicht war entspannt und wirkte gelassen, aber die Augen verrieten ihre Besorgnis.

»Es ist kaum möglich«, sagte sie flüsternd, »aber es ist eine Dryade. Es kann nichts anderes sein.«

Sie hatte so leise gesprochen, dass Lendir sie eben noch verstanden hatte, obwohl sie keine Armeslänge von ihm entfernt stand. Und doch war das Ungesicht des Geschöpfes beim Klang ihrer Stimme zu ihnen herumgefahren. Es starrte sie mit nachtschwarzen Höhlen im dunklen, von silbrigem Schimmer durchzogenen Wurzelgesicht an. Wieder war da dieses Summen, ein unterschwelliges Geräusch, das man mehr fühlte als hörte.

Einer der Männer neben ihnen ließ den Bogen sinken, murmelte etwas und legte die Waffe schließlich zu Boden. Dann ging er mit bedächtigen Schritten und ausgebreiteten Armen auf den uralten Baumgeist zu.

»Feragen«, fuhr ihn Lendir mit leiser Stimme aber in scharfem Ton an. »Bleib stehen. Was zur ...«

Der andere Waldläufer war bis zur Hälfte an die Dryade herangekommen, als er innehielt und sich umdrehte.

»Wir wissen nichts«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Dass dieses Wesen dort Wirklichkeit ist, führt mir diese Tatsache nur zu deutlich vor Augen. Wenn es die alten Geister noch gibt, dann haben wir vielleicht doch das Herz unserer Heimat erzürnt. Dann sind vielleicht wir die Verwirrten und Verlorenen, und Mirtiro und die seinen dienen dem Willen des Waldes. Was ist denn, wenn der Wald wirklich zürnt?«

Er deutete hinter sich auf die Dryade, die sich ihnen jetzt mit ihrem gesamten Körper zugewandt hatte. Lautlos starrte sie mit schwarzen Nichtaugen auf die Gestalt von Feragen.

»Hätte der Wald nicht das Recht dazu«, fuhr dieser nun fort, »wenn seine Verkörperungen, wie dieses Geschöpf, bei seinen Kindern nur noch als Legenden oder Märchen zählen? Wenn seine Kinder mit den Außenweltlern verkehren und Waren von draußen in seine Welt fließen lassen? Wissen wir denn, was die Gegenstände von den Menschen in unserem Reich verursachen? Für mich zählt jedenfalls nur noch das dort«, schloss er mit einer Handbewegung in Richtung der Dryade hinter ihm, »ich unterwerfe mich dem Willen der Alten, wie es unsere Ahnen getan haben. Andere Autoritäten erkenne ich nicht mehr an, weder die von Mirtiro, noch die deine.«

Er drehte sich zu dem uralten Wesen um und ging weiter auf die knorrige, verdrehte Gestalt zu.

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