Kitabı oku: «PUNKTUM.», sayfa 2

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Man kann die Zeit weder anhalten, noch zurückdrehen. Vergangenes nicht ungeschehen machen. Schlechte Erlebnisse werden schneller vergessen als Gute. Stimmt das? Dramatische Ereignisse bleiben jedenfalls länger im Gedächtnis. Psychotraumatische Vorkommnisse nisten sich hingegen tief in unserem Unterbewusstsein ein. Sie können niemals aus dem persönlichen Geschichtsbuch gestrichen werden. Bestenfalls konservieren, verarbeiten oder verdrängen wir sie. Ohne vor deren unvermuteter Rückkehr sicher zu sein. Sie können aber auch für immer in uns schlummern.

Sie vergraben sich in den hintersten Winkeln unserer Ganglien. Sie schlafen dort länger, als ein Winterschlaf sich hinzieht. Wenn sie ruhen, bemerken wir sie nicht. Und eines Tages erwachen sie, kriechen langsam, Schicht um Schicht, wie Regenwürmer bei Schlechtwetter, Richtung Oberfläche, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Es dauert Tage, Wochen, Jahre oder sogar Jahrzehnte. Wie Bomben, die während des Krieges, von Flugzeugen abgeworfen wurden und nicht zündeten. Sie liegen verborgen, in tiefen Abgründen. Sie landen in einem See, verstecken sich. Oder schlagen abgrundtiefe Löcher ins Erdreich, um ihrerseits wieder meterhoch von tonnenschwerem Gestein verschüttet zu werden. Rosten – billigem Eisen gleich – vor sich hin. Niemand weiß, ob ihre vernichtende Kraft jemals von Neuem zum Vorschein kommen wird.

Doch eines Tages, durch welchen Umstand immer, zeigen sie ihr alles zerstörende Wesen. Verursachen kollaterale Schäden an ihrer Umgebung. Sie sind in der Lage, jedes Gestein mit Leichtigkeit beiseite zu schleudern, lassen Flutwellen entstehen, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausbreiten. Genau darin besteht die unterschätzte Gefahr. Gewöhnung an das drohende Unheil birgt enormes Risiko.

Dörfer, die an längst erloschenen Vulkanen gebaut oder Atomkraftwerke die auf seismisch aktiven Bruchlinien errichtet sind, beweisen nur, dass die Bedrohung, derer man sich nicht vordergründig bewusst ist, als inexistent wahrgenommen wird.

Den Regenwurm, der bei zu viel Wasser im Boden seinem Heil an der Oberfläche zustrebt, nehmen wir nicht wahr. Wir sehen ihn auch nicht im hohen Gras, wenn er längst den angestammten Lebensbereich verlassen hat. Nur wer gezielt nach ihm Ausschau hält, wird ihn finden.

Dieser Wurm, diese Zeitbomben sind der Grund für die schleichende Veränderung unseres Wesens, unserer Stimmungslagen. Hoch und Tiefs wechseln sich in immer kürzer werdenden Abständen ab. Man kann es nicht beschreiben: Körperlich unangenehme Symptome werden dem Stress, dem man am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, zugeschrieben. Oder der letzten sportlichen Betätigung, bei der man sich anscheinend übernommen hat. Oder einem Infekt, den man übergangen hat. Viele Gründe werden gefunden und manches falsch interpretiert. Wir erstellen laienhafte Diagnosen. Erst wenn man bereit ist, in sich hineinzuhören, sich dem Unterbewusstsein zu stellen, kann man seinen Gefühlen und deren Ursachen entgegentreten. Nur dann hat man eine geringe Chance, rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sich auf die große, alles vernichtende Explosion vorzubereiten. Das Unvermeidliche nicht geschehen zu lassen.

Die Frau, die mit ihrem Wagen auf der Autobahn Richtung Westen unterwegs ist, ist sich der Gefahr, in der sie sich befindet, nicht bewusst. In ihr schlummert eine Bombe von verheerender Zerstörungskraft.

An diesem Vormittag sind ungewöhnlich viele Fernlastzüge unterwegs, die sie im Minutentakt überholen. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie hat einzig ihr Ziel vor Augen. Die Landschaft abseits der Autobahn interessiert sie nicht. Die Fahrzeuge, die an ihr auf der Überholspur vorbeipreschen, interessieren sie nicht. Selbst die Musik in ihrem Auto beachtet sie nicht. Nichts kann ihre Stimmung zum Besseren wenden.

Sie verheddert sich immer tiefer in ihren Erinnerungen, fragt sich, warum es ihr schlecht geht. Sie verringert noch mehr ihre Geschwindigkeit. Ihr Blickfeld verengt sich von Kilometer zu Kilometer. Sie hofft, dass es ihr am Ziel besser gehen würde.

Das tiefe, laut warnende Tröten eines Sattelschleppers, der gerade dabei ist, sie zu überholten, reißt sie unsanft in die Realität zurück. Sie erschrickt, denn beinahe hätte sie die Ausfahrt verpasst. Ihre Hände transpirieren. Schweißnass liegen sie auf dem feinen Leder ihres Lenkrades. Sie kramt ein Tuch aus dem Handschuhfach hervor. Wischt sich ihre Handflächen trocken und legt es auf ihren Schoss, um es jederzeit in Griffweite zu haben.

Die Bundesstraße kommt ihr heute länger vor als sonst. Ab und zu blickt sie hinunter in das Bachbett der Schwarza. Wie zwei Verliebte, eng aneinandergeschmiegt, winden sich die Straße und der große Bach durch das Tal. Einmal befindet sich das Wildwasser mit den majestätischen Schaumkronen zu ihrer linken, ein anderes Mal zu ihrer rechten Seite. ›Nur noch wenige Kilometer. Und dann rufe ich an‹, ermuntert sie sich, als sie den wohlvertrauten Wegweiser erreicht.

Sie setzt den Blinker und biegt vom Lengthal aus in die schmale kurvenreiche Straße ein, die zum Bergsee hinaufführt. Wie oft war sie diese Landstraße in all den Jahrzehnten schon gefahren? Bereits vor dreißig Jahren quälte sie ihren uralten VW-Käfer 1302 bergwärts. Sie riecht den Wagen noch heute riechen, denn sie besitzt die Gabe, sich Gerüche einzuprägen. Sie scheinen für ewige Zeiten in ihre Gehirnschale eingebrannt zu sein. Wie in Stein gemeißelt. Und sie kann jede Duftnote jederzeit abrufen, wann immer sie es will. Sie ist in der Lage, sie auf die blumigste Art zu beschreiben. Sie erschnuppert die geringsten Nuancen. Genauso wie sie in diesem Augenblick den Mief des alten Käfers, mit seinem billigen Plastikgeruch und dem allgegenwärtigen Abgasgestank im Wageninneren, in ihrer Nase verspürt. Sie versucht, die damit verbundenen Erinnerungen zu verdrängen.

Mit ihrem modernen Audi A1 merkt sie nur wenig von der Steigung. Leise schnurrt der Wagen der kurvigen Straße entlang, die sich seit damals stark verändert hat. Viele der engen Kurven sind durch Brückenbauten begradigt worden. Lawinengalerie reiht sich an Lawinengalerie. Die dereinst häufigen Straßensperren gehören der Vergangenheit an.

›Zwei Kurven noch, dann bin ich am Ziel.‹

Sie biegt in den großen, fast leeren Parkplatz ein. Normans alten Jeep erkennt sie sofort. Daneben parken drei weitere Autos der Luxusklasse.

»Gott sei Dank – wenig Betrieb heute«, atmet sie erleichtert auf und stellt ihren Wagen neben den anderen ab. Schaltet den Motor aus. Zieht die Handbremse an. Greift nach ihrem Tuch und reibt sich die Hände trocken. Die Anspannung weicht aus ihrem Körper. Sie nimmt sich vor, nie wieder in einem Gemütszustand – wie auf der Autobahn – ein Fahrzeug zu lenken.

Sie wischt sich winzigen Schweißperlen von der Stirn. Mit unsäglicher Kraft und Schnelligkeit heizt die Sonne den Innenraum des kleinen Wagens auf. Sie öffnet die Tür, um frische Luft hereinzulassen. Sie atmet kräftig ein, saugt die kühle Brise tief in ihre Lunge, und lässt sie mit einem lang gezogenen Seufzen wieder entweichen.

Kurz überlegt sie, ob sie ihre Reisetasche aus dem Kofferraum holen sollte. Sie steigt aus und merkt, wie sehr sie die Fahrt körperlich angestrengt hat. Sie ist müde, sie ist durstig. Ungemein durstig. Ihr Gepäck lässt sie im Wagen und trottet zum heimeligen Hotel, das zwischen dem idyllischen See und dem Parkplatz liegt.

Jedes Mal, wenn sie den alten Steinbau mit seiner großen, einladenden Terrasse sieht, muss sie an das Stanley Hotel in Estes Park, in Colorado denken, in dem der Film ›Shining‹ mit Jack Nicholson gedreht worden ist. Der ›Berghof‹ hat aber bei Weitem nicht die endlosen Ausmaße. Außerdem liegt er an einem malerischen See, ist viel kleiner und strahlt mehr Gemütlichkeit aus. Seit dreißig Jahren besucht sie bereits dieses Juwel hier in den Bergen. Der Efeu, der sich mit der Zeit an den Wänden emporgearbeitet hat, scheint es vor Wind und Wetter zu schützen, und alle, die sich in den Gemäuern aufhalten.

Der Torbogen am Eingang, vor den Treppen, ist ebenfalls dicht mit Efeu überwuchert. Daneben lehnt eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide geschrieben steht: »Herzlich willkommen im Berghof. Heute fangfrische Forellen« Sie liest, lächelt müde und nickt.

Die Frau schleppt sich die Stufen hinauf zur Terrasse. Es macht den Eindruck, als würde sie sich am Handlauf emporziehen. Zwei Männer sitzen an einem Tisch und prosten sich mit großen Biergläsern zu.

Im Empfangsbereich des Hotels ist niemand zu sehen. Sie geht durch die alte, mit Butzenscheiben und groben Intarsien verzierte Schwingtüre. Blickt in die Speisestube. Menschenleer. Kurz überlegt sie, ob sie die Rezeptionsklingel betätigen sollte, um den Wirt herbeizurufen. Sie entdeckt ihn hinter der Durchreiche zur Küche, eine große, schwere Gusseisenpfanne schwenkend. Norman, der in die Jahre gekommene Chef des Hauses und Koch in einer Person, ist von einer übermächtigen Rauch- und Dampfwolke umgeben. Nur schemenhaft sind seine Umrisse zu erkennen.

»Norman!«, ruft die Frau.

Der Koch schaut von der dampfenden Pfanne auf und erkennt die Ruferin sofort. Ein breites, freundliches Lächeln überzieht sein rundliches Gesicht.

»Bin gleich bei dir – Moment bitte!«

»Mach dir keine Umstände!«, ruft sie zurück. »Ich habe Zeit. Viel Zeit sogar.«

»Zimmer wie üblich – Seeblickzimmer. Ist schon hergerichtet. Minibar ist voll. Solltest durstig sein, bediene dich. – Der Schlüssel steckt.«

Und wie es sie dürstet. »Danke, du bist ein Schatz. – Man sieht sich nachher.«

Die Frau dreht sich um und schleppt sich zum Aufzug. Die Anzeige sagt ihr, dass die Kabine jeden Augenblick im Erdgeschoss eintreffen wird. Die Türe gleitet zweigeteilt zur Seite. Ein stämmiger, muskulöser Mann steigt aus dem Lift. Glatzköpfig, geschätzte fünfundsechzig Jahre alt. Trägt Freizeitkleidung. Er gibt den Weg frei und grüßt.

»Bitte sehr«, sagt er.

»Danke«, murmelt die Frau, ihren Blick zum Boden gerichtet. Sie steigt in die leere Kabine und drückt auf die Nummer 3 – Dachgeschoss.

Plötzlich, die Tür hat sich noch gar nicht komplett geschlossen, zuckt sie wie vom Blitz getroffen zusammen. Sie holt, durch die Nase, tief Luft. Schnuppert. Sie wankt. Ihre Knie werden weicher und weicher. Es scheint, als würde sie alle Kraft dieser Welt verlassen. Sie muss sich an der rückwärtigen Wand abstützen. Schwindel erfasst sie. Der lang gezogene Gong dröhnt in ihren Ohren. Sie legt ihre Hände an ihren Kopf, um den Lärm zu dämpfen. Die Tür öffnet sich, aber sie steigt nicht aus. Sie drückt die Taste ›E‹ für Erdgeschoss. Die Türhälften schließen sich. Während der Lift nach unten fährt, hat sie Zeit, sich zu sammeln. Was war mit ihr geschehen? Warum hat sie die Kraft verlassen?

Es war der würzig-ledrige Duft in dem Aufzug. Dieser einzigartig herbe Männerduft. Genau der, den sie mit einem südländischen Typ mit gewelltem, langem Haar verbindet. Sollte sie diesem Mann von damals, heute hier und jetzt wieder begegnen?

Zittrig, vorsichtig um sich blickend, verlässt sie die Aufzugskabine. Aus der Küche hört sie appetitliches Prasseln. Dazwischen das typische Hämmern eines Schlögels, der Fleisch mürbe klopft. Sie betritt zögerlich die Gaststube, von der man durch das Panoramafenster einen uneingeschränkten Blick auf die weitläufige Terrasse hat.

Der Kahlköpfige steht bei den beiden Männern. Er greift nach einem vollen Bierglas. Sie prosten sich zu. Sie trinken. Der Glatzkopf dreht sich Richtung See. Jetzt erkennt die Frau sein Gesicht.

Sie sucht Halt. Findet keinen. Wendet sich zur Eingangstür. Der Fluchtweg scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ihre Kräfte drohen sie jederzeit zu verlassen. Sie bäumt sich innerlich auf. Versucht, die Orientierung zu behalten. Visiert das Treppengeländer vor dem Haus an. Ergreift es. Stützt sich unbeholfen ab. Presst ihre Hüfte gegen den verchromten Handlauf. Die Reibungswärme auf ihrer linken Handfläche steigt stetig an. Sie schafft es auf wackeligen Knien hinunter zum Parkplatz. Erreicht schweißgebadet ihr Fahrzeug. Startet wie in Trance. Ruft jahrelang eintrainierte Bewegungsabläufe ab. Tritt das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Lässt die Kupplung schnalzen. Reifen quietschen.

Der Audi A1 rast der ersten Kurve entgegen.

*

»Na, die Dame hat es aber eilig«, mokiert sich der Glatzköpfige, während er dem kleinen schwarzen Wagen hinterherblickt.

»Ja, dabei sollte man annehmen, dass man es im fortgeschritteneren Lebensalter gemütlicher angeht«, erwidert der zu seiner Linken räuspernd.

»Jungs, stört es euch gar, dass man im Alter noch Feuer unterm Arsch hat? Mag sein, dass sie einfach nur jung geblieben ist. Hast du ihre Figur gesehen? An der Körpersprache konnte man vielleicht ihr wahres Alter erkennen, aber vom Körperbau her – höchstens 40. Wenn nicht jünger … «

»Und im Kopf noch keine 20, so wie sie Gas gegeben hat … «

»Hallo, hallo«, unterbricht ihn der Große, der sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel streicht. »Was haben wir nicht alles im Alter von 20 angestellt. Wir dachten damals, uns gehört die Welt alleine. Selten haben wir auf andere Rücksicht genommen. Schon gar nicht auf die im vorgerückten Alter. Haben ihre Weltanschauung nicht verstanden. Wir haben uns ohne Nachdenken, rücksichtslos, das genommen, was uns geboten wurde. Möchte jetzt gar nicht daran erinnern, was wir bei dieser Hochzeit damals trieben … War doch … «

»Psst. – Wir haben vereinbart, nie mehr über die ›Hochzeitsnacht‹ zu sprechen. Punktum«, fällt ihm der Hagere mit den wulstigen Lippen ins Wort.

Der Mann schweigt sofort.

Der Bann ist gebrochen. Sie erzählen sich enthusiastisch ihre ›Heldentaten‹ von einst. So, als hätten sie die einzelnen Geschichten erst gestern erlebt. Sie lassen keine Erinnerung aus. Vom gemeinsamen Handballspiel, als sie das entscheidende Match aufgrund eines regelwidrigen Tricks zu ihren Gunsten entschieden, über das Katz und Maus Spiel mit der Verkehrspolizei, bis zu dem Abend, an dem sie mit dem Porsche die Skipiste hinaufgefahren sind, um am nächsten Tag vom Pistengerät geborgen zu werden. Vieles, das sie seinerzeit angestellt haben, würde heutzutage unweigerlich mit harten Konsequenzen geahndet und von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werden.

Der Kahlköpfige klappt seinen Computer auf und zeigt den Freunden die alten Fotos, die er in den letzten Wochen, eigens für ihr Treffen, eingescannt hat. Keines der gezeigten Bilder blieb unkommentiert. Jedes wird mit einer kurzen Geschichte verbrämt.

*

Der kleine Wagen rast die Bergstraße zu Tal. Er nützt die gesamte Straßenbreite. Schneidet die Kurven. In manchen hebt das hintere, kurveninnere Rad, vom Asphalt ab, wie ein Rüde, der sein Revier markiert. Entgegenkommende Fahrzeuge blinken wie wild mit ihren Scheinwerfer. Leitplanken kommen gefährlich nahe.

Eine dicke Staubwolke steigt auf, als die Frau ihren Audi auf dem geschotterten Parkplatz vor dem alten Haus, neben der Kirche, zum Stehen bringt. Nur wenige Zentimeter vor dem schweren Motorrad, einer schwarzen ›Triumph Tiger 1050‹.

Langsam öffnet sie die Wagentür. Das Lenkrad ist klitschnass. Schweißperlen, die der Fahrerin in die Augen rinnen, verursachen ein unangenehmes Brennen. Ihre Augen sind rot unterlaufen. Ihre Stirn lehnt erschöpft am lederumspannten Volant.

Das Tor des Pfarrhauses öffnet sich. Ein Mann tritt ins Freie. Er trägt eine Soutane. Freudig sieht er zu dem schwarzen Wagen hinüber, während er versucht, mit wedelnden Armbewegungen, die Staubwolke vor seinem Gesicht zu vertreiben.

»Hallo, Maria. – Bist heute aber flott unterwegs. Wollten wir uns nicht im ›Berghof‹ treffen?«

Die Frau sitzt noch immer – in sich zusammengesunken – am Fahrersitz.

»Maria – was ist? Ist dir nicht gut? – Komm, ich helfe dir … «

Besorgt greift der Pfarrer nach ihrer Hand und zieht sie aus dem Wagen, zu sich herauf. Umarmt sie liebevoll. Dabei merkt er, dass die Frau total durchnässt ist. Drückt sie noch fester an sich, so als wolle er ihr Kraft spenden, ihr fühlen lassen, dass sie in Sicherheit ist, dass sie beschützt wird.

Sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust, ohne zu antworten.

Der Pfarrer erkennt, dass in diesem Augenblick jedes gesprochene Wort ein Wort zu viel ist. Er schweigt und streichelt Maria zärtlich ihren Haaren entlang, über ihren Rücken. Schließlich beruhigt sie sich, hebt ihren Kopf, sieht in seine Augen und drückt ihm ein Küsschen auf den Mund.

Sanft schiebt der Pfarrer seine Freundin in Richtung Haus. Maria umfasst die Hüften ihres Freundes. Wie ein frisch verliebtes Paar gehen sie durch das breite Haustor. Im Wohnzimmer lässt sie der Priester auf die Couch gleiten. »Hast du noch ein frisches T-Shirt dabei?« Sie nickt. »Im Auto?« Nickt noch einmal. »Gib mir den Autoschlüssel, ich hole es dir.«

»Ist offen … Danke Joseph. … Du bist ein Engel.«

Der Geistliche kehrt mit einem trockenen T-Shirt zurück. Maria erhebt sich mit einem tiefen Seufzer von der Couch. Ohne Scham öffnet sie ihre Bluse und streift sie ab. So, als wäre es das Alltäglichste der Welt, sich vor einem Pfarrer zu entkleiden. Sie nimmt das T-Shirt und zieht es sich über. Nachdem sie sich wieder in die Couch sinken lässt, mustert Joseph seine Freundin von der Seite. All ihre Schönheit scheint für immer von ihr gegangen zu sein, als wäre sie ein Schatten ihrer selbst.

»Maria – was ist los? So habe ich dich noch nie erlebt. Total durch den Wind. – Total von der Rolle«, versucht Joseph seine Freundin zum Reden animieren.

Sie schluchzt. Schnappt nach Luft. Atmet abgehackt.

»Erzähl – was liegt dir auf der Seele? Quälen dich wieder Panikattacken? Ist es erneut diese innere Unruhe, die dir den Schlaf raubt? Deine Albträume … Du weißt, solange ich das grundlegende Problem nicht kenne, kann ich dir nicht helfen. Du weißt, wie erleichternd es sein kann, wenn man jemanden von seinen Sorgen erzählt. Oft ergeben sich, bereits während des Erzählens die Lösungen von selbst, ohne dass ich dir helfen müsste. Liebes, sprich zu mir … «

Aber Maria schweigt. Presst ihr Lippen aufeinander. Schließlich hebt sie schweigend ihren Kopf und sieht ihren Freund mit blutunterlaufenen, verschwollenen Augen an.

»Ich kenne dich nun schon Jahrzehnte lang. Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander. Du kannst mir alles sagen«, forderte sie der Pfarrer erneut auf.

Der gütige, aber doch fordernde Blick ihres Freundes verleiht ihr Kraft. Gibt ihr Mut. Und schließlich erzählt Maria: »Joseph, du weißt genau, dass ich dir alles erzähle. Bis auf den einen Abend kennst du mein ganzes Leben. Minutiös. Was mir an damals widerfahren ist, holt mich in meinen Träumen immer wieder ein. Und in letzter Zeit häufen sich diese schrecklichen Visionen. Und was sie bei mir auslösen, das kennst du zur Genüge. Haben wir oft vielfach durchgekaut. Die Träume verlangen von mir, mich zu rächen. Aber du sagst mir immer, es sei mir verboten. Verboten aufgrund meines Glaubens, der in einem wesentlichen Teil auf den Lebenserfahrungen des Menschen basiert. Du sagst immer, Rache würde mich nicht glücklich befriedigen, würde mir keine Genugtuung verschaffen. Ich würde meine Rachegefühle gegen schwer wiegendere Schuldgefühle eintauschen … «

»Gott fordert von uns, dass wir den Menschen, die uns Böses angetan haben, vergeben, und davon profitieren, wenn wir uns von aller Bitterkeit befreien. Wie heißt es in der Heiligen Schrift: Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes. Und er verspricht uns: Mein ist die Rache, ich werde vergelten.«

»Siehst du Joseph, Gott versichert mir, dass er meine Rache übernimmt. Aber wann? – Genau den gleichen Satz hast du mir schon vor vielen Jahren gesagt. Ich habe auf weitere Nachforschungen verzichtet, um nicht in die Lage versetzt zu werden, Rache zu üben. Ich habe darauf vertraut, dass es Gott für mich … «, Maria zögert und vollendet nach einer kurzen Pause den Satz. »… erledigt.«

»Zuweilen mahlen Gottes Mühlen sehr langsam. Seine Wege sind unergründlich. Uns Menschen bleibt nur, an ihn zu glauben … «

»Und mit dem Vergeben tue ich mir verdammt schwer. Meine Albträume erinnern mich ständig daran. Sie verhindern, dass ich das Geschehene hinter mir lassen kann. Dass ich es abschütteln kann. Je öfter ich von diesen Träumen heimgesucht werde, desto schwerer lasten sie auf mir. Ich weiß nicht, wie lange ich noch die Kraft habe, gegen sie anzukämpfen. Oft bitte ich Gott – vor dem Einschlafen – mich von den Qualen zu erlösen.«

»Wie oft hast du denn diese Albträume?«, fragt Joseph besorgt nach.

»In den letzten zwei Wochen – beinahe jede Nacht. Ich gehe bereits am Zahnfleisch.«

»Kannst du mir bitte erzählen, was das für Träume sind, die dich derart aus der Bahn katapultierten?«

»Joseph, es ist kein Traum mehr. Er ist beinharte Realität geworden. Ich stand meinem Albtraum leibhaftig gegenüber. Ich habe ihr heute ins Auge gesehen. Ich bin vor ihm geflohen, um bei dir Schutz zu suchen, bevor ich Dinge tue, die ich mein Leben lang bereue. Ich suche Schutz vor den Albträumen, aber auch Schutz vor mir selbst. Mit deiner Hilfe alleine ist es nicht mehr getan. … Es muss etwas geschehen.« Maria klingt verzweifelt.

»Keine Sorge, ich beschütze dich. Versprochen«, versucht Joseph, sie zu beruhigen.

»Den einzigen Ausweg, den ich sehe, heißt: Rache. Auch wenn es mir Gott verbietet. Rache ist menschliches Bedürfnis. Und heute hat sich dazu die Möglichkeit ergeben, Vergeltung zu üben. … Ich werde … «

»… Nichts wirst du«, fällt ihr Joseph barsch ins Wort und versucht dabei, nicht aufzubrausen. »Wenn du Rache rein philosophisch, ohne Gott, betrachtest, wirst du zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich versuche, es auf den Punkt zu bringen: Falls dir Schlechtes von deinem Umfeld angetan wird, dann stell dich aufrechten Kopfes hin und zeige, dass es dir gut geht. Das ist eine härtere Strafe für sie, als wenn du ihnen Ungemach antust.«

»Joseph … bitte … Verwirre mich nicht zusätzlich. Alleine das Gespräch mit dir hat mir schon geholfen, meinen Schock zu verarbeiten. Eigentlich will ich zurück, zum Berghof. Kommst du mit?«

»Maria, du bist noch lange nicht so weit, um ein Fahrzeug zu lenken. Ein Wunder, dass du es heil zu mir geschafft hast. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich wollte sowieso zum Kirchlein hinauf. Mein neuer Wagen ist zwar bestellt, aber noch nicht geliefert. Wir nehmen deinen. Erstens können wir auf der Fahrt weitersprechen, zweitens hast du gleich dein Gepäck zur Hand. Ich werde Norman bitten, mich zurückzufahren.«

Maria ist über den Vorschlag erleichtert. Jetzt, noch einmal an diesem Tag, ein Fahrzeug zu lenken, so gut fühlt sie sich nicht. Außerdem ist sie sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn sie die drei Männer nochmals sieht. Ein guter Freund an ihrer Seite kann in dieser Situation von großem Nutzen sein.

Joseph steuert den kleinen Audi bedächtig die Bergstraße hinauf. Seine Freundin erscheint ihm gefasster als zuvor. Doch, als sie auf den Parkplatz einbiegen, erblickt Maria die drei großen Limousinen. Sie bittet Joseph, die gegenüberliegende Seite anzusteuern, gleich in der Nähe des Kirchleins, der Waldkapelle.

Zögerlich steigt Maria aus dem Wagen.

»Willst du ins Hotel?«, fragt der Pfarrer.

»Nein, nein, das hat Zeit«, wehrt seine Freundin mit matter Stimme die Frage ab. Angesichts der drei Männer auf der Terrasse überlegt Maria, ob sie heute überhaupt im Berghof übernachten will. Vielleicht könnte sie ja im Pfarrhaus schlafen.

Joseph nimmt sie an der Hand und schlendert mit ihr zum Kirchlein. Während der Pfarrer im Inneren nach dem Rechten sieht, zupft Maria welke Blätter von den Rosenstöcken. »Ich will zum Seeblick«, lässt sie ihren Freund plötzlich wissen.

»Zum Seeblick? In deinem Zustand? Bist du dir sicher. Du weißt, der Aufstieg ist beschwerlich.«

»Joseph, ich war schon oft dort oben. An diesem Ort habe ich immer Ruhe gefunden. Das hilft mir. Willst du mich begleiten? Würde mir viel Spaß bereiten.«

»Selbstverständlich. Mache ich. Warte, ich hole mir nur die Bergschuhe aus der Sakristei. Du gehst mit deinen Tennisschuhen?«

Maria nickt.

Nachdem er seine Schuhe gewechselt hat, schlendern sie durch den Wald hinüber zum See, wo ihnen ein Wegweiser die Richtung zum Seeblick weist. Zu Beginn ist die Steigung noch mäßig, aber je mehr sie an Höhe gewinnen, desto beschwerlicher wird der Weg. Mehrfach kommen sie an kleinen Ausbuchtungen vorüber, die einen wunderschönen Ausblick über das Tal gewähren. An einer pausieren sie, und Maria genießt die beeindruckende Gegend. Am liebsten würde sie sie umarmen. Streichelt sanft den See mit ihren Blicken. Sie sieht zum Parkplatz, wo die drei Autos noch immer parken. Ob sie bald verschwinden werden, fragt sie sich. Ihre Gedanken beginnen um den Mann mit dem typischen herben Herrenduft, den sie seit Jahren mit sich trug, zu kreisen. Keinen ihrer Gedankenstränge kann sie zu Ende denken, kann sie endgültig abschließen. Wie aus dem Nichts entspringen immerzu neue Bilder vor ihrem geistigen Auge. Sie ist froh, Joseph an ihrer Seite zu wissen.

Dem Pfarrer bleibt ihre Geistesabwesenheit, ihre Versonnenheit, nicht verborgen. Als sie die Aussichtsplattform erreichen, fragt er sie: »Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«

Seine Freundin antwortete ihm mit einem Knappen: »Relativ«, während sie sich ein Lächeln abringt.

Joseph legt ihr den Arm um ihre Schultern. Schweigend stehen sie eng umschlungen und betrachten das Smaragdgrün des Sees. Ruhig, friedlich liegt er vor ihnen. Die spiegelglatte Oberfläche wird nur von einem Ruderboot gestört, das auf das Hotel zusteuert.

»Der alte Thilo kehrt zurück. Hat wohl wieder eine kleine Seerundfahrt gemacht, um sich fit zu halten – feiert er heuer nicht seinen fünfundachtzigsten Geburtstag?«, bemerkt der Geistliche rhetorisch.

Maria löst sich aus der Umarmung ihres Freundes und geht in Richtung Abhang. Für Joseph zu nahe. Er macht ein paar rasche Schritte auf sie zu und zieht sie vehement zurück. Dabei verliert er fast das Gleichgewicht. Seine Schuhe haben den Halt auf dem geschotterten Untergrund verloren.

»Was war das denn? … «, will sie von ihm wissen und reibt sich die Schulter.

»Ach nichts, bin nur ausgerutscht.«

Anscheinend hört sie die Antwort nicht, vielmehr setzt sie zu einem ähnlichen Gespräch an, wie sie es heute schon einmal geführt hatten. Joseph versucht, wieder mit den gleichen Argumenten zu überzeugen. Er sucht verzweifelt nach einer ultimativen Lösung für Maria. Doch er findet keine. Aussichtslose Verzweiflung scheint nun auch von ihm Besitz zu ergreifen. Er ist am Ende seines Lateins angelangt! Er setzt auf Zeit. Er hofft, dass all die Worte, die er in den vergangen Dekaden mit ihr gewechselt hatte, endlich greifen würden.

Oder gibt es doch eine ganz andere Lösung, die er bisher nicht in Erwägung gezogen hat?

In diesem Augenblick klingelt sein Mobiltelefon. »Moser. Grüß Gott! … äh, wann? … Geben Sie mir eine dreiviertel Stunde. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Schlechte Nachricht?«, fragt Maria neugierig.

Josephs Miene wirkt wie aus Stein gehauen. Tiefe Besorgnis spricht aus seinen Augen. »Eines meiner Schäfchen möchte das Sakrament der Krankensalbung, die ›letzte Ölung‹ wie sie früher genannt wurde, empfangen. Es geht dem Ende zu. Maria, kannst du mich ins Dorf zurückfahren?« Eigentlich will Joseph nicht von seiner Freundin chauffiert werden, aber wie sollte er sonst ins Tal kommen? Dass Norman sofort für ihn Zeit hat, davon kann er nicht ausgehen.

»Hier ist der Autoschlüssel. – Ich bleibe noch eine Weile hier«, schlägt Maria vor und drückt ihm den Wagenschlüssel in die Hand. »Ich möchte den Ausblick genießen und meine Gedanken ordnen. Du hast mir heute schon sehr geholfen … «

»Kann ich dich wirklich hier alleine lassen?« Seine Freundin nickt mehrmals. »Gut, aber bleibe nicht zu lange, schau, dort drüben ziehen bereits die ersten Gewitterwolken über den Bergkamm. – Ich bringe dir den Wagen später wieder.«

»Joseph, das ist nicht nötig. Ich brauche bis Sonntag kein Auto. Wenn doch, melde ich mich bei dir. Und das soll jetzt nicht heißen, dass du nicht jederzeit willkommen bist. Wir bleiben in telefonischem Kontakt.«

Joseph beschleicht ein ungutes Gefühl, bei dem Gedanken, seine Freundin hier oberhalb der Felswand zurückzulassen.

Maria drückt ihm einen Kuss auf die Lippen. »Wir sehen uns. – Auf Wiedersehen.«

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