Kitabı oku: «PUNKTUM.», sayfa 3

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*

Kurz nach dem Wetterleuchten entluden sich die Wolken. Ein schweres Unwetter wütete für Stunden in der Region. Es schüttete, dass man meinen konnte, das Ende der Welt sei angebrochen. Genauso schnell wie das Gewitter aufzog, ebenso rasch war der Spuk wieder vorbei.

Die Scheinwerfer des Autos tauchen die Gebirgsstraße in ein eigentümliches Licht. Viele kleine Äste liegen verstreut auf der längst aufgetrockneten Fahrbahn. Die Abkühlung tut gut. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt 23:32.

Joseph biegt in den Parkplatz des Berghofs ein. Das Hotel liegt bereits im Dunkeln. Kein Licht erleuchtet mehr das Restaurant. Die Laternen wiegen sich im kalten Wind. Der Pfarrer steigt aus dem Wagen, hört leise Männerstimmen von der Hotelterrasse und schreitet gemächlich zum Bootssteg hinüber. Er schaut vom Ende des Steges zurück zum Seeblickzimmer, in dem kein Licht brennt.

Den Tod eines lieben, langjährigen Freundes erlebt man nicht jeden Tag. Joseph sehnt sich plötzlich selbst nach einer verständnisvollen Schulter.

Als er bei dem alten, todkranken Bauern heute seine tröstenden Worte sprach, fiel ihm das Wort ›erlösen‹ auf. Der Erlöser, der am Kreuz für uns gestorben ist, erlöse uns von dem Übel. – Wovon will uns Gott erlösen? Von unserem mühevollen Leben? Um was zu erreichen? Das ewige Leben? Gott erlöst uns von einem kurzen Leben, um es gegen ewiges Leben zu tauschen?!

Nein, die Heilige Schrift muss man im Ganzen lesen – nicht einzelne Sätze extrahieren und sie neu zusammensetzen.

Aber wurde sein langjähriger Freund heute Abend wirklich erlöst? Nur weil er ohne Bewusstsein, ohne Herzschlag in seinem Bett lag.

Er wurde er von seinem Siechtum erlöst. … Doch er hat es mit seinem Leben bezahlt. – Eine zu einfache Lösung.

Wäre es da nicht logischer gewesen, wenn er ihn schon früher von seinen Qualen erlöst hätte. Ihm gnadenvolle Sterbehilfe angedeihen lassen hätte? Einzig, sein Freund hat ihn nicht darum gebeten. Wäre es deshalb moralisch verwerflich gewesen? Aber wenn er dazu aufgefordert worden wäre? Hätte er sich je zu Gottes rechter Hand aufgeschwungen? Hätte er je die Rolle des Erlösers übernommen? Wenn ja – wann hätte er die Rolle übernehmen dürfen, wann war der richtige Zeitpunkt, um zu handeln – um ihm den ultimativen Frieden angedeihen zu lassen, den sich verzweifelnde, leidende Menschen so sehnlich herbeiwünschen?

Joseph verheddert sich immer tiefer in seinen Gedanken. Kälte steigt in ihm auf. Sie überdeckt seine Fantasien. Er schaut hinaus auf den See und hat Mühe, die tiefschwarze Finsternis mit seinen Blicken zu durchdringen. Nur schemenhaft erkennt er die Steilwand, an die sich scheinbar ein schweres, schwarzes Leichentuch schmiegt.

Der kühle Wind bahnt sich seinen Weg unter Josephs Soutane, als wollte er sich dort wärmen. Dem Pfarrer fröstelt.

Verstört, über den Tag nachdenkend, stapft er zurück zum Parkplatz, an den Booten vorüber, in denen Wasserlachen im Rhythmus der Wellen von einer Seite zur anderen schwappen. Er hört das gleichmäßige Plätschern der Dünung an den Bootsplanken und fragt sich, ob er heute alles richtig gemacht hat.

Joseph ist froh, nicht mit dem Motorrad zum See gefahren zu sein. Es ist einfach zu kalt.

*

Bald nach den Gewittern waren die drei Männer, im Anschluss an ein formidables Abendessen, aus dem Gastraum wieder auf die Terrasse gewechselt. Sie wollen ihre Zigarren genießen.

Rauchen ist aber, seit die Politiker die Meinung vertreten, dass ihre Gesellschaft, die sie zu repräsentieren haben, unmündig ist, obendrein den Wirten die freie Wahl genommen haben, nur mehr im Freien erlaubt. Als die drei Männer sich ihre Zigarren anstecken, sagt der Untersetzte räuspernd, wehmütig: »Das war früher ganz anderes, als man in den Lokalen noch rauchen durfte.«

»Ja, ja, die guten alten Zeiten, als wir selbstbestimmt durch die Welt wandelten. Damals galten die freie Wahl und Selbstverantwortung noch etwas. Wir und die Lokalinhaber durften seinerzeit noch selbst entscheiden. Dafür stinkt es heutzutage in den Diskotheken nach pubertierenden Jugendlichen, wie in einem Turnsaal … «. Sie lachen herzhaft und paffen zufrieden ihre teuren Zigarren.

»… und damals hätte man auch nicht das Licht vor Mitternacht abgedreht. Hätte es alles früher nicht gegeben. Genauso wenig, dass wir hier im Dunkeln unseren Whisky trinken müssen«, ereifert sich der große Hagere und bläst geübt einen Rauchring in die kühle Nachtluft.

Der Glatzköpfige stellt sein Whiskyglas auf dem breiten Geländer der Terrasse ab. Er späht zum See hinüber und sieht einen dunklen Schatten am Bootssteg stehen. Er kneift die Augen zusammen und erkennt eine Gestalt, die eine Soutane mit Kollar und schwarzem Zingulum trägt. Sie kommt auf ihn zu.

Als der Priester an der Terrasse vorüber schlendert, sagt er: »Grüß Gott Herr Pfarrer. Genießen Sie die Kühle der Nacht?«

»Grüß Gott. Ja – manchmal benötigt man einfach Zeit für ungestörtes Nachdenken, um seine Gedanken neu zu sortieren. Das ist der ideale Platz dafür. – Schönen Abend noch … «

»Verzeihen Sie – eine Frage: Tragen Priester auch in ihrer Freizeit ihre Soutane?«, will der Mann wissen.

»In unserer Region gehört es bis heute zum Brauchtum … «, antwortet Joseph im Vorübergehen, ohne anzuhalten. Ihm ist nicht nach Small-Talk. Ihm ist kalt.

SAMSTAG

3

Annas Samstage sind von einem rituellen Ablauf geprägt. Zwei Stunden länger schlafen. Nach der Morgentoilette eine genüssliche Dusche. Anschließend ein kurzer Blick auf die Newsseiten der Presse. Alles ohne Zeitdruck. Danach trifft sie sich mit Claudia zum Frühstück in ihrem Stammlokal. Zwei Buttersemmel, ein großer Brauner und ein Ei im Glas. Hinterher flanieren sie bis mittags durch die Stadt, um in der Prosecco-Bar ihre Runde abzuschließen, und um das restliche Wochenende zu planen.

Aber an diesem Samstag war der gewohnte Ablauf unterbrochen. Sie wachte früh auf. Viel zu früh. Ihre innere Unruhe weckte sie. Sie schaut sofort auf ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht. Sie checkt ihre E-Mails. Nichts, außer Spam. Loggt sich in ihren WhatsApp-Account ein. Nichts. Zu guter Letzt überprüft sie auch noch Facebook. Wieder nichts. Anna kann nicht mehr schlafen. Selbst wenn sie es versuchen würde nochmals die Augen zu schließen, die schweren, blickdichten Vorhänge vor den Fenstern zuzieht, die Sorgen um ihre Mutter würden sie wach halten.

Missmutig klettert sie aus ihrem Bett. Nur mit ihrem kurzen Nachthemd bekleidet wackelt sie in die Küche und schaltet den Kaffeeautomaten ein. Sie lehnt sich gegen die Küchenzeile, stützt sich mit beiden Händen ab und beobachtet tranceartig wie die dunkle Flüssigkeit in die kleine Schale tröpfelt. Anna liebt den Duft von Kaffee. Dieses Aroma weckt jeden Morgen ihre letzten, noch verbliebenden, schlummernden Lebensgeister.

Sie nimmt die Tasse und tritt auf den Balkon hinaus. In der vergangenen Nacht musste es geregnet haben, denn die Luft ist ungewöhnlich klar. Der Wind hat die schwüle Dunstwolke aus der Stadt geblasen, die Atmosphäre gereinigt. Eine kühle, aber nicht unangenehme Brise umspült ihren Körper.

Sie setzt sich auf den Gartenstuhl und legt ihre Beine auf das Geländer. Beinahe verbrüht sie sich ihre Zunge an dem heißen Kaffee. Langsam lässt sie die Tasse auf den Beistelltisch sinken und angelt sich ihr Telefon. Ein Blick auf ihre kleine Cartier-Uhr sagt ihr, dass es noch zu früh ist, um Claudia anzurufen. Sie holt tief Luft.

Sie will gerade ihr Mobile beiseitelegen, als sie ein leichtes Vibrieren vom Gerät verspürt, begleitet von einem einzigen, leisen Piepton. Ah – SMS, denkt Anna.

Neugierig holt sie es aus dem Standby-Modus und wischt über das Display. Die Nachricht ist von Claudia: »Sorry, muss zum Flammenkogel. Geschäftlich. Sonntagsausgabe will gefüllt werden. :Smiley mit heruntergezogenem Mund: Trinke einen Prosecco für mich mit. Melde mich, wenn ich zurück bin. :winkendes Smiley:«.

»Shit … «, stößt Anna verärgert hervor. ›Muss sie gerade heute zu einer ›Story‹ gerufen werden‹, denkt sie. ›Hat sie mir gestern nicht erzählt, wie unsäglich ruhig ihre Woche war, ohne Katastrophen, ohne amüsante Geschichten, die das Leben zuweilen schreibt. Sie hat Seiten mit nebulosen Themen gefüllt. Und heute, am Wochenende wird sie in die Provinz gerufen.‹

Das sind die weniger schönen Aspekte im Berufsleben einer Redakteurin. Die schreibende Zunft kann unmöglich ihre Freizeit im Vorhinein planen, denn sie ist fremdbestimmt.

Anna überlegt, wie sie den Tag, ohne ihre Freundin anlegen wird. Was soll sie tun? Wie konnte sie die näheren Umstände herausfinden, warum sich ihre Mutter nicht meldet?

Die acht Gongschläge der kleinen Pendeluhr reißen sie aus ihren Gedanken. Sie steht auf und schaltet das TV-Gerät ein. Nachrichten. Ungeduldig verfolgt sie die Berichterstattung. Sie ist weniger an den Geschehnissen in der Welt interessiert, vielmehr an den Lokalnachrichten. Keine Verkehrsunfälle, keine Wohnungsbrände, keine Überfälle, keine fatalen Unwetter, keine Naturgewalten. Nichts.

Sind keine Nachrichten wirklich gute Nachrichten, überlegt sie zweifelnd. Anna stellt sich die Frage, wen sie noch kontaktieren könnte. Bis auf Frau Santora fällt ihr niemand ein. Ihre Mutter hat keine Freundinnen, außer eben Frau Birgit Santora. Führte ihre Mutter wirklich ein solch einsames Leben? Anna wird diese Tatsache erst jetzt bewusst. Sie blickt auf ihre Cartier. Halb neun zeigt die Uhr.

Anna tippt Santoras Nummer ins Telefon.

»Santora.«

»Verzeihen Sie, dass ich Sie am Wochenende nochmals störe. Meine Mutter hat mir ja ihre private Telefonnummer – für den Fall der Fälle – geben. … «

»Wer spricht denn? … «

»Äh, Steiger … Anna Steiger, ich bin die Tochter von … «

»Guten Tag. Ich weiß, wer Sie sind. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Liebe Frau Santora, wir haben schon gestern miteinander telefoniert. Sie sagten mir, meine Mutter hätte sich freigenommen und wollte zu einem Freund fahren … «

»Ja … und?«

»Na ja, ich sorge mich. Soviel ich bis jetzt herausgefunden habe, scheinen Sie die einzige Freundin meiner Mutter zu sein. Jedenfalls hat sie immer nur Sie erwähnt, beziehungsweise von Ihnen erzählt. Mir ist erst heute bewusst geworden, dass sie anscheinend das Leben eines Eremiten führt … « Anna lässt eine kurze Pause entstehen. »Wie beschreibe ich es am besten? Im Augenblick kommt sie mir wie eine Fremde vor … «

»… Frau Steiger, darf ich Sie unterbrechen. Ich bin auf dem Weg in die Stadt. Sie wohnen ja im Zentrum. Wollen wir uns nicht in einem Kaffeehaus treffen. Am Telefon … «

»… Gerne«, unterbricht sie Anna. »Wann und wo ist es Ihnen recht?«

»Sagen wir in einer Stunde?«

»Perfekt und wo?«

»Schlagen Sie etwas vor.«

»An Samstagen verabrede ich mich normalerweise mit meiner Freundin in unserem Stammlokal, der ›Spaghetteria‹. Sie ist heute verhindert. Wollen wir uns dort treffen? Wissen Sie, wo das Lokal liegt?«

»Kenne ich. Also in einer Stunde.«

»Super. – Danke, ich werde pünktlich sein.«

Anna ist überpünktlich. Bereits eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin trifft sie im Lokal ein und wählt einen Platz im Gastgarten, nahe der Hausmauer, wo man sich ungestört unterhalten kann.

Anna versucht, sich einen Fragenkatalog zurechtzulegen. Als sie ihre Fragen in ihr Notepad tippen will, trifft Frau Santora ein.

»Sehr lieb, dass Sie sich für mich Zeit nehmen. Danke«, beginnt Anna die Unterhaltung.

»Schön, dass wir uns einmal persönlich kennenlernen. War ja schon höchste Zeit. Sie sind ja viel hübscher, als Sie ihre Mutter beschrieben hat«, schmeichelt Santora.

Anna spürt, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Es ist schon lange her, dass sie ein solches Kompliment erhalten hat.

»Sie sehen ja ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich. Ich meine natürlich, wenn man die Jahre, die sie trennen, außer Acht lässt.«

»Danke. Sie bringen mich in Verlegenheit. Übrigens, mir ergeht es genauso – ich meine damit, dass wir uns persönlich, so von Angesicht zu Angesicht, kennenlernen. Meine Mutter hat andauernd von Ihnen erzählt. Sie sind ja sozusagen ihre beste Freundin ...«

»... Beste Freundin? Sagen wir so – einzige Freundin, und damit natürlich beste Freundin. Aber wollen wir uns nicht duzen? Ich kenne so viele Einzelheiten aus Ihrem Leben. Das ›Sie‹ ist für mich befremdlich … «

»Gerne … Ich bin die Anna.«

»Ich bin die Birgit.«

»Also liebe Anna, alles, was ich dir über deine Mutter und ihren Verbleib erzählen kann, habe ich dir schon gestern am Telefon erzählt … «

»Du hast einen Freund, Joseph glaube ich, erwähnt? Weißt du, woher er kommt? Wer er ist? Von wo sie ihn kennt?«

»Sosehr ich auch über das Leben deiner Mutter im Detail Bescheid weiß, sosehr hat sie mich über die großen Zusammenhänge im Unklaren gelassen. Diesen Joseph, den ich erwähnte, den gibt es, solange ich Maria kenne. Sie hat sich drei, vier Mal im Jahr mit ihm getroffen. Als du noch klein warst, durftest du immer bei einer Freundin übernachten, während sie zu ihm fuhr. Weißt du eigentlich, dass deine Mutter zeitweise unter psychischen Problemen litt?«

»Nein, ist mir nie aufgefallen. Sie hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt. – Was meinst du?«, hakt Anna neugierig nach.

»Siehst du, auch das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich versuche mir die Teile nur zusammenreimen.«

»Birgit, sag schon, welche Probleme vermutest du?«

»Jetzt wird es schwierig für mich. Ich weiß nicht, was du weißt oder nicht weißt. Was darf – kann – ich dir sagen, was mir deine Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat. Ich möchte keinen Vertrauensbruch begehen, andererseits will ich dich nicht in der Luft hängen lassen.«

»Das klingt jetzt nicht sehr einleuchtend für mich, aber trotzdem glaube ich, zu verstehen. Vorschlag: Schmeiß' einen Begriff in die Runde und ich erzähle dir meinen Wissensstand. Anhand dessen kannst du dann entscheiden, was du von deinem Wissen preisgibst. Ist das OK für dich?«

»OK, das ist ein Deal. Also, das erste Wort wäre VATER.« Birgit sieht Anna erwartungsvoll in die Augen.

»Du meinst meinen Vater? Diesbezüglich kann ich dir nur sagen, dass es ein Agreement mit Maria gab: Sie mich bat, nicht nach ihm zu fragen. – Daher kenne ich ihn nicht. – Aber eines Tages, als sie merkte, dass mich das Thema immer stärker beschäftigte, mich nicht mehr losließ, meinte sie unter Tränen: Verurteile mich nicht – auch ich war einmal jung. Ich war unterwegs, ich hatte einfach Lust – im wahrsten Sinne des Wortes – auf einen Mann. Und den traf ich in dieser Nacht einen gut aussehenden Typ, an dem alles dran war, nach dem mich gelüstete. Es kam, wie es kommen musste: Wir landeten in meinem Bett. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Auch keine auf den Zweiten. Damals wollte ich mich nicht auf eine längerfristige Beziehung einlassen. Ich gab vor, eine selbstbewusste Frau zu sein, die niemals Fragen stellt, für die Neugier ein Fremdwort sei. Bereits in dieser Nacht trennten sich unsere Wege wieder. Ich kannte weder seinen Nachnamen noch Adresse. Darüber hinaus spielte mir in jenen Tagen mein Monatszyklus oft einen Streich. Ich merkte viel zu spät, dass ich schwanger war – erst, als ich dich bereits in mir spürte. Ich wollte dich, selbst wenn ich nicht wusste, wer dein Vater ist. Er kannte zwar meine Adresse und hätte mich leicht finden können, aber er hat keinen Gebrauch davon gemacht. Ich war ihm möglicherweise zu abweisend, wahrscheinlich ließ es sein Stolz nicht zu, sich bei mir wieder zu melden. Und so kam es, wie es kam. Ich bin mit dir glücklich geworden.«

»Oh Gott … «, presst Birgit hervor. »Das ist starker Tobak. Maria hat mir das nie erzählt. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob du deinen Vater kennst, denn sie hat ihn mir gegenüber nie erwähnt. Und wie gehst du mit der Tatsache um?«

»Wie soll man damit umgehen? So eine Geschichte kann man nur akzeptieren, man muss lernen, dass man keine Chance hat, seine Fragen beantwortet zu bekommen. Das ist alles.«

Birgit ergreift Annas Hand und schaut ihr mitfühlend in die Augen. Sie ringt nach Worten, findet jedoch nicht die Passenden.

»Sag, weil wir gerade beim Thema Männer sind: Hat meine Mutter nie einen erwähnt?«

»Oh ja, hin und wieder tauchte ein Name auf. Aber spätestens nach zwei, drei Monaten beendete sie oder er die Affäre. Einmal hat sie davon gesprochen, dass sich Liebhaber mit den Worten: ›Du bist nicht einfach, man hat es nicht leicht mit dir.‹, verabschiedet haben.«

»Wie lange kennst du meine Mutter bereits?«

»Na ja, ich trat, während Marias Babypause in das Unternehmen ein. Als sie zurückkam, wurden wir schnell Freundinnen. Zunächst auf geschäftlicher Basis, danach auch auf privater. Nach zwei Jahren wurde ihr die Abteilungsleitung übertragen. Fünf Jahren später trat ich an ihre Stelle und sie übernahm die Unitleitung.«

»Darf ich dich etwas Persönliches fragen: Glaubst du, dass meine Mutter glücklich ist?«

Birgit beginnt zu erzählen. Natürlich hat sie den Eindruck, dass Maria ein zufriedener Mensch sei. Aber gleichzeitig auch eine Suchende. Dieses Bild von ihrer Freundin hätte sich bei ihr eingeprägt. Es hilft ihr, zu erklären, warum Annas Mutter immer wieder starken Gemütsschwankungen ausgesetzt ist. Maria ist auf der Suche, findet aber nicht, wonach sie Ausschau hält.

Anna hängt Birgit förmlich an den Lippen. Jedes einzelne Wort speichert sie für sich ab. Sie erfährt viel Neues, das so manche ihrer Fragen beantwortet, die sie sich nie zu stellen getraute.

»Sag, weißt du Genaueres über diesen Joseph?«

»Nein, nicht viel mehr, als das ich dir schon erzählt habe. Scheint ein Jugendfreund von ihr zu sein, jedenfalls kennt sie ihn länger als mich. Wie hat sie es immer ausgedrückt: ›Das war vor deiner Zeit‹. Er dürfte die männliche Hemisphäre und ich die weiblich abgedeckt haben.« Birgit macht eine Pause und setzt anschließend fort: »Also, Joseph ist ein Jugendfreund von ihr. Wenn sie mit ihm gesprochen hatte, ging es wieder eine lange Zeit gut. Allem Anschein nach wohnt er in der Provinz. Ich glaube, er lebt in Wengthal oder Lengthal. Mehr weiß ich nicht.«

»Denkst du, sie hat mit ihm geschlafen?«

»Schwer zu sagen. Du meinst eine Bettgeschichte auf Abruf? Eine On-Off-Beziehung? Sieht deiner Mutter nicht ähnlich. Aber stille Wasser sind tief. Es könnte genauso gut ein Psychotherapeut sein …«

»… bei dem man gleich ein Wochenende verbringt und übernachtet? Wäre eine ungewöhnliche, neuartige Form der Patientenbetreuung.«

Anna startet ihr Notepad. Ruft Google-Maps auf. Gibt den Namen Wengtal ein. Keine Treffer. Versucht es mit Lengtal. Ihr wird Lengthal vorgeschlagen. Akzeptiert. »Ich habe hier ein Lengthal an der Schwarza. Hundertachtzig Kilometer entfernt. Ist es das?«, fragt Anna.

»Das könnte es sein. Deine Mutter hat einmal erwähnt, dass sie zwei Stunden benötigt, wenn sie zu Joseph fährt. Was hast du jetzt vor?«

»Was kann ich schon viel tun? Abwarten und Tee trinken. Die Polizei meint, man sollte 72 Stunden warten und erst danach jemanden als vermisst melden. Bis jetzt sind noch keine 48 vergangen.« Sie seufzt. »Das bedeutet, nicht vor Montag … «

»So weit wird es hoffentlich nicht kommen«, versucht Birgit, Anna zu trösten. »Sieh doch in ihrer Wohnung nach … «

»… Kann ich nicht. Bestenfalls anläuten. Ich habe keinen Schlüssel.«

»Aber ich«, erwidert Marias Freundin und kramt in ihrer Tasche. »Schau hier. Deine Mutter gab ihn mir für den Notfall. Und das hier ist ein solcher. Nimm ihn.«

Anna fragt sich, warum Birgit einen Schlüssel besitzt und sie nicht. Sie greift nach dem Schlüsselbund, hält ihn in der Hand und betrachtet ihn eingehend. Hat ihre Mutter etwas zu verbergen? Hat sie ein Geheimnis, das sie nicht wissen darf?

»Birgit, vielen Dank. Was würde ich jetzt nur ohne dich machen? – Ich werde zu ihrem Appartement fahren und Nachschau halten. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis.«

»Das mit der Wohnung ist eine gute Idee«, erwidert Birgit und schaut auf die Uhr. »Anna, mein liebes Kind, die Zeit rast. Vergeht wie im Fluge mit dir. Ich muss leider aufbrechen, du hast ja meine Nummer. Halte mich auf dem Laufenden. Tag und Nacht.«

»Mach ich gerne«, verspricht Anna, »Ich übernehme die Getränke, sie gehen auf mich.«

»Danke, ist aber … «

»… beim nächsten Treffen bist du an der Reihe.«

Birgit steht auf, beugt sich zu Anna hinab und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. »Wird schon schief gehen. Ich denke an dich.«

Birgit winkt ihr von der Straße aus noch einmal aufmunternd zu. Anna zieht das Notepad zu sich und gibt den Namen Joseph und Lengthal in die Suchmaschine ein. Acht Treffer im Telefonbuch. Obwohl sie jedes einzelne Ergebnis untersucht, ergibt sich kein brauchbarer Anhaltspunkt. Sie beginnt nochmals von Anfang an zu lesen. Keiner der Einträge stimmt mit ihren Vorstellungen, ihren Hinweisen überein.

Anna startet einen neuen Versuch: Tippt Lengthal und Hotel ein. Wieder verknüpft. Kein Treffer. Lengthal scheint zu klein zu sein, um einem Hotel als Lebensgrundlage dienen zu können. Die Suche weist, den nächstgelegene Hotelbetrieb erst in zehn Kilometern Entfernung aus.

Was hat Birgit erwähnt? Einen Psychiater oder Psychotherapeuten, überlegt Anna und tippt Psychiater und Lengthal ins Suchfeld ein. Auch keine Treffer. Sinnlos, denkt sie.

Zu guter Letzt durchforstet sie die Websites der regionalen und überregionalen Zeitungen. Aber sie findet keinen Hinweis, der ihr weiter helfen könnte. Resigniert schaltet Anna ihr Notepad aus.

Während sie ihren Kaffee zu Ende trinkt, kreisen ihre Gedanken um die Beziehung zu ihrer Mutter. Es wird ihr immer deutlicher bewusst, wie wenig sie sie kennt, trotz der ständigen Nähe.

Anna bezahlt und macht sich auf den Weg. Würde sie ihre Mutter in der Wohnung antreffen? Oder wird sie vielleicht vor leeren Zimmern stehen? Wonach sollte sie überhaupt suchen? Wieweit darf sie in die Intimsphäre ihrer Mutter eindringen, Kästen und Schubladen durchsuchen? Würde sie gar ein wohlgehütetes Geheimnis entdecken?

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