Kitabı oku: «Karibien», sayfa 4

Yazı tipi:

Melinda und Graham

„Oh, hallo Rodney, das ist aber nett, dass du mal wieder vorbeischaust!” Melinda lächelte unter ihren schwarzen Ponys hervor und streckte ihm eine lange, schmale Hand entgegen. Sie war einen Kopf kleiner als er, hielt ihm die Tür zu dem zweistöckigen Haus auf, das ihr Mann Graham zum großen Teil selbst gebaut hatte, und ging dann auf klappernden japanischen Holzschuhen über den hellen Ahornfußboden des offenen Eingangsbereichs zur Küche, die aus ein paar Einbaumöbeln aus Edelstahl und Aluminium bestand. Sie humpelte fast unmerklich. Über ein paar Stufen wäre ein tiefer gelegener, mit einem Sofa, einem Kamin und einer aufwändigen Stereoanlage ausgestatteter Wohnraum zu erreichen gewesen. Dort gaben zwei große Schiebefenster den Blick den Hügel hinab auf die Wälder im Südwesten frei. Weiter im Norden, das wusste Rodney, konnte man bei klarem Wetter ein wenig Meer und die Ausläufer von Wilbourne sehen.

„Ich wollte mir gerade einen Tee machen. Willst du auch einen?”

Rodney nickte zögerlich.

„Störe ich denn nicht?”

„Überhaupt nicht!“, antwortete Melinda mit übertriebener Herzlichkeit und kramte in einem Schrank herum. Sie trug Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Sie hatte ihr langes Haar aufgewickelt und mit Holzstäbchen festgesteckt. „Fujian?” Sie holte eine Schachtel mit Teebeuteln hervor.

Rodney nickte, lehnte sich mit der Hüfte gegen die blitzende, völlig leere Arbeitsplatte und steckte die Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeans.

„Ist Graham nicht da?”

Melinda öffnete einen anderen Schrank und holte einen Wasserkessel hervor.

„Doch!“, sagte sie auf dem Weg zum Wasserhahn. Das Wort wäre ihr fast im Hals stecken geblieben. „Es ist Pauls Geburtstag.” Sie füllte den Kessel, ging zum Herd und sah Rodney kurz an. „Wäre es gewesen.”

„Paul?”

„Er hat dir die Geschichte noch nicht erzählt? Paul war sein Sohn. Er ist vor gut sieben Jahren gestorben. Graham kriegt immer Depressionen an seinem Geburtstag.” Sie stellte den Kessel auf den Herd und schaltete die Platte ein. „An seinem Todestag auch, aber an seinem Geburtstag ist es ganz besonders schlimm.”

„Oh, das tut mir leid.”

„Ist schon okay. Ich übe einfach ein bisschen mehr.” Sie lehnte sich mit dem Hintern an die Küchenzeile und verschränkte die Arme. „Es ist nicht so, dass er mich groß in Mitleidenschaft ziehen würde. Er schließt sich in sein Zimmer ein oder geht spazieren.”

„Nein, ich meinte für ihn. Es tut mir leid für ihn.”

„Oh!” Melinda errötete und schaute zu ihm auf. „Natürlich! Ja! Ist zwar schon ‘ne Weile her, aber er ist immer noch nicht darüber hinweg. Er fliegt morgen nach Portland und besucht das Grab.”

„Aber ich dachte, heute ...”

„Er will seine Ex nicht treffen.“ Melinda schüttelte kurz den Kopf. „Sie hatte einen Autounfall; und Paul war nicht angeschnallt. Graham hat ihr nie verziehen.” Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Willst du nicht die Jacke ausziehen?”

„Doch!” Rodney zuckte zusammen und öffnete den Reißverschluss seiner Regenjacke.

„Es tut mir leid, dass Graham heute nicht ansprechbar ist. Ich weiß, du wolltest mit ihm eigentlich Schach spielen, aber heute geht es nicht. Vielleicht am Wochenende!” Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. „Er ist noch bis Montag hier, dann muss er noch einmal auf eine Baustelle.” Sie drehte sich um, nahm zwei Becher von einem Ständer, legte in jeden einen Teebeutel und goss das inzwischen kochende Wasser auf diese. „Die letzte für dieses Jahr!” Sie wandte sich wieder Rodney zu, der inzwischen seine Jacke über eine Stuhllehne gehängt hatte. „Es war für ihn keine besonders gute Saison am McKinley. Nur zwei Seilschaften, und die eine musste umdrehen, kaum war sie aus dem Basislager raus! Jetzt meint er, das Geld auf dem Bau rein arbeiten zu müssen und schuftet sich krumm, dabei haben wir wirklich genug. Sogar mehr als das!” Sie lächelte traurig.

„Er hat gesagt, er nimmt mich mal mit.”

„Ich weiß. Und das wird er bestimmt auch machen! Kann mich nicht erinnern, dass er jemals ein Versprechen gebrochen hätte. Außer dem, weniger zu arbeiten, natürlich!” Sie nahm einen Löffel aus einer Schublade und spielte mit einem der Teebeutel.

„Dazu muss ich aber erst einmal was für meine Kondition tun.”

„Mit Dog spazieren zu gehen reicht dafür nicht, fürchte ich.”

„Wo ist der überhaupt?” Rodney blickte sich suchend um. „Mein Gesicht ist noch ganz trocken.”

„Oben bei seinem Herrchen. Hält ihm die Füße warm.” Melinda beförderte die Teebeutel mit dem Löffel in den Abfall. „Sie trauern immer zusammen.”

„Aber er hat Paul doch gar nicht gekannt, oder?”

„Nee! Aber irgendwie spürt er, dass es seinem Herrchen nicht gut geht!” Sie nahm die Tassen und trug sie zu einer hölzernen Schiebetüre.

„Ich versuch also besser gar nicht erst, ihn auf einen kleinen Ausflug einzuladen?”

„Keine Chance! Sie fallen heute beide aus. Du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen” Melinda lächelte und schob die Tür auf. Dahinter lag ein Raum, der wie der Wohnbereich um ein paar Stufen abgesenkt war. Mit weißen Gardinen verhängte Terrassenfenster schlossen ihn nach zwei Seiten ab. In der Mitte stand ein schwarzer Konzertflügel. Es gab einen Klavierhocker, zwei Stühle und ein Sideboard voll Notenheften. An der Wand hingen zwei Fotos, die einen Mann und eine Frau in Kimonos zeigten. Unter diesen stand ein altarähnliches Tischchen aus drei Granitplatten und darauf eine Vase mit einem Zweig voll Herbstblättern.

Rodney folgte Melinda. Sie schloss die Tür mit dem Ellbogen, reichte ihm seinen Becher, schlürfte vorsichtig aus dem ihren, ging zu dem Flügel und stellte den Becher neben dem Klavierhocker auf den Boden.

„Was willst du hören? Schubert? Chopin?” Sie ging zu dem Sideboard und bückte sich.

„Egal!” Rodney setzte sich auf die Stufen. „Ich kenn’ die alle nicht.“

„Ich studier’ mit einigen von meinen Schülern gerade ein paar Sachen von Rachmaninow ein.”

„Ein Russe?” Er beobachtete sie über den Tassenrand hinweg.

„Alles sehr pathetisch! Seit Anfang des Semesters sind ein paar Studenten dabei, die wirklich Talent haben. Ich glaub’, es wird ein gutes Konzert. Nicht so wie letztes Jahr! Das war schrecklich. Die Studenten waren behäbig. Ohne Feuer! Sie wollten nicht. Man hat es sofort gehört.”

„Da war ich noch nicht in der Stadt.”

„Stimmt!” Melinda sah ihn erstaunt an. „Mir kommt es vor, als würdest du hier schon seit einer Ewigkeit wohnen.” Sie richtete sich mit einem Notenheft in der Hand auf. „Du bist erst im Frühjahr gekommen.”

Er nickte.

„Nun, Dog hat dich zum vierten Familienmitglied gemacht. Und ich habe das Gefühl, Graham sieht das auch so. Er hat dich sehr gerne; und das tut ihm gut, weißt du.” Sie blätterte kurz in den Noten. „Und ich mag dich natürlich auch.” Sie lachte ihn an.

Rodney lächelte zur Erwiderung und versteckte sich schnell hinter seinem Becher.

„Apropos, hab’ ich da, als ich dir das letzte Mal Dog vorbeigebracht habe, nicht eine Frau in deinem Trailer gesehen? Verschweigst du uns etwas?”

„Das ist nur ‘ne Freundin, sie ...”

„Eine Freundin, so so!” Melinda stellte das Notenheft auf das Pult und setzte sich auf den Hocker. „Und sie wohnt bei dir?”

„Vorübergehend! Sie hat zu Hause Probleme.”

„Probleme?” Melinda schaute ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Mit ihren Eltern!”

„Oh!” Sie wölbte die Brauen. „Du magst sie jung, ja?”

„Sie ist gar nicht so jung. Ich weiß nicht. So alt wie ich, schätz’ ich mal.”

„Nun, 21 ist natürlich schon ziemlich alt, da hast du Recht. Warum bringst du sie nicht einfach mal mit, damit Graham und ich prüfen können, ob sie auch die Richtige für dich ist?” Sie lachte ihm offen ins Gesicht und knetete dabei die Finger.

„Okay!“, antwortete Rodney stockend. „Das mach’ ich.”

„Ich frag’ Graham, wann ‘s ihm passen würde, dann gebe ich dir Bescheid. Ich bin schon ganz gespannt.” Melinda grinste, warf den Kopf theatralisch in den Nacken, hob die Hände hoch über die Tastatur und ließ sie für die ersten Akkorde darauf niederfallen.

Beinahe widerwillig und mit einem Rest von schlechtem Gewissen, einer Ahnung nur, einem Nachhall früherer Verbote und Ermahnungen, gab sich Rodney der Musik hin und seine sonst so sorgenvollen Züge entspannten sich allmählich.

„Hallo Sylvie! Wie geht’s?”, fragte Schmiss leutselig und klatschte zum Zeichen dafür, dass es draußen kalt war, in die Hände, die in schwarzen Handschuhen steckten.

Sylvie hatte sich in eine Wolldecke gewickelt, die bereits dazu gedient haben mochte, die Sioux mit TBC zu infizieren, hockte auf dem Sofa, blätterte in einer Zeitschrift voll Schönheitstipps der Oberen Zehntausend und hielt bei einer Hochzeitsreportage inne.

Schmiss warf Rodney einen verwunderten Blick zu.

„Was ist los mit ihr?”

Rodney, der sich vorsichtig im Hintergrund gehalten hatte, trat neben ihn.

„Sie hat mit ihrem Vater telefoniert“, flüsterte er. „Er verzichtet auf eine Anzeige, erlaubt ihr aber nicht mehr, bei ihm zu wohnen.”

„Diese Hexe! Ich könnte sie ...” Sylvies Hände packten die Zeitschrift immer fester, bis sie zitterten und die Knöchel weiß wurden. „Erst stiehlt sie mir den Vater und jetzt auch noch mein Zuhause; und ich muss mir das alles gefallen und mich verhöhnen und bespucken und auslachen lassen und hock’ hier in diesem Drecksloch und hab’ nichts. Niemanden! Kein Leben! Gar nichts!” Sie schniefte. Sie schob die Lippen zu einer Schnute nach vorne. „Ich wünschte mir, ich wäre tot.”

„Hey, sag’ doch so was nicht!” Schmiss legte mit einem breiten Lächeln einen Arm um Rodney, dem diese Geste sichtlich unangenehm war, und das nicht zu zuletzt deshalb, weil das Teddyfutter von Schmiss’ Armeeparka stark nach Fischmehl stank. „Du hast doch noch uns.”

„Willst du mich verarschen?”, fragte Sylvie mit drohendem Unterton. Ihre Augen waren gerötet.

Schmiss schüttelte den Kopf.

„Ich hab’ ihr schon gesagt, sie kann gerne hier bleiben, bis sie ... bis sie was zum Wohnen gefunden hat“, berichtete Rodney leise.

Schmiss ließ Rodney los und runzelte verwundert die Stirn.

„Ist ja sicher nicht für lange“, fügte Rodney lauter an. „Sie sucht sich einfach ‘nen neuen Job, und dann steht sie bald auf eigenen Füßen. Wer weiß, vielleicht hat die ganze Geschichte ja auch ihr Gutes?!” Rodney übte sich an einem optimistischen Lächeln, dieses gefror ihm allerdings bei Sylvies Anblick.

„Job!“, höhnte sie mit dunkelrotem Gesicht. „Es gibt keine Jobs in diesem stinkenden Drecksloch von einer Stadt, außer man geht anschaffen wie diese Rothäute in der Bar, in der du dich so gerne rumtreibst. Aber vielleicht ist es ja genau das, was du willst: dass ich für dich anschaffen geh’. Oder willst du mich vor die Tür setzen wie ‘nen Hund?” Ihre Lippen bebten. „Wie ‘nen alten, stinkenden Hund!” Sie rollte die Zeitschrift immer enger zusammen. Die Titelseite riss aus den Heftklammern. „Nein, nicht wie ‘nen Hund! Jeder Hund wird besser behandelt wie ich. Wird gefüttert! Gassi geführt! Ein Riesentheater wird um Hunde gemacht! Dog hier und Dog dort! Sind ja echt wichtig, so Köter. Nur ich nicht!”

Rodney brachte kein Wort heraus. Stattdessen antwortete Schmiss, der plötzlich vor Wut schnaufte.

„Du weißt überhaupt nich’, wovon du da redest, weil es gibt nämlich viele Hunde, denen geht ‘s ganz dreckig, weil das weiß ich nämlich, weil ich in ‘nem Tierheim war, weil ich ‘nen Hund will, ‘nen Schäferhund, ‘nen Deutschen Schäferhund, nur sie hatten keinen, aber ganz viele andere, und da braucht man ‘nen Herz aus Stein, weil sonst nimmst du gleich sechs oder sieben von denen mit; und von den Frauen weißt du auch gar nichts, weil das sind auch nur Menschen, wo vielleicht einfach nur Pech in ihrem Leben hatten, und sie weinen und sie ham Kinder und sie wollen glücklich sein wie alle anderen auch, und bloß weil sie im Macmanimous arbeiten und vielleicht ‘ne andere Hautfarbe ham ...”

„Hundehirn!“, zischte Sylvie.

Schmiss wollte sich auf sie stürzen, aber Rodney packte ihn an der Kapuze und riss ihn mit aller Kraft nach hinten.

„Schmiss, es reicht!“

„Frauen schlagen, da seid ihr Schlappschwänze groß drin, aber ‘ne Frau beschützen, dazu reicht ‘s nicht”, höhnte Sylvie. „So was können nur echte Männer, aber ich muss ja ausgerechnet bei ‘ner Schwuchtel mit ‘nem Hohlkopf zum Freund landen. Als wenn ich nicht schon genug Pech hätte!” Sie zog die Decke, die verrutscht war, wieder zurecht. „Und scheiß kalt ist es hier drin außerdem!”

Schmiss befreite sich, stapfte wortlos zur Tür, öffnete sie, verschwand in der Nacht und warf das dünne, kunststoff-beplankte Blatt hinter sich mit derartiger Wucht ins Schloss, dass der ganze Trailer zitterte. Rodney wartete kurz, dann ging er zur Garderobe, wo er in einen Daunenanorak und schwere Stiefel schlüpfte, und folgte seinem Freund.

Schmiss lehnte draußen in leichtem Schneegestöber am Trailer.

„Mein Gott, die is’ voll irre“, stieß er hervor, kaum war die Tür hinter Rodney zugefallen. „Schau bloß, dass du die wieder los wirst!”

„Sie hat ein ziemliches Temperament.“ Rodney musterte seinen Kumpel aus dem Augenwinkel. „Genau wie du!” Er holte eine kleine Taschenlampe hervor, schaltete sie ein und machte sich in ihrem Licht auf den Weg zu dem Schuppen, der im Schutz einiger kahler Bäume stand. „Außerdem war es ein echter Schock für sie!“, rief er und sperrte das rostige Vorhängeschloss auf, das an der doppelflügeligen Tür hing. „Er hat ihr mehr oder weniger gesagt, dass sie nicht mehr seine Tochter ist ...”

„Das überrascht dich? Die sin’ froh, dass sie sie los sind; und du wirst es auch sein, wenn ‘s endlich so weit is’. Sie is’ wie ‘n Teufel.”

„Sie ist unzufrieden mit ihrem Leben. Und ihr Dad verstößt sie einfach. Das war wirklich grausam von ihm.” Rodney klappte den rechten Teil des morschen Tors auf.

„Wenn ich diese Entführungsnummer abgezogen hätte mit meinem Dad, ich mein’, der is’ sicher voll streng, wie die Deutschen in den Kriegsfilmen, und wenn er was sagt, dann gilt das, weil die sin’ echt treu, und das wär Verrat, was die nich’ kennen von wegen ihrer Ehre, und ich bin sicher, er hätt’ mich zu sich geholt, wenn er gewusst hätte, und ...” Schmiss winkte ab. „Ach, egal! So was kann man einfach nich’ machen. Nich’ mit seinem Dad!”

„Keine Ahnung!” Rodney ließ wenig Interesse an einer Fortführung des Gesprächs erkennen und betrachtete die Fernseher und Kühlschränke, die sich in der Dunkelheit vor ihm auftürmten. „Meine Dads sind tot. Beide!”

„Tut mir leid.” Schmiss legte erschrocken eine Hand auf den Mund. „Das hat’ ich vergessen.“

„Schon gut! Aber jetzt müssen wir mal loslegen! Sonst sind wir hier noch die ganze Nacht beschäftigt!” Rodney schlüpfte in ein Paar Arbeitshandschuhe, das er von einem Nagel genommen hatte.

„Aus uns is’ doch auch was geworden.“ Schmiss trat trotzig nach einem Stein. „Ohne einen Dad! Weiß gar nich’, warum die sich so anstellt.”

Grahams langes, dunkelblondes Haar war von grauen Strähnen durchzogen und wurde von einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebündelt. Er trug ein kariertes Hemd, das über der verwaschenen Jeans hing. Die Ärmel waren hochgekrempelt und entblößten Unterarme, deren Sehnen sich deutlich unter der braungebrannten Haut abgezeichnet hatten, wann immer er nach einer der Schachfiguren griff. Inzwischen starrte er aber reglos auf die weit vorgerückte Formation schwarzer Figuren, die seine Weißen überraschend in Schwierigkeiten brachten. Die Uhr tickte. Draußen vor dem großen Fenster senkten sich Schneeflocken schwerelos wie Fischfutter in einem Aquarium. Unter dem Tisch lag ein schwarzer Labrador, hob nachdenklich eine Braue und senkte sie wieder mit einem schweren Seufzer.

„Ist das auch ein Trick, den dir dieser verrückte Russe beigebracht hat?”, knurrte Graham schließlich schlecht gelaunt und ließ sich auf einen komplizierten Schlagabtausch ein, der ihn einen Läufer kostete und die Bewegungsfreiheit seiner Dame.

„Puschkins Verteidigung nennt Waldo das.” Rodney schlug schnell auf die Uhr.

„Wenn ich den ganzen Tag im Café herumhocken und Schachprobleme lösen würde, wär’ ich sicher auch so gut.” Graham hatte keine Zeit mehr und machte einen fahrigen Zug nach dem anderen.

„Hör’ ich da jemanden schimpfen, der nicht verlieren kann?” Melinda trug ein Tablett mit einem Apfelkuchen zum Esstisch und verteilte Geschirr und Besteck. Dann kam sie zu dem kleinen Spieltisch und legte eine Hand in Grahams Nacken. „Kann man diese tickende Höllenmaschine anhalten? Der Kaffee ist fertig.”

„Wie wär’s, wenn wir uns auf ein Remis einigen?” Graham blickte listig unter den buschigen, sonnengebleichten Brauen zu Rodney hoch, aber der presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Na gut, er will wohl den billigen Triumph auskosten, jemanden geschlagen zu haben, der mehr als doppelt so alt ist wie er.” Graham stieß seinen König um, erhob sich und hielt Rodney die Hand hin. „Gratulation!”

Rodney stand ebenfalls auf und schlug ein.

„Das war das erste Mal!“, verkündete er Melinda über das ganze Gesicht strahlend.

„Als nächstes fordert er mich vermutlich zum Dauerlauf heraus.”

„Du weißt genau, dass er da keine Chance hätte.”

„Die hatte er zu Anfang im Schach auch nicht. Bis dieser verdammte Russe ihm Nachhilfe erteilt hat!” Graham ging zum Esstisch, nahm ein Messer, legte ein Stück Kuchen auf jeden Teller, drehte sich um und zeigte mit dem Messer auf Rodney. „Aber im Sommer werd’ ich dir in den Cascades alles heimzahlen!”

„Das hoffe ich.“ Rodney betrachtete mit einem glücklichen Lächeln den gedeckten Tisch und streichelte den Hund, der sich erhoben hatte, um sich einen neuen Liegeplatz zu suchen.

„Du bist so ein kluger Junge. Ich versteh nicht, dass du keine Lust hast, den Schulabschluss nachzuholen.” Melinda saß bereits mit kerzengeradem Rücken auf der Kante ihres Stuhls und sah zu ihm hoch.

Rodney zuckte mit den Achseln und setzte sich.

„Wozu sollte er?” Graham schenkte sich Kaffee ein. „Ich hab’ auf der Schule nichts gelernt. Nicht einmal Lesen und Schreiben! Und das kannst du ja schon, oder?” Er warf Rodney einen kurzen Blick zu; und der nickte mit vollem Mund.

„Aber du bist dann trotzdem aufs College gegangen!“, warf Melinda mit leicht verärgertem Ton ein.

„Musste ich ja: um endlich Lesen und Schreiben zu lernen!”

„Du warst auf dem College?” Rodney sah Graham erstaunt an.

„Du meinst, das merkt man nicht?”

„Nein, ich meine ...”

„Warum ich dann auf dem Bau arbeite? Die Bezahlung ist gut, und ich arbeite gern an der frischen Luft. Es macht Spaß, auf einem halb fertigen Dach herumzuturnen. Und ich hab’ zwischen den Jobs Zeit für die Berge.” Graham schob sich ein Stück Kuchen in den Mund, kaute und schluckte. „Außerdem hab’ ich eine Frau mit einer Krankenversicherung für uns beide!”

„Eine Frau, die eine Krankenversicherung dringend nötig hat!“ Melinda nickte. „Und einen persönlichen Masseur mit den kräftigen Händen eines Kletterers! Leider ist der ständig unterwegs.”

„Wenn der ofuro fertig ist, wirst du mich eh nicht mehr brauchen.“

„Das kann noch dauern. Du hast seit Wochen nicht mehr daran gearbeitet.”

„Ich mach’ Weihnachten weiter, versprochen. Vielleicht kann mir ja Rodney ein bisschen mit der Elektrik helfen?” Graham schaute Rodney an, der ratlos seinen Blick erwiderte.

„Graham baut mir ein japanisches Bad: eine Art Yakuzzi, nur viel heißer und aus Holz. Und ohne dieses Geblubbere! Der Arzt meint, dass es meinem Rücken gut tun würde.”

„Klar helf’ ich da!”

„Kriegst dafür zu Weihnachten auch was vom Truthahn!”

„Abgemacht!” Rodney schob sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund und blickte wieder auf. „Und du warst wirklich auf dem College?”

„Yep! Oakland City College! Hab’ nebenher auf der Werft als Schweißer gearbeitet.”

„Und was hast du studiert?” Rodney sah ihn mit großen Augen an.

„Wie gesagt: Lesen und Schreiben! Und ein bisschen Geschichte und ein bisschen Politik! Hauptsächlich Anthropologie! Nur so zum Spaß!” Graham zuckte mit den Schultern.

„Wow!” Rodney starrte ihn voll Bewunderung an.

„Weißt du, du könntest das auch machen. Wir bieten in Crescent Bay ähnliche Kurse an“, warf Melinda betont beiläufig ein.

„Du willst doch nicht etwa behaupten, dass sich dein Snob-Institut mit dem weltberühmten Oakland City College messen kann?” Graham schüttelte den Kopf.

„Natürlich nicht! Aber wir geben uns Mühe! Und es sind nicht alle Snobs. Wir haben einen Haufen Stipendien; und ich bin mir sicher, Rodney hätte gute Chancen. Er braucht nur den Abschluss und den SAT.”

„Ich weiß nicht. Ist schon ziemlich lang her, dass ich von der Schule weg bin. Und ich vermiss sie eigentlich auch gar nicht.” Rodney grinste verlegen.

„Ich bin mir sicher, er lernt auch ‘ne Menge, wenn er mir bei dem ofuro hilft.”

„Eher lernst du da was!“, brummte Melinda. „Du hast doch von Elektrik keinen Schimmer.” Sie wandte sich wieder an Rodney. „Aber mir ist es wirklich ernst! Du willst dich doch nicht dein ganzes Leben lang als Gebrauchtgerätehändler durchschlagen! Ist mir eh ein Rätsel, wie man davon leben kann.”

„Scheint kein so schlechter Job zu sein. Lässt einem viel Zeit zum Schachspielen.” Graham entblößte seine ein wenig schiefen Zähne und blinzelte Rodney zu.

„Hätte ich mir ja denken können, dass jemand wie du, der sich den halben Sommer über in den Bergen rumtreibt, ihn auch noch unterstützt. Aber ohne meine Krankenversicherung und meinen Rentenfond wärst du ganz schön arm dran, das sag ich dir!” Melinda warf Graham einen bösen Blick zu. „Du balancierst auf dem First; und ich sorg’ für das Netz.”

„Ich könnte mir vorstellen, dass es aus genau dem gleichen Grund diese Sylvie in Rods Leben gibt.” Graham hielt seine Gabel wie eine Schaufel und beförderte damit ein Stück Kuchen in den Mund.

„Hat sie denn einen guten Job?” Melinda wandte sich erstaunt an Rodney.

„Na ja, sie hat als Kosmetikerin gearbeitet, aber dann ist ihre Mutter gestorben; und jetzt ist sie ein wenig durcheinander.”

„Das arme Mädchen! Und du kümmerst dich um sie? Das finde ich sehr schön. Wirklich, du bist nicht nur ein kluger Junge, sondern du hast auch Verantwortungssinn.” Sie betrachtete ihn nachdenklich und blickte dann zu ihrem Mann. „Ich kann mir nur allzu gut vorstellen, was Graham in deinem Alter für ein Ekel gewesen sein muss“, behauptete sie herausfordernd. „Ständig auf der Flucht!”

„Oh, sei nicht ungerecht! Wer massiert dir denn jeden Abend den Rücken?”

„Klar: Jeden Abend, an dem du hier bist! Was nicht oft der Fall ist. Ich beschwer’ mich ja nicht. Mir gefällt es nur, dass Rodney ... anders ist.”

„Frauen!” Graham schenkte sich Kaffee nach. „Du wirst es bald selbst merken, aber ich verrat ‘s dir trotzdem schon einmal: Sie sind nie zufrieden!”

Rodney tat, als gäbe ihm das zu denken.

„Hast du das ernst gemeint?”, fragte Graham. Melinda lag nackt auf dem Bett. Er trug verwaschene Shorts und ein T-Shirt, hockte auf ihrem Hintern und massierte ihr mit öligen Händen den von drei langen Narben gezeichneten Rücken. „Dass ich immer auf der Flucht bin?”

„Weiß nicht“, brummte Melinda mit halb geschlossenen Augen. „Du bist nicht unbedingt der fürsorgliche Typ, wenn man von gewissen Ausnahmen absieht. Aber ich bin das auch nicht! Ich habe dich. Ich habe meine Musik. Viel mehr brauch’ ich nicht.”

„Was ist mit Dog?”

„Dog kann mich mal!”

„Ehrlich? Das würde dir Spaß machen?”

„Und ich habe mir gerade einzureden versucht, dass du eigentlich doch ganz schön erwachsen bist!” Sie seufzte.

„Nur weil ich eine rege Fantasie hab!“, maulte Graham. „Ich bin mir sicher, bei deinen Schülern würde dir das imponieren.”

„Deine Fantasie ist schmutzig. Und meine Schüler können mir gestohlen bleiben. Die meisten zumindest! Manche haben sogar Talent. Aber ohne eine spezielle Art von Besessenheit ist das nutzlos. Du darfst für nichts anderes zu gebrauchen sein. Nur dann wirst du ein echter Musiker!” Sie atmete tief ein und aus. „Bestenfalls enden sie so wie ich: mit Krankenversicherung und Rentenfond.” Sie drehte den Kopf auf die andere Seite. „Ich bin nie mitten in der Nacht mit rasendem Herz aufgewacht und hab’ mich gefragt, wo ich das Geld für die nächste Miete hernehme. Ich hab’ mich nie gefragt, ob ich nicht einfach alles hinwerfen soll, weil mein Talent nicht ausreicht. Ich war nie verzweifelt. Nicht bis zu meinem Unfall zumindest! Und dann hab’ ich dich getroffen. Keine guten Voraussetzungen für eine Künstlerin!”

„Beschissene Voraussetzungen, ganz egal, was man vorhat!”

„Mach dich nur lustig darüber, aber ich meine es ernst! Man kann sagen, es hat halt nicht geklappt, aber der wahre Grund ist, dass mir der Glaube gefehlt hat. Oder die Verzweiflung, was auf ‘s gleiche rauskommt! Ich habe mich nie ganz dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt. Dem Risiko, mich lächerlich zu machen! Dem Risiko, als alkoholkranke Barpianistin auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff zu enden!”

„Vielleicht ist das ganz gut so. Nicht jeder muss ein Star werden. Man kann auch mit einem bescheideneren Leben glücklich werden. Vielleicht ist das sogar die größere, noblere Herausforderung. Außerdem weiß ich gar nicht, warum du jammerst: Du hast deine Auftritte, du leitest den Chor, du machst die Einführung in die klassische Musik.”

„Und ich hasse es!”

Er hielt inne.

„Ehrlich? Das ist traurig.”

„Ich hasse mein Leben nicht ständig, aber oft genug! Ich bin das geworden, was meine Eltern sich erhofft haben, und das ist immer verkehrt.”

„Und deine Schüler?”

„Einige von ihnen hab’ ich wirklich ganz gerne, aber ich versuche, mein Herz nicht zu all sehr an sie zu hängen. Nach spätestens vier Jahren verschwinden sie auf Nimmerwiedersehen. Die meisten schon früher!”

„Und was ist mit Rodney? Ich hab’ manchmal den Eindruck, du würdest ihn am liebsten adoptieren.”

„Du nicht?”

Graham hielt inne, setzte die Massage wieder fort und knetete ihren Schultergürtel.

„Wir müssen vorsichtig sein. Er ist wie ein wildes Tier: Die nimmst du auch nicht einfach mit ins Haus. Es ist nicht gut für sie.”

„Komm schon! Er ist kein wildes Tier, sondern ein Mensch. Er braucht Anleitung! Ohne Erziehung ist er gar nichts.”

„Vermutlich hast du Recht, aber irgendwie hab’ ich Angst, dass wir damit genau das kaputt machen, was uns am meisten an ihm gefällt. Er ist so unabhängig und natürlich. Du weißt schon, wie ich das meine. So authentisch! Er wird immer irgendwie zurecht kommen.”

„Hoffentlich! Aber es wäre doch zynisch, ihn wie eines dieser Wolfskinder draußen in seinem Trailer hocken zu lassen, weil es uns gefällt, wie geschickt er sich in der Wildnis durchschlägt. Und wenn wir es richtig anstellen, wird seine wilde Seele auch nicht verbogen.”

Graham schwieg wieder eine Weile.

„Okay!“, stimmte er schließlich zu. „Du versuchst, ihn auf dein College zu schleusen; und ich mach einen Bergsteiger aus ihm.”

„Abgemacht!” Melinda lachte, und ihr Rücken bebte. „Das müsste sich beides gegenseitig aufheben.”

„Du bist eine großartige Frau, Mel. Und eine richtige Künstlerin!” Graham richtete sich auf, versetzte ihrem nackten Hintern einen Klaps und stieg aus dem Bett.

„War das alles?” Sie sah sich nach ihm um und beobachtete, wie er in seine Pantoffeln schlüpfte. „Schade! Ich wär’ jetzt gerade in Stimmung.”

„Ein anderes Mal, Schatz! Ich bin hundemüde. Und ich ... „

„Ist es immer noch wegen Paul?” Sie zog ein Kissen zu sich, legte den Kopf darauf und schloss die Augen.

„Ja. Auch!”

„Mach ich dich nicht mehr an?”

„Quatsch! Ich mach’ mir einfach Sorgen. Ich kann nicht richtig abschalten.” Er setzte sich auf einen Stuhl.

„Deine Hände sind kalt, das hab’ ich gespürt. Kalt und feucht!”

„Ich weiß, es ist idiotisch, und ich hab’ bisher immer wieder vernünftige Jobs bekommen, aber irgendwie ...”

„Kann es sein, dass du alt wirst?” Sie schlug die Augen auf und sah ihn an.

„Unmöglich! Ich und alt?” Er lächelte traurig.

„Du könntest hierbleiben. Dich auf deine Bergtouren konzentrieren! Wäre mir eh lieber.”

„Nein. Ich brauche meine Arbeit. Ich werd’ ungenießbar, wenn ich längere Zeit nicht arbeite, wie du eigentlich wissen solltest.”

„Es ist dieser scheiß Protestant in dir. Ehrlich, ich würde dich liebend gerne aushalten. Dich für bestimmte Dienste bezahlen! Wenn du nur nicht so verdammt stolz wärst!”

„Bitte hab’ Geduld! Ich werd’ schon irgendwie damit klar kommen.” Er schob eine Hand unter sein T-Shirt und kratzte sich die Brust. „Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass ich mich häuslich niederlasse.”

„Mich brauchst du da nicht zu fragen. Und bitte beeil’ dich! Ich vermiss’ dich schon jetzt.” Sie schob die Arme unter das Kissen, schloss erneut die Augen und war bereit einzuschlafen.

„Ich weiß. Und es tut mir leid.” Er stand auf und ging hinaus.

„Hi Marge!“, rief Rodney leutselig, winkte von weitem dem Sheriff zu und versuchte gleichzeitig, die Straße zu überqueren, musste aber wegen einer Karawane von Langholztransportern stehen bleiben.

„Hallo Rodney!”, erwiderte Marge, die Wilbournes Gehsteig entlang schlenderte. Der blaue Blouson mit dem Polizeiabzeichen reichte bis zu den runden, kräftigen Hüften, die in khakifarbenen Hosen steckten. „Ist das dein Lieferwagen?” Sie hatte Rodney erreicht, der zwar ein Stück weit auf die Straße hinausgetreten war, aber immer noch keine Lücke im Verkehr entdeckt hatte. Rodney wandte sich ihr verwirrt zu. Dann folgte sein Blick dem ihren.

„Äh, ja!”

„Er steht auf der Parkplatzmarkierung.”

Rodney blickte noch einmal zu dem schwarzen Dodge, den er vor der ehemaligen Bäckerei abgestellt hatte.

„Ja, stimmt! Aber es parkt hier doch eh niemand; und die Markierung ist wirklich schwer zu sehen.”

„Entweder, du stellst ihn richtig ab, das heißt zwischen den Strichen und im korrekten Winkel zum Gehsteig, oder du zahlst 25 Dollar. Deine Entscheidung! Außerdem haben drei der Reifen kaum noch Profil. Macht vierzig Dollar.”

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