Kitabı oku: «Karibien», sayfa 5
„Aber Marge, ich bin im Moment echt knapp bei Kasse. Kann ich nicht ...”
„Was ist mit dem Blinker? Hast du den inzwischen repariert?” Sie musterte ihn mit kalten, hellblauen Augen.
Er schüttelte kurz den Kopf.
Marge nickte.
„Dacht’ ich ‘s mir doch. Ich krieg immer mehr den Verdacht, dass mein Vorgänger hier ein bisschen die Zügel hat schleifen lassen. Wollte wohl keinen Ärger mehr haben kurz vor dem Ruhestand. Aber nur für den Fall, dass du es noch nicht gemerkt haben solltest: Ich bin anders als Sheriff Quincey; und diese Stadt wird anders werden, ob sie es will oder nicht. Hab’ ich mich klar genug ausgedrückt?”
„Vollkommen, Marge, und ich bin ja auch total dafür, dass ihr die Stadt auf Vordermann bringt und zur Touristenattraktion aufmotzt und so, aber ein Satz neuer Reifen ...” Er sah sie kurz an und erkannte, dass er nicht mit Nachsicht rechnen durfte. „Also, ich schau gleich heute Abend bei Smither vorbei; vielleicht hat der ein paar Runderneuerte auf Lager. Ist ja auch echt vernünftig.”
Marge zog einen Block aus der Innentasche ihres Blousons und kritzelte etwas hinein.
„In einer Woche kommst du mit dem Wagen zur Wache und stellst ihn dort vor; und dann ist er verkehrstüchtig oder du lässt ihn bei uns stehen und zahlst den Abschleppdienst, verstanden?”
„Selbstverständlich, Marge! Überhaupt kein Problem!”
„Und wenn dein Kumpel Schmiss das nächste Mal eine Schlägerei anzettelt, buchte ich ihn ein.”
„Sie haben ihn provoziert und einen Chinesen genannt, obwohl er hauptsächlich Deutscher ist, und da ...”
„Das Gleiche gilt für unseren Kriegshelden. Der muss sich endlich einkriegen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn er hier rumballert und die Straße ist voller Urlauber mit Kindern!”
Rodney ließ einen skeptischen Blick die nasse, von in Gischt gehüllten Sattelschleppern beherrschte Straße hinab wandern.
„Ich tu’ wirklich mein Bestes, Marge, und steh’ voll auf deiner Seite; und Waldo ist auch schon viel ausgeglichener, und ...”
„Wie läuft das Geschäft?”
„So wie immer! Hält einen am Leben.”
„Ich hab’ gehört, du lebst jetzt mit jemandem zusammen. Vielleicht stellst du mir unsere neue Mitbürgerin bei Gelegenheit mal vor?”
„Mach’ ich, Marge! Is’ bloß noch gar nich’ raus, ob sie ‘ne Mitbürgerin wird. Sie wohnt nur vorübergehend bei mir, bis sie was Eigenes gefunden hat.”
„In Ordnung! Aber vergiss den Termin nächste Woche nicht!” Marge zog die Brauen kurz zusammen und entließ dann Rodney mit einem Nicken.
„Ist doch nicht zu glauben: Marge meint allen Ernstes, Wilbourne wird so ‘ne Art Big Sur des Nordens!“, schimpfte Rodney, als die Tür von Waldos Briefmarkengeschäft sich hinter ihm geschlossen und das Glöckchen über dieser sich endlich beruhigt hatte. Ewige Dämmerung umfing ihn, denn die Schaufenster zur Hauptstraße waren blind, so viel Dreck hatte sich auf ihnen niedergeschlagen. Pappkartons und Kisten voll alten Postkarten und Illustrierten stapelten sich an den Wänden. Zwei enge Pfade schlängelten sich an verschiedenen Regalen vorbei zu dem völlig mit Briefen, Zeitungen und Zetteln überladenen Schreibtisch im Hintergrund. An diesem saß Waldo und blickte erfreut von dem Auktionskatalog auf, in dem er geblätterte hatte.
„Da ist sie nicht die einzige. Drei Viertel der Handelskammer unterstützen das Revitalisierungsprogramm inzwischen. Vielleicht ist es ja wirklich einen Versuch wert. Abfackeln können wir das Drecksloch immer noch.”
„Weiß gar nicht, was ihr alle gegen Wilbourne habt. Mir gefällt es ganz gut so, wie es ist.” Rodney musste wegen des vielen Staubs in der Luft niesen.
„Schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass du weder säufst noch rumhurst!”
„Ja, aber ich fahr’ Reifen ohne Profil, und das ist mindestens genauso schlimm, wie mir Marge gerade eingebläut hat!” Rodney ließ sich ohne Rücksicht auf seine schwarzen Jeans auf einem staubigen Stuhl nieder und stieß einen lauten Seufzer aus. „Und heute morgen hab’ ich entdeckt, dass dieser Volltrottel Schmiss eine Tiefkühltruhe voller Steaks und Hackfleisch nicht eingestöpselt hat. Das ganze Lager stinkt, dass man sofort kotzen möchte.”
„Ihr verkauft eure Tiefkühltruhen auch gefüllt?” Waldo sah ihn verwundert an.
„Na ja, das war ‘ne Ausnahme.“ Rodney errötete leicht. „Die Leute mussten schnell umziehen und wussten nicht wohin mit dem Fleisch, da haben wir es einfach auch mitgenommen für fast umsonst. Wirklich unglaublich der Gestank! Dabei hab’ ich es ihm zweimal gesagt! Am liebsten würd’ ich ihn zu dem Fleisch in die Truhe sperren. Ein paar Löcher in den Deckel bohren, fertig! Nach drei Tagen darf er wieder raus. Wenn ihn das nicht kuriert, hilft gar nichts mehr.”
„Viel Arbeit, so kurz vor Weihnachten?” Waldo lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
„Ziemlich! Sind ständig unterwegs, Schmiss und ich.”
„Die Mikrowelle, die ich von dir hab’, funktioniert immer noch prächtig. War ein guter Kauf!”
„Wenn du mal ‘nen Fernseher oder ‘ne Stereoanlage brauchst, hab’ ich super Geräte auf Lager. Riechen jetzt leider ein bisschen streng, aber das gibt sich.” Rodney seufzte noch einmal. „Ich weiß nicht, ob ich heute die Geduld für eine Partie habe. Schmiss und meine neue Mitbewohnerin ham mich völlig geschafft.”
„Wo hast du Bürschchen denn plötzlich eine Mitbewohnerin her?“
„War ein dummer Zufall; und jetzt hab’ ich sie an der Backe.“
„Es ist immer ein Fehler, sie mit zu sich zu nehmen.“ Waldo lachte dreckig. „Hinterher wird man sie nur schwer wieder los.“
„Nein nein, es ist nicht das!“ Rodney hob abwehrend die Hände. „Sie wohnt nur bei mir. Vorübergehend!“
„Beteiligt sie sich wenigstens an der Miete?“
„Noch nicht, aber das wird sich sicher bald ändern.“ Rodney kratzte sich verlegen. „Ich fühl’ mich ein bisschen für sie verantwortlich, weil sie wegen mir hier gelandet ist.“
„Sie nutzt dich aus. Genau wie ich oder dein Kumpel Schmiss!“ Waldo lachte.
„Sie wird sicher bald wieder auf die Beine kommen. Aber bis dahin ...“
„Schon gut! Dann spielen wir halt, wenn du wieder Zeit hast!” Waldo zuckte mit den Achseln.
„Machen wir!” Rodney stützte die Hände auf Armlehnen und stemmte sich erleichtert hoch. „Ich hab’ übrigens gegen Graham gewonnen.”
„Den Klugscheißer? Na bravo! Da haben sich die paar Monate Training doch wirklich gelohnt. Ich sag’ dir, in ein paar Wochen spielst du den so schwindelig, dass er den eigenen Schwanz nicht mehr findet und seine feine Pianistin bitten muss, ihm beim Pinkeln zu helfen.”
„Ich versteh einfach nicht, wie jemand so was fertig bringt.” Melinda saß in Tränen aufgelöst am Esstisch in der Küche. „Dog war so ein lieber Hund. Er hat nie jemandem was getan. Und wir haben doch auch gar keine Nachbarn.” Sie verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos. Rodney trat zu ihr und streichelte ihr vorsichtig über den Hinterkopf.
„Wann ist es denn passiert?”
„Ich weiß nicht. Er war gestern die meiste Zeit draußen. Eigentlich wie jeden Tag! Gegen Abend hab’ ich ihn dann gerufen; und er ist nicht gekommen. Du weißt ja, wie gut er immer gefolgt hat. Ich hab’ gerufen und gerufen, und dann hab’ ich die Taschenlampe geholt, um ihn zu suchen. Ich hatte da schon so ein komisches Gefühl, weil er noch nie weg war. Irgendwann hab’ ich ein leises Geräusch in der Garage gehört. Fast wie ein Weinen! Und da hab’ ich ihn dann gefunden. In der hintersten Ecke, unter Grahams Hobelbank auf den Sägespänen! Inmitten einem See aus Blut!” Wieder wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. „Er hat mich, glaub’ ich, noch erkannt, ist dann aber bald gestorben. Er muss schrecklich gelitten haben. Der Tierarzt vermutet, dass ihm jemand Hackfleisch voll Glas zum Fressen gegeben hat. Er will ihn aufschneiden und nachsehen. Er glaubt nicht, dass es irgendein Gift war; und in Dogs Schnauze steckten noch ein paar Splitter. Wie man überhaupt nur auf so eine Idee kommen kann! Das ist so krank. Wenn ich wüsste, wer es war, ich würde ... Ich wollte, ich könnte ihn zwingen, dass gleiche zu essen. Als Hamburger meinetwegen!” Sie wischte sich mit einer langen, weißen Hand über das Gesicht. „Jetzt wohnen wir so weit weg von allen und trotzdem passiert so was. Als wäre das Böse überall! Überall!” Sie schüttelte den Kopf. „Es wird so ein Schock für Graham sein. Ich weiß gar nicht, wie ich es ihm sagen soll. Er und Dog: Das war fast telepathisch, wie die sich verstanden haben.”
„Dog …“, murmelte Rodney leise und sank auf einen der Stühle. „Er war ein wirklich guter Hund.”
„Ich hab’ den Sheriff angerufen; und sie will mal vorbeischauen, aber sie hat mir wenig Hoffnung gemacht. Sie sagt, es gibt viele Menschen, die sind einfach verrückt; und meist merkt man ‘s erst, wenn ‘s zu spät ist. Dog könnte den Köder überall im Garten gefunden haben; und da ist es sinnlos, nach Spuren zu suchen. Sie schien überhaupt nicht überrascht zu sein. Ich schätze, als Sheriff kriegt man zu viel mit, um sich noch irgendwelchen Illusionen hinzugeben, was die Menschen angeht.”
„Wenn du willst, mach’ ich dir ‘ne Nudelsuppe.“ Rodney blickte sich in der Küche um. „Mit Miso und Gemüse! Wie du mir gezeigt hast!”
„Das wäre wirklich nett.“ Melinda zwang sich zu einem Lächeln. „Ich hab’ den ganzen Tag noch nichts gegessen. Aber wird sich deine Sylvie nicht Sorgen machen?”
„Die kommt schon allein zurecht. Wird sie jedenfalls lernen müssen.”
„Oh je! Das hört sich aber gar nicht gut an.” Melinda sah mit tränennassem Gesicht zu ihm hoch. Rodney zuckte mit den Achseln und ging zum Kühlschrank.
„Wo warst du so lange?“, fauchte Sylvie, ohne den Blick von den Fernsehern zu wenden, vor denen sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie rauchte eine Zigarette; und auf einem Teller, der neben ihr auf dem Sofa stand, krümmten sich von Lippenstift verfärbte Kippen. Über die fünf Bildschirme flimmerten drei verschiedene Programme; und die Stimmen der Talkshows, in denen Frauen und Männer von ihren Leiden erzählten und ihre Herzen bloßlegten, vermengten sich zu einer unverständlichen Kakophonie.
Rodney schälte sich aus seiner Daunenjacke und wollte sie an der kleinen Garderobe neben der Tür des Trailers aufhängen, fand deren drei Haken aber schon mit Sylvies Jacken und Mänteln belegt. Rodney legte seine Jacke auf einen Stuhl und trat zu Sylvie.
„Ich war bei Melinda“, verkündete er über den Lärm der Fernseher hinweg und wedelte demonstrativ mit der Hand, um den Zigarettendunst zu vertreiben, den das Licht der Fernseher bläulich färbte und wie kalte, über alten Gräbern unheilschwanger wabernde Nebelschwaden wirken ließ. „Jemand hat ihren Hund getötet.“
„Och, die Arme! Und da hast du sie trösten müssen, wie du jeden tröstest: eine Schlampe wie Melinda, einen Penner wie diesen Schachspieler und einen Schwachkopf wie diesen Schmiss. Jeden außer mir, die du erschreckt und verschleppt und um Vater und Elternhaus gebracht hast!“ Sylvie schüttelte den Kopf, dessen Haare seit Neuestem hochgesteckt waren. „Sogar dieser scheiß Hund war dir wichtiger, ist dir das schon aufgefallen? Jeden Tag bis du mit ihm Gassi gegangen, und ständig hast du erzählt, wie toll er ist. Du hast mit ihm mehr Zeit verbracht als mit mir, aber das ist ja nur verständlich, weil sein Leben hast du ja auch nicht versaut, bei ihm musst du nichts wieder gutmachen; und ich bin sicher, dieser verdammte Köter hat auch die Schnauze gehalten und sich brav auf den Rücken gerollt, wann immer sein Herrchen es wollte. Ihr hattet euren Spaß, während ich hier hocke und verrotte, bei lebendigem Leib verrotte, aber das ist dir ja egal, mich kannst du ausnutzen und missbrauchen und missachten und dann zu deiner Freundin Melinda gehen und dich als guter Mensch aufspielen und ihr den Kopf kraulen und ihren Hund bespringen. Oder war es umgekehrt? Hast du ihn gekrault und sie besprungen, während ich hier vor mich hin gammle und allmählich den Verstand verliere, weil sogar ein verfluchter Hund mehr wert ist als ich? Ich hoffe nur, es hat ihm geschmeckt und es hat richtig lange gedauert, bis er verreckt ist.“
„Aber Sylvie, wie kannst du so was sagen? Dog war ein wirklich lieber Hund; und es war doch dein Wunsch, hierher zu kommen; und es hält dich keiner hier fest. Wir vertrauen dir. Wir wissen, du wirst uns nicht verraten.“
„Ach ja? Und warum sollte ich das eigentlich nicht tun? Du lässt mich hier in einem fauligen Trailer hocken und treibst dich lieber mit Hunden, Schlampen und Trotteln rum. Nenn mir doch einen guten Grund, warum ich meinem Vater und dieser von dir so angehimmelten Polizistin nicht sagen soll, wer hier in der Gegend die ganzen Kühlschränke und Fernseher abräumt! Was habe ich denn davon, dass ich die Schnauze halte? Mein Vater hat mich verstoßen. Aber wenn ich ihm sag’, wie es wirklich war, dass ich eigentlich gar keine andere Wahl hatte, weil ihr mich bedroht habt und mich sowieso verschleppen wolltet, weil ich euch gesehen hab’, dann verzeiht er mir sicher. Vermutlich hat ihn eh diese Frau, die bei ihm wohnt, da reingeritten. Er hat längst Sehnsucht nach mir; und dann versöhnen wir uns und schmeißen sie raus und tanzen auf ihrem Grab, sozusagen, und am liebsten würde ich jetzt gleich zum Telefon gehen und ihm alles gestehen, weil er hat mich wirklich gern und spielt nicht lieber mit irgend ‘nem Hund. Es war nicht meine Idee, dass ihr bei ihm einbrecht und sein Haus schändet und mich in diesem stinkenden Lieferwagen verschleppt, das werde ich ihm sagen. Und dass ich traumatisiert bin, wie es im Fernsehen immer heißt, und verletzt und beleidigt! Ohne dich und diesen Knallkopf Schmiss wäre ich immer noch bei meinem Vater und würde Ding Dongs essen; und was diese Schlampe angeht, die mir dort das Leben zur Hölle gemacht hat, wäre mir sicher auch noch was eingefallen.“ Sie warf Rodney einen hasserfüllten Blick zu.
„Aber was willst du denn noch?“ Rodney streckte ratlos die Arme von sich. „Du hast hier ‘nen Haufen Fernseher; und in den Tiefkühltruhen draußen ist alles mögliche Essen, da kannst du dir nehmen was du willst.“
„Wenn man sich dem Schuppen nur auf 20 Meter nähert, vergeht einem schon der Appetit. Ich bin kein Hund! Ich fress’ keinen stinkenden Müll!“
„Das ist doch bloß die eine Truhe! Schmiss hat vergessen, sie anzustöpseln. Die anderen sind alle in Ordnung und voller Pizza und so Zeug.“
„Ich habe keine Lust auf Pizza!“
„Okay, aber was willst du dann?“
„Wenn du das nicht kapierst, kann ich dir auch nicht helfen.“ Sylvie drückte ihre Zigarette aus, verschränkte die Arme und widmete die Aufmerksamkeit wieder der Pyramide aus Fernsehern, die vor ihr aufragte.
„Ich wär’ dir wirklich dankbar, wenn du hier drin nicht rauchen würdest.“
„Ach ja? Warum tust du dann nichts dagegen, wenn ‘s dich so stört? Oder brauchst du dazu deinen Freund Schmiss? Den Muskel des sogenannten Superhirns! Oder sollte man euch eher Dick und Doof nennen? Denk’ mal drüber nach! Und in der Zwischenzeit genehmig ich mir einfach noch eine, in Ordnung?“ Sie langte nach dem Päckchen Winston neben sich, holte eine frische Zigarette hervor und zündete sie sich an.
„Es ist nicht gut für deine Gesundheit, das ist alles.“
„Jede Wette, dass dir meine Gesundheit so scheißegal ist wie mir selbst?“
Rodney seufzte hilflos und zog sich in ein kleines Zimmer zurück, in dem nur ein Stuhl und ein Schreibtisch standen und welches er sein Büro nannte, ohne darin bisher jemals gearbeitet oder überhaupt nennenswert Zeit verbracht zu haben.
„Komm, wir schauen noch im Grave vorbei!“, schlug Waldo großspurig vor, kaum hatten sie das Café verlassen. Es war inzwischen dunkel. Der Regen ging langsam in Schnee über. Die Schachpartie hatte ihm ein rauschhaftes Glücksgefühl beschert; und er wusste, sein Hirn, dass er bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit getrieben hatte, musste mit ein paar Bier beruhigt werden, bevor für ihn überhaupt daran zu denken war, den Abend im hinteren Teil seines Ladens mit einem heißen Bad, ein paar Gedichten von John Donne und einem skandinavischen Porno-Video zu beschließen. Er legte einen Arm um den schmächtigen Rodney, womit diesem die Entscheidung abgenommen war.
Rodney war unwohl. Er spürte, eigentlich hätte er noch irgendwas erledigen sollen, brachte aber, erschöpft von der Grübelei über dem Schachbrett, nicht die Energie auf, sein Gedächtnis zu durchforschen. Und er wollte sich auch gar nicht erinnern. Sich zu erinnern hätte geheißen, dass stinkende, madendurchsetzte Fleisch in der Tiefkühltruhe vor sich zu sehen oder Dog, der anstatt mit langen, übermütig hohen Sprüngen seinem Tennisball hinterher zu jagen inmitten dem Blut seiner Gedärme lag, oder Sylvie, die wie eine finstere Drohung auf dem Sofa saß, ein Fluch eingehüllt in eine Decke, die Tausenden von Indianern den Tod gebracht hatte.
„Okay! Aber nur ein schnelles Bier! Ich muss nach Hause.”
„Du stehst ganz schön unter ‘m Pantoffel, weißt du das?” Waldo warf ihm einen spöttischen Blick zu.
„Morgen ist Weihnachten!” Rodney zuckte mit der Schulter.
„Du sagst das, als wäre das ein Naturgesetz. Als müssten alle bei dieser Heuchelei mitmachen und so tun, als wüssten sie nicht ganz genau, dass die meisten ihrer Mitmenschen Idioten sind, die einem nur die Zeit stehlen! Ich war immer froh, wenn ich Ende Dezember woanders sein konnte. In Kuala Lumpur oder Indonesien! Echt erholsam! Jetzt reicht es halt nur noch für Wilbourne und das Grave. Aber ich bin zuversichtlich, dass sie sich dort weiter einen Dreck scheren um die so genannte Nächstenliebe und lieber der Gier und dem Exzess frönen. Das sind schließlich die Charakterzüge, die den Menschen tatsächlich ausmachen.”
Im Sailor ‘s Grave ging es bereits hoch her. Der Boden schwankte. Die Rauchwolken jagten tief über die Tische dahin. Ein paar Frauen mit Kapitänsmützen und Rubbel-Tätowierungen versuchten ihr Glück bei den Männern, aber diese hatten an diesem Abend nur Henrietta im Sinn.
Der Boden bestand aus langen Holzdielen; und auf diesen lag Sägemehl, das teilweise rot gefärbt war, denn es war Brauch, einmal im Monat eine an Stummelpfeife und verkümmerten Geschlechtsorganen als Seemann kenntliche Stoffpuppe unter lautem Gejohle zu pfählen, bis sie ihre aus dem Sägewerk stammenden Eingeweide erbrach. Das Licht war schummerig, das zum größten Teil aus Holzfällern bestehende Publikum bester Stimmung und die wachsende Erregung deutlich zu spüren.
Rodney und Waldo bahnten sich mühsam einen Weg zur Bar und drängelten sich zwischen zwei breite, karierte Rücken. Die Mädels hinter der Theke trugen bunte, mit Rüschen versehene Mieder und kleine Plastikschiffe im Haar. Sie liefen eilig zwischen den durstigen Männern und den Zapfhähnen hin und her. Rodney winkte Fay zu. Ein Lächeln zuckte über ihr müdes Gesicht. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als könnte sich eine Strähne aus ihrem sorgfältig ondulierten Haar gelöst haben. Die Mulden über den Schlüsselbeinen glänzten feucht vom Schweiß. Rodney wollte ihr etwas zur Begrüßung zurufen, aber ein anderer Gast drängte sich dazwischen, hielt drei Finger hoch und war zur weiteren Artikulierung seines Wunsches auch nach mehreren Versuchen nicht in der Lage. Fay verstand trotzdem und erfüllte seine Bestellung.
„Klug, klug!“, lallte der Gast, blies Rodney seinen Bieratem ins Gesicht und deutete auf Fay. Er schielte und trug eine große Brille, die an zwei Stellen mit Leukoplast verarztet worden war. Er kramte in einer Tasche seiner speckigen Jeans, brachte eine Hand voll Scheinen zum Vorschein, reichte sie zitternd Fay und schwankte mit seinen Biergläsern davon. Fay kam hinter der Theke hervor, kämpfte sich zu Rodney durch und strich ihm zur Begrüßung kurz über den Oberarm.
„Na, wie geht’s?”
Rodney zuckte mit den Schultern. Seine Augen lagen dunkel in seinem bleichen Gesicht, das nur wenig Tageslicht abbekommen hatte und sich deutlich von den geröteten und gebräunten Gesichtern um ihn herum abhob.
„Ärger?“
„Nicht so schlimm … Is’ nur alles ‘n bisschen viel im Moment. Ich hab’ das Gefühl, die Leute merken einfach, dass es zu Ende geht.”
„Stimmt! Letztes Wochenende hätten sie hier fast jemanden abgestochen.” Fay wollte Rodney von der Theke wegziehen. Er sah sich nach Waldo um, aber der hatte bereits Anschluss an eine Gruppe ausgelassener Trinker gefunden und beachtete seinen Freund nicht mehr. Hand in Hand kämpften sich Fay und Rodney in den hinteren Teil der Bar vor, wo es etwas ruhiger war. „Berta hat mir übrigens einen Job auf der Insel angeboten.” Fay ließ Waldos Hand los und verschränkte die Arme. „Sie will mich ausbilden.”
„Zu was denn?” Rodney lehnte wie Fay an der Wand und betrachtete ungerührt das wilde Treiben an der Theke, wo die Gäste schrieen und schwankten, als drohe ihr Schiff, bei hohem Seegang zu kentern.
Fay zögerte einen Augenblick.
„Zu einer Schamanin!”
Rodney sah sie erstaunt an.
„Was musst du da denn lernen? Singen und Tanzen?”
„So ungefähr! Du trittst mit der Geisterwelt in Kontakt. Mit den Geistern von Tieren und Toten! Und du versuchst, andere zu heilen.”
„Wow! Ich kenn’ da einige, die solche Hilfe nötig hätten.”
„In Wilbourne kein Wunder!“ Sie lachte. „Aber ihr werdet euch gedulden müssen! Es dauert Jahre, bis so eine Ausbildung abgeschlossen ist.”
„Ist das einer ihrer Kurse?”
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist was ganz Persönliches. Ich werde so was wie ihre Assistentin. Eine Schamanin hat nur eine, maximal zwei Gehilfinnen, die sie betreut und durch die Initiationsriten steuert.”
„Klingt gefährlich! Wie Stromschnellen oder so ‘n Scheiß!”
„Du gewinnst Einblick in das Innere der Menschen, das ist wahrscheinlich das Gefährlichste daran.”
„Den gewinnst du hier im Grave auch!”
„Stimmt!” Fay zwang sich zu einem Lächeln.
„Und was ist mit den Kursen, die Berta anbieten will?“
„Das wird noch ein bisschen dauern. Sie haben gerade erst angefangen, die Hütten und die Lodge herzurichten und Beete anzulegen. Sie werden sicher noch ein paar Monate brauchen, bis alles fertig ist. Es wird eine Töpferwerkstatt geben und Webstühle; und man wird lernen können, wie man Körbe flechtet, Fische räuchert oder Trommeln baut.”
„Wow! Klingt ganz schön interessant.”
Das Stimmengewirr um sie herum, das mit einem nicht zu identifizierenden Wummern aus den Lautsprechern unterlegt war, machte es immer schwieriger, sich verständlich zu machen.
„Ich werd’ alles ausprobieren können, das gefällt mir daran. Das mit dem College war mir zu stressig, aber nach dem Jahr hier im Grave hab’ ich echt das Gefühl, dass es doch ganz gut wäre, wieder was für die Birne zu tun.” Fay runzelte die Stirn. „Auch wenn wir dort auf der Insel ganz schön isoliert sein werden!”
„Wir dürfen dich dort wirklich nicht besuchen?”
Fay schüttelte kurz den Kopf.
„Ich komm dafür ab und zu und schau mir eure Touristen an.”
„Noch sind sie nicht hier!“
„Falls sie überhaupt jemals aufkreuzen!” Fay wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab, packte Rodney im Nacken und küsste ihn kurz entschlossen auf beide Wangen. „Frohe Weihnachten!”
Er sah sie an, zu verblüfft, um etwas zu erwidern.
„Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Gleich geht ‘s los.“ Sie hob eine Hand, öffnete und schloss sie zum Gruß und verschwand.
Rodney besorgte sich eine Cola und beobachtete, wie sich der Betrieb im Sailor ‘s Grave delirierend seinem freitäglichen Höhepunkt näherte. Henrietta, ein zotteliger Ziegenbalg, wurde mit den Vorderläufen an zwei Seilzügen befestigt, über einen Schlauch aus der Zapfanlage betankt und baumelte bald prall gefüllt unter der Decke der Bar, wo sie sich träge, mal in die eine, mal in die andere Richtung drehte. Bier tropfte aus diversen Löchern entlang der kalfaterten Nähte auf ihrem Bauch; und die ersten Gäste versammelten sich, um diese Tropfen mit zurückgelegten Köpfen und herausgestreckten Zungen aufzufangen. Die Musik wurde abgedreht. Fat Fred kletterte mühsam auf die Theke, die sich unter seinem Gewicht merklich bog, und hob eine verbeulte Trompete, die an seiner Prothese befestigt war, in die Luft. Die Gäste jubelten, stießen einander beiseite und versuchten jetzt alle, einen Platz möglichst genau unter Henrietta zu ergattern, was schwierig war, denn die ganze Menge wogte hin und her. Fred setzte die Trompete an die Lippen und produzierte ein misstönendes Signal, das wie ein blecherner Furz klang. Der Balg wurde langsam an den Seilen herabgelassen; die Männer schubsten und rempelten immer noch heftiger; einer stieg auf den anderen; und die ersten bekamen endlich die Zitzen zu fassen, rissen die Schnüre herunter, mit denen die bierspendenden Organe abgebunden waren, saugten sich an diesen fest und wurden von anderen beiseite gestoßen, die nun auch diesen Augenblick reinen Glücks erfuhren, nur um kurz darauf ihrerseits rücksichtslos nach unten gezerrt zu werden. Es war ein einziges Brodeln von entleibten Mäulern, Händen, Füßen. Immer neue Wellen brandeten empor. Es wurde mit Hieben und Tritten gekämpft. Die, die nach unten gedrückt wurden, krochen über den Boden, bis sie dem Gedränge entkommen waren, und stürzten sich erneut hinein. Rodney schaute dem Schauspiel noch eine Weile zu und schlüpfte dann unbemerkt in die Nacht hinaus.
Für jemanden wie Rodney, ohne ein Gramm Fett auf den Rippen und einer Haut dünn wie Pergament, war es auf der Straße bereits empfindlich kühl. Er konnte sich noch so tief in seine Jacke zurückziehen, er spürte doch, wie der kalte Wind durch Maschen und Poren wehte und ihn mitnehmen wollte. Er holte tief Luft; und die Luft ging durch und durch und stieg ihm zu Kopf: kalter, reiner Sauerstoff, beflügelnder Sternenatem, der einen ins All hinaushob. Er ging Richtung Hafen und spürte die Fugen zwischen den Platten des Gehwegs durch Sohlen und Strümpfe hindurch: tiefe Spalten, sich weitende Abgründe, die irgendwann den Unachtsamen verschlingen würden. An der Kaimauer angelangt blickte er zu den dunklen Inseln hinüber, von denen die entfernteste der Legende nach ein alter Indianerfriedhof war und nie von einem Lebenden betreten worden war. Die Toten hatte man einfach bei einsetzender Ebbe in ein Kanu gelegt und ins Wasser geschoben, das sie mitnahm zu der Insel. Über dem Wasser lag ein Glanz, der nicht vom Himmel voll Schneewolken stammen konnte. Rodney war sich sicher, dass er einfach zu den Inseln hätte schweben können. Er hätte sich bloß sacht abstoßen müssen. Den Rest hätte der Wind besorgt.
„Scheiß kalt, was?“
Rodney zuckte zusammen.
„Wollt dich nicht erschrecken.“ Der Alte lachte, was von einem ekligen Husten nicht zu unterscheiden war. Sein Tweed-Mantel war geflickt und wurde von einem Buckel ausgebeult. „Eine Nacht finster wie das Grab!“
Rodney zog zitternd die Schultern hoch und warf dem Alten einen verwirrten Blick zu.
„Man weiß, er ist irgendwo da draußen und markiert die Türen mit Spucke.“ Der Alte schwieg einen Augenblick und fuhr versöhnlicher fort: „Na ja, was soll’s. Irgendwann erwischt ‘s jeden von uns, was?“
Rodney lehnte sich gegen die kalte Mauer. Er hatte Angst, dem anderen irgendwelchen Anlass zu geben, weiterzureden.
„Ist ‘ne lange Reise, heißt es“, fuhr der Alte, der gedankenverloren aufs Wasser gestarrt hatte, nach einer Weile fort, und wandte sich Rodney zu. Seine Wangen waren mit geplatzten Äderchen überzogen.
„Ich bleib lieber hier.” Rodney hob abwehrend eine Hand.
Der Alte lächelte.
„Es liegt nicht an dir, das zu entscheiden. Deine Zeit ist im großen Buch festgehalten; und wenn sie gekommen ist, hilft kein Betteln und kein Flehen.”
„Was wollen Sie von mir?” Rodney entfernte sich vorsichtig.
„Nichts!” Der Alte spuckte aus. „Noch nicht!“ Er legte zum Gruß einen Finger an die wollene Mütze, die er bis tief ins Gesicht gezogen hatte, und schlurfte auf abgelatschten Sohlen davon. Seine Hosenbeine waren zu lang und ihre Säume an den Fersen ausgefranst. Aus der Manteltasche ragte ein Flaschenhals.
„Es tut mir leid.“ Rodney stand inmitten der Pfütze, die sich um seine Stiefel herum bildete, und hatte die Daunenjacke geöffnet, aber noch nicht ausgezogen. Die Ohrenklappen seiner Fellmütze standen zu den Seiten ab wie die Flügel einer der Möwen, die allen Vergraulungsmaßnahmen zum Trotz immer wieder in einem der Auffangbecken unterhalb von Butt landeten und dann ein Gefieder voll Ölschlick in den Wind hielten in der Meinung, es müsse nur trocknen, damit sie wieder fliegen könnten. „Waldo hat mich ins Grave geschleppt, wo Fay von ihrer Insel erzählt hat.“
„Das machst du mit Absicht.“ Sylvie schniefte, weigerte sich aber, den Blick von den vor ihr aufgetürmten Fernsehern abzuwenden. „Du willst mir unbedingt mein Weihnachtsfest ruinieren. Du gibst mit diesem Flittchen an, das eine ganze Insel mit heißen Quellen und einem richtigen Blockhaus hat, während ich mir in deinem schimmeligen Trailer den Arsch abfriere und noch nich’ einmal das Feuer kriege, das du mir versprochen hast.“
Rodneys Blick wanderte unwillkürlich zu dem Kamin, den einer der Vormieter mit wenig Geschick und noch weniger gestalterischem Ehrgeiz aus Ziegelsteinen und Blech zusammengeschustert hatte. Für das Ofenrohr hatte er ein unregelmäßiges Loch in die Seitenwand des Trailers geschnitten und es mit Bauschaum abgedichtet, der teilweise geschmolzen und in langen, verkohlten Tränen die Kunststoffpaneele hinabgeronnen war. Sylvie hatte bereits Holzscheite, eine große Tüte Marshmellows und zwei Stecken, die offenbar als Spieße dienen sollten, bereitgelegt.
„Ich hab ‘s einfach vergessen; und Waldo ...”
„Ich kann diesen Namen nicht mehr hören!” Sylvie presste beide Hände auf die Ohren. Ihre Lippen zitterten. „Du bist wie die anderen. Du willst mich nur loswerden.”
„Aber das stimmt doch gar nicht, Sylvie! Es ist nur ...”
„Du willst nicht einmal Weihnachten mit mir feiern. Lieber gehst du zu dieser asiatischen Schlampe und ihrem Angeber ...”
„Sylvie, ich bitte dich. Melinda und Graham haben uns beide eingeladen. Dich auch! Sie wollen dich kennenlernen.”
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