Kitabı oku: «Nacht und Hoffnungslichter», sayfa 2

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DIE MÜLLI!

Plötzlich geschah es, daß eine Frau aus der Ecke des übervollen Straßenbahnwagens den Ruf ausstieß: »Die Mülli!« Hätte sie: »Es brennt!« gerufen, die Aufregung wäre viel geringer gewesen. Ich sah aus bleichen, bartstoppelübersäten Mannsköpfen gierige Heißhungeraugen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Habichtblicke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, dürr und pergamenten wie Dörrgemüse, erstaunt, erschrocken bebend wie vor einem Großen, Ungeahnten, Schönen und doch Schauerlichen die Köpfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen der Großen hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein dünner Strahl, weiß und fettgelblich, wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens bedächtig und gemächlich rann. Die Milchkanne der Bäuerin aus Stockerau war über die Füße eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Ersatzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spalten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon saßen, hoben die Füße in die Höhe, aus Angst, in die Milch treten zu müssen. War es die Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus den heiligen Eutern Mahabharathus? Was war das für eine Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und vor der die Leute auf die Bänke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen? Es war die Milch einer sterblichen Kuh aus den irdischen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit für die Großen, ein weißes Silbermärchen von ungeahnten Geheimnissen für die Kleinen. Es war eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da die Krone noch einen Nährwert hatte und die Milch eine Valuta. Es war Milch, gewöhnliche, außerordentliche, einfache, göttliche Milch …

Es hat wenig gefehlt und ich hätte das erhebende Schauspiel erlebt, daß gestoßene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anleihen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter überstandene, Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden einer Elektrischen glatt und bäuchlings ausgestreckt gelegen hätten, um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hötzendorf gepriesen, die ausgeronnene Milch zu schlecken.

Trara!

Seit einiger Zeit schwingt mitten durch das Brummen der Autos, das Kreischen der Elektrischen und das Tuten der Schaffner ein seltsamer Ton von wunderbarer Melodie. Es klingt wie das Halali einer Jagd und das selige Trara eines Postillons. Es sind die Signale eines Autos; von dem ich vermute, daß es Eigentum einer fremden Militärmission ist. Ich sage seinem Besitzer somit öffentlich Dank. Das Signal ist hell und lustig und klingt wie eine Aufforderung mitzukommen. Komm mit, ruft es, sehen wir uns die Welt an! In diesem silbernen Trompetenton vernehme ich die hellen Stimmen einer europäischen Zukunft: Liebliche Maiennächte mit fliegenden Silberwölklein, Postillon, Abschied und Reise ins Märchenblaue. Ich sehe Grenzen fallen, Pässe überflüssig werden, Visitationen und Requisitionen überflüssig werden, und ich fahre auf einer mondlichtüberfluteten breiten Straße durch die römische Campagna. Und ich sehe in eine Zukunft, in der ich ohne jede Einreisebewilligung selbst nach Hütteldorf-Hacking gelange …

Die Politik, die Mädel und der italienische Stern

Einmal, als die Zeit noch so groß war, daß selbst die kleinen Mädel sie begriffen, waren patriotische Kokarden, Matrosenschleifen mit Namen vaterländischer Fregatten und Abzeichen, die man an Kriegsblinden- und anderen Festtagen verkaufte, Schmuck und Zierrat jener Mizzis, Poldis, Fritzis und Franzis, deren Tagewerk mit Anbruch der Nacht begann und in der harmlosen Gesellschaft eines Leutnants in Erholungsurlaub vor sich ging. Heute, da eine neue Welt die alten Kokarden unmöglich macht, erweisen sich alle diese kleinen Mädel als große Staatsmänner, die die Abzeichen ihrer Zeit besser verstehen als unsere Diplomaten die Zeichen. Der fünfzackige italienische Stern in jenen Tagen, da die Italiener Katzelmacher hießen, armseliges Schmuckstück auf dem Rock italienischer Kriegsgefangener, schimmert heute an den Blusen aller Mizzis. Er ist ihr Leitstern geworden, der ihnen auf dem Weg in die Hinterstübchen italienischer Militärmissionen leuchtet, uns anderen mag er der Stern des Frieden sein, der am Himmel der – Geschlechterversöhnung glänzt. An allen Ecken und Enden der Kärntnerstraße und des Rings taucht er in den Abendstunden auf, und sein Schimmern bedeutet den italienischen Fremden: si parla italiano! Die Wiener Gemütlichkeit ist weit von den Mitteln entfernt, die im heiligen Lande Tirol Anwendung fanden. Der Wiener zitiert höchstens frei nach Schiller: An ihrer Brust sind ihres Schicksals Sterne.

Josephus

Der Neue Tag, 1.6.1919

SCHUHRIEMEN, BITTE!

Sinnbild und Überrest einer großen Zeit, durch Teisingermethoden aus Alltagsmaterial schnellstens hergestelltes Heldentum, mit moderner Prothesenkonstruktion neu angelegtes und repariertes Ebenbild Gottes, aufgestellt an der Straßenecke, wo Kriegsgewinn und Jetzt sich kreuzen, schwingt ein Etwas von einem Menschen in der durch einen gutmütigen oder boshaften Zufall nicht auf dem Felde der Ehre verbliebenen Rechten einen Bund Schnürsenkel. Statt auf Beinen, die andere Schnürsenkelverkäufer außer der Bronzenen auch noch nach Hause gebracht haben, steht dieser auf zwei hosenumschlotterten Prothesen. Mit der Leidenschaft jener Verzweiflung, der man es ansieht, daß sie ein Kind der Wiener Invalidenfürsorge ist, schwingt er sein Bund über den Häuptern arbeits- und beschäftigungsloser Passanten, schwingt sie siegreich, die schwarze Fahne des Elends. Schmettert immer wieder, immer wieder sein: Schuhriemen, bitte! In die Menge, als müßte er diese zum Sturm anführen. Seine Schuhriemen sind unverfälschter Papierspagat – sonst hätte er sich schon längst aufgeknüpft. Von frühem Morgen bis in die Nacht hinein kann man meinen Schnürsenkelverkäufer sehen. Sein Bund bleibt immer gleich groß, kein Mensch kauft Schnürsenkel aus Papierspagat. Aber unermüdlich schreit und fuchtelt dort an der Ecke das Fragment eines Menschen herum, flackernden Hunger in der Miene, Drohung und Gebet in der Stimme. Ist gar kein Schnürsenkelverkäufer mehr, sondern Mahnbild und Prophet. Sein Schrei wird überfahren vom Gekreisch der um die Ecke biegenden Elektrischen, seine Handbewegung weggewischt von der Geste des Profitgeistes. Um ihn herum feilscht Welt, Weib und Gewinn, linkswalzt Wien, die Stadt des Blaufuchses und des Kriegsblinden …

Der General

Täglich um die Morgenstunde, zu der ein Pfeifendeckel zur Salzsäule erstarrte: Exzellenz, ich melde gehorsamst …, geht der General die Straße entlang, frisch rasiert und backenbartgepflegt. In seinem Gang militärische Knappheit und Pseudozielbewußtsein, in seiner Haltung inhaltslose Dressur. Sein Auge noch so blitzblau wie damals, als er vor dem Feinde und zwischen den beiden eine Brigade stand. Bemüht, in die Zukunft zu sehen, sieht er Vergangenheit. Vergangenheit mit Marschmusik, Donnerhall, Prinz-Eugen-Brücken, Gehorsam und Sklavensinn. Wenn ein Soldat an dem General vorbeikommt, bemüht sich der Alte, nicht zu sehen. Er will nachsichtig sein und drückt ein Auge zu. Aber dann ist Bitterkeit, Leere, gähnender Weltraum, Grenze der Vernunft. Er war General, weil sie ihn Exzellenz nannten. Er war General im Gefüge der Brigade. Er war »komplett«, als ihn die anderen grüßten. Er war nie Individuum. Immer ein Bestandteil, wie ein Knopf, ein Kolbenhals, ein Tornister, eine Wasserjacke. Er fand seine Ergänzung im Gehorsam der anderen. Jetzt ist er Überrest, Fragment, Brigadier oder Brigade, Stratege ohne Dienstreglement, Herr ohne Diener. Aber Herr noch immer, mit der Gloriole einer tragischen Ironie um die Generalskappe, standesbewußt ohne Stand und ehrenhaft ohne Kodex …

DIE GALGENFRIST

Als ich eines Abends, wie es meine Gewohnheit ist, pünktlich und höchst loyal zehn Minuten vor 9 Uhr vor meinem Haustor ankam, war es – offen. Die für 9 Uhr angesetzt gewesene Haustorsperre hatte auf meinen Tugendwächter, so sich »Hausmeister« nennt, einen so vortrefflichen Eindruck gemacht, daß er, der typische Repräsentant altösterreichisch-gemütlichen Konservatismus, der trotz Umwälzungen und Götterdämmerungen christlichsozial und konservativ gesinnt geblieben war, angefangen hatte, nicht nur mit der Zeit zu gehen, sondern auch ihr vorauszueilen. Unter der Devise: »Zeit ist Sperrsechserl« hatte er schon um ¼ 9 Uhr das Haustor geschlossen und und Parteien, die zwischen ¼ 9 und 9 Uhr kamen, ganz einfach warten lassen, bis es neun geschlagen hatte und kein Einwand mehr möglich war. Man war eben erst da, nachdem man seine Anwesenheit vom Herrn Hausmeister bestätigt erhalten hatte, zahlte seinen Obolus und schwamm in den Hades seiner gaslichterdrosselten Behausung. So kam es mitunter vor, daß sich einige Mietsparteien vor dem Haustore angesammelt hatten und daß ich mich anstellen mußte, um schlafen gehen zu können. Einmal hatte ich es zwar versucht, einen Haustorschlüssel zu bekommen. Ich ging zum Herrn Inspektor und sprach: Herr Inspektor, halten zu Gnaden, da wir schon einmal in einer freien Republik schlafen zu gehn gezwungen sind, bitte ich, mir den Haustorschlüssel zu meiner persönlichen Freiheit gegen ein angemessenes Entgelt und Trinkgeld ausfolgen lassen zu wollen. – Aber der Herr Inspektor erschrak vor dem Worte: persönliche Freiheit und verweigerte mir den Schlüssel. Also gewöhnte ich es mir an, zehn Minuten vor neun Uhr nach Hause zu kommen, um erst fünf Minuten nach neun nach Hause kommen zu können …

An jenem Abend aber, da ich das Haustor offen fand, war ich in arger Verlegenheit. Dem Hausmeister konnte ein Unglück passiert sein. Oder die persönliche Freiheit war in der deutschösterreichischen Republik tatsächlich eingeführt worden. Oder der ganze Magistrat ist meschugge. Oder es sitzen schon Bolschewisten im Gemeinderat. Oder das Haus, in dem ich wohne, ist sozialisiert. Oder das Schloß ist kaputt und funktioniert nicht. Ich zog also mein Sperrsechserl, ging in die Wohnung des Hausbesorgers und hub an: Werter Herr Hausmeister, ich bitte sehr um Verzeihung, Sie dürften sich heute geirrt haben, da ist Ihr Sperrsechserl. »Na« – sagte der Gewaltige – »mir ham uns net geirrt. Wir sperren scho um zehne!«

Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewährung einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der neuen Zeit angeblasen?

Ich komme jedenfalls seit damals erst um – halb elf Uhr nach Hause. Die Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr beginnt der Einlaß. Denn seit die Haustorsperre für zehn Uhr festgesetzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend und seine eben erwähnte Devise beibehaltend, erst um – neun Uhr …

Josephus

Der Neue Tag, 15.6.1919

BARRIKADEN

Nein, sie stammen wahrlich nicht aus der Zeit der Revolutionen. Sie sind nicht Anzeichen eines aufgeregten, sondern im Gegenteil: eines gemütlichen Wien. Sie sind nicht Zweck und Ziel einer Strömung, sondern Grund und Ursache einer Untugend. Aber was auch beim Anblick dieser Barrikaden so empört, ist eben der Umstand, daß sie der Ausdruck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht und die, aufgeweicht in einem Viertelliter Heurigen, als sogenannte »Gemütlichkeit« von Volkssängern und Feuilletonisten wiedergekäut und ausgespuckt wird. Ist eben jene Schlamperei, die nicht der Fehler der alten österreichisch-ungarischen Monarchie war, sondern die Tugend dieses unseres Deutschösterreich, daß diese seine Tugend allen Teilstaaten aufoktroyiert. Und wenn auch tausendmal erklärt wird: Deutschösterreich sei ein funkelnagelneuer Staat, der mit dem alten Reiche nichts zu tun habe, so verweise ich dringend und unerbittlich auf jene uralte Bretterverschalung des neuen Boltzmann-Instituts in der Währingerstraße, auf jene Bretterverzierung, die jedem Einsichtigen beweisen muß, daß wir zwar ein funkelnagelneuer Staat geworden, aber mit alten k.k. Brettern jämmerlich geflickt sind.

Wozu steht dieses Brettergerüst immer noch da? In der Nacht verrichteten Hunde und Heurigenmenschen dort ihre Notdurft, und am Vormittag klebt man dort Plakate auf mit der Ankündigung von Linkstänzen um Blaufüchse und Rechtstänze um goldene Kälber. Wäre es nicht vernünftiger, das letztere in der Stille einer Sommernacht und das erstere im Sonnenglanz des Tages zu erledigen? …

Heimgekehrt

Plötzlich tauchten sie auf, zwei Gestalten in der Kärtnerstraße, Robinsons oder so was, mitten zwischen Bügelfalten, Crêpe de Chine – Kleidchen, Lackstiefeletten und Telepathen: zwei Gestalten, robust, schwer, schmutzig und antediluvial. Bei näherem Zusehen entpuppen sie sich als zwei Heimkehrer. Sie waren aus Irkutsk oder sonst einer Gegend, wo nicht mehr der schwarze, sondern der rote Pfeffer wächst, im Sommer vergangenen Jahres aufgebrochen und hatten das zweifelhafte Glück gehabt, im Jahre des Herrn 1919 in ihre Heimatstadt Wien, die Stadt ihrer Träume, zu gelangen. Auf ihren zerfetzten Stiefeln lagerte der Staub von drei langen, total zerwanderten Jahren, und ihre braungebrannten Körper staken in Säcken von einer undefinierbaren Färbung, die sehr entfernt an Gelbweiß erinnerte, aber ebenso gut auch sandige Erde hätte sein können. Sie schritten mächtig aus, sie suchten das Kommando, bei dem sie sich zu melden hätten. Sie staunten nicht, sie wunderten sich nicht. Scheinbar war das mächtige Erleben spurlos an ihnen vorbeigegangen. Ich sprach mit ihnen. Es war ihnen gutgegangen in Rußland. Wozu sie heimgekehrt seien? – Weil man doch einmal zu Hause sein wolle. Wissen sie, in welches Haus sie heimgekehrt sind? Als sie auszogen, war die Zeit noch groß, da sie zurückkamen, ist sie neu. Aber jene haben wir so lang enden lassen, daß wir diese nicht alt werden lassen. Und so sind sie, die beiden Heimkehrer, heimgekehrt in einer Zeit, deren Neuheit darin besteht, daß sie mit Neuerungen mißlungener Experimente verunstaltet, heimgekehrt in eine Stadt, deren Straßenpflaster die Ehre haben, auf dem ebensogut Blut fließt wie auf den Feldern desselben Namens, heimgekehrt in ein Land, das nicht weiß, was anzufangen, weil es überall aufhört, heimgekehrt zu Menschen, die »Genosse« einander sagen und den Revolver in der Hosentasche tragen. Wozu sind diese beiden heimgekehrt? Sie wissen es ebensowenig wie den Grund, weshalb sie ausgezogen sind. –

Josephus

Der Neue Tag, 22.6.1919

Eine Kaffeehausterrasse und noch eine

An einem schönen Sommerabend hat ein Ringstraßencafé nächst der Oper zwei Terrassen:

In der ersten sitzen erwachsene Kriegsgewinner und schlürfen Eis und spielen Buki oder Tarock. Das ist die legale, anerkannte gesetzlich geschützte Terrasse. Eine Terrasse mit gesellschaftsfähigen und bügelfaltengezierten Besuchern.

Vor dieser Terrasse eine etwas elementarere, improvisierte: deren Besucher ohne Bügelfalten, noch nicht erwachsene Kriegsgewinner, sitzen nicht auf Korbstühlen, sondern teils auf dem Pflaster, teils auf dem sehr schwindsüchtigen Rasen im Schatten eines Ringstraßenbaumes.

Und spielen Tarock.

Es sind Kolporteure der öffentlichen Meinung, und es scheint mir notwendig, diese auf das Vergnügen ihrer Verkäufer aufmerksam machen zu müssen.

Denn die Öffentlichkeit flaniert achtlos an den zigarettenrauchenden tarockierenden Knaben vorbei, und nur, wenn sie im Auto sitzt, läßt sie ein Hupensignal vernehmen oder weicht dem spielenden Rudel halbwüchsiger Kolporteure aus. Man darf die Kleinen in ihrem Vergnügen nicht stören. Es ist ja sozusagen das Jahrhundert des Kindes.

Ein Wachmann steht in der Nähe und wartet aus Berufsgründen auf eine Gelegenheit, einschreiten zu können. Da heute ausnahmsweise nicht eine einzige Kriegswitwe einen Demonstrationszug über den Ring veranstaltet, läßt der Wachmann die Kriegswaisen ungeschoren. Vielleicht auch, weil er meint, das sei der Anfang der angekündigten Schulreformen: Um den Tüchtigen unter den Knaben freie Bahn zu schaffen, läßt man sie vorläufig, in den Ferien, die Fahrbahn der Ringstraße besetzen. Der Aufstieg der Begabten beginnt damit, daß diese vorderhand auf dem Pflaster sitzen bleiben. Wer die Partie gewinnt, hat seine Begabung erwiesen und darf aufsteigen.

Wie soll man das nennen? Im Zentrum einer Kulturstadt, auf der Straße tarockierende Knaben: eine »Kulturschande«?

Nun: Schande hätten wir seit eh und je genug gehabt!

Aber – das erstere?…

Josephus

Der Neue Tag, 10.8.1919

IN UND AUSSER DIENST

Das war schon in der Monarchie ein Unterschied:

Im Dienst konnte man z. B. ein Auge zudrücken. Außer Dienst durfte man sogar beide offenhalten.

Im Dienst sagte man: Sie und Schweinehund. Außer Dienst war man selbst einer und per du.

In der Republik gibt es auch: in und außer Dienst. Sowohl punkto: Schweinehund als auch punkto: Auge zudrücken. Böse Zungen sagen, in der Republik würde man sogar beide Augen zudrücken. Aber sicher ist nur, daß wenige beide offenhalten …

Dennoch hielt ein Arbeiterrat auf der Westbahn beide Augen, während er die Reisenden revidierte, offen, und zwar in dem Übermaß, daß ein anderer Arbeiterrat, der außer Dienst war und im Vertrauen auf seinen Titel Butter hereinbringen wollte, von dem ersteren angehalten wurde. Zwischen beiden entspann sich folgender Dialog:

»Sö, dös geht net.«

»Oba, was willst?«

»Nix du, jetz’n bin i im Dienst.«

»Wannst mir d’Butter wegnimmst, kriagst deine fünf Kilo bei der Mutter net mehr!«

»Na, dann geh zua!«

Es hatte sich herausgestellt, daß der schmuggelnde Arbeiter eine Greißlerin zur Mutter hatte, die dem revidierenden Arbeiterrat fünf Kilo Butter in regelmäßigen Zeiträumen so hintenherum abzugeben pflegte. Ein böser Zufall fügte es, daß just dieser Arbeiterrat jene Butter konfiszieren sollte, die ihm selbst hätte zugute kommen sollen. Seine eigene Strenge strafte ihn. Sein Ich in Dienst nahm Stellung gegen sein Ich außer Dienst. Der tragische Konflikt war gegeben. Die Katastrophe unterblieb, weil der Anlass aus Butter bestand. Denn mit der Butter ist das so eine heikle Sache: Man darf sie nicht im Rucksack führen, man muß sie aber doch haben – außer Dienst. Man soll sie konfiszieren – im Dienst. Man darf sie nicht fünfkiloweis bei einer Greißlerin beziehen. Man soll sie ihrem Sohn aber wegnehmen. Denn dieser führte sie im Rucksack. Sie wäre ihm wirklich abgenommen worden, wenn jener sie nicht – am Kopf gehabt hätte. –

Josephus

Der Neue Tag, 17.8.1919

SEIFENBLASEN

Ich habe Kinder gesehen, die Seifenblasen aufsteigen ließen.

Nicht im Jahre neunzehnhundertunddreizehn, sondern gestern.

Es waren richtige Seifenblasen. Ein Fläschchen voll Seifenschaum, ein Strohhalm, zwei Kinder und eine stille Gasse im Sonnenglanze eines Sommervormittags. Die Seifenblasen waren große, wunderschöne, regenbogenfarbige Kugeln und schwammen leicht und sanft durch die blaue Luft. Kein Zweifel: Es waren richtige Seifenblasen. Nicht aus den Tümpeln der Kriegsleitartikel, der Vaterlandspartei, der Pressequartiere aufgestiegene Seifenblasen patriotischer Phraseologie, sondern wunderschöne, regenbogenfarbige Seifenblasen.

Ich denke an die vielen Seifenblasen, die wir platzen sahen, während der ganzen langen Zeit, da Kartensystem und Kettenhandel sich der Seife bemächtigt hatten und die Fabrikation der Seifenblasen aus den Mündern der Kinder in die Mäuler der Siegfriedler und Politiker übergegangen war. Da die Seifenblase des ukrainischen Brotfriedens, die Seifenblase von Brest-Litowsk, vom »verjüngten Österreich« und schließlich die vierzehn großen Seifenblasen Wilsons, die in Versailles an Clemenceau anstießen und zerplatzten. Wir hatten inzwischen die gnädige Erlaubnis erhalten, uns an jene Strohhalme zu klammern, mittels derer die Seifenblasen hergestellt wurden. Oh, es war eine traurige Zeit!

Ich weiß, es werden immer noch Seifenblasen dieser Zeit aufsteigen. Seifenblasen der Weltrevolution, der Proletarierdiktaturen. Aber seitdem ich die echten, die wunderschönen regenbogenfarbigen Seifenblasen gesehen habe, blicke ich spöttisch und überlegen auf jene. Denn die Zeit ist wieder gekommen, da aus Kulturbedürfnissen Kinderspielzeuge werden. Die logische Konsequenz, die daraus zu ziehen ist: daß sich die Politiker nicht mehr mit Kulturbedürfnissen befassen sollen. Vielmehr mit dem Dreschen der Strohhalme, die nötig sind, damit Kinder Seifenblasen erzeugen.

Nicht Politiker.

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ISBN:
9783903005884
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