Kitabı oku: «Nacht und Hoffnungslichter», sayfa 4
Eine Geschichte
Das ist eine Geschichte ohne Pointe.
Denn erstens kann man nicht immer Geschichten mit Pointen erzählen, und zweitens gibt es Geschichten, die keine Pointen haben und die dennoch wert sind, erzählt zu werden, weil sie schön sind.
Beim Stiefelputzer am Stephansplatz sah ich einen Menschen stehen, einen Soldaten. Es war ein Kunde des Stiefelputzers.
Nun, das ist natürlich nichts Besonderes. Täglich hat der Stiefelputzer am Stephansplatz soundso viele Kunden. Ist das eine Geschichte?
Aber der Kunde, von dem ich jetzt erzähle, war, wie gesagt, ein Soldat, ein Invalider. Ein – Einbeiniger. Hier fängt die Geschichte an.
Und hier hört sie zugleich auf. Sie enthält nichts als die Tatsache, daß sich ein Einbeiniger seinen einen Stiefel wichsen läßt.
Wenn ich wollte, könnte ich sagen, was sich der Einbeinige dabei dachte. Etwa: Wie glücklich, daß ich mir einen Stiefel wichsen lassen kann. Es soll Leute geben, die das überhaupt nicht können, weil sie – nicht einmal einbeinig sind.
Aber ich sage nichts.
Denn diese Geschichte trägt die Pointe schon in sich. Sie ist wie eine Nadel, die nur aus einer Nadelspitze besteht.
Die Geschichte ist ihre eigene Pointe.
Josephus
Der Neue Tag, 21.12.1919
»A JOUR«
Die Lebensmittelkarte kennt ihr doch? Es ist ein Karton mit Buchstaben und Ziffern?
Die Buchstaben haben nicht etwa didaktische Zwecke, sondern werden bei verschiedenen Gelegenheiten mit der Schere ausgeschnitten.
Zum Beispiel: Wenn man städtische Marmelade oder andere Lebensmittel ausgibt.
Die Wiener Lebensmittelkarte erkennt man nicht nur daran, daß sie den Aufdruck »Wien« in der Mitte trägt, sondern – an ihren Löchern.
Diese Löcher entstehen, wenn man Buchstaben ausschneidet.
Und aus den Wiener Lebensmittelkarten werden die Buchstaben in einer ganz merkwürdigen Reihenfolge geschnitten.
Man hat z. B. soeben eine ganz neue Lebensmittelkarte »gefaßt«. Die hat noch alle Buchstaben und kein einziges Loch. Aber da wird städtische Marmelade angekündigt. Und zwar »gegen Abgabe des Buchstabens: M«.
Der Buchstabe M ist in der Mitte.
Und nächstens wird ein anderes »städtisches« Lebensmittel ausgegeben. Und zwar »gegen Abgabe des Buchstabens: R«.
Ausgerechnet.
Man beginnt immer in der Mitte. Den Leitspruch des Wiener Magistrats: In medias res.
So eine Lebensmittelkarte muß man sich dann anschauen. Brüssler Spitzen sind nichts gegen diese Ajourmuster.
Ich wollte nämlich nur sagen, wie man Wiener Lebensmittelkarten agnosziert.
Josephus
Der Neue Tag, 14.3.1920
DER BLINDE SPIEGEL
I
Die kleine Fini saß auf einer Bank im Prater und hüllte sich in die gute, bergende Wärme des Apriltages. Einer süßen, niegekannten, fremden Ohnmacht gab sie sich willig hin wie einer Melodie. Das Blut hämmerte schwer und schnell gegen die dünne Haut der Pulse und Schläfen. Das blasse Grün der Bäume und Wiesen breitete sich aus über Kinderwagen, Steinen und Bänken. Alles Sichtbare floß ineinander, als blickte man aus einem sehr schnellen Zug in eine sehr grünende Welt. Es dauerte einen ewigen Augenblick. Dann gewannen Menschen und Gegenstände der Umgebung ihre Konturen wieder, eigene Gestalt und eigenes Leben, Gang und Haltung, besonderes Merkmal und vertrautes Gesicht. Aber die Ohnmacht schwang noch nach, singend im Blut, mit ihm kreisend, füllte sie die Adern, den ganzen Körper wie ein Choral eine Kirche. Die Leere sang, schwer waren die Glieder, aber leicht und schwebend das Leben, Flügel bekam das Herz wie in der Stunde besiegten Sterbens. Fernab flatterten schwarze Ängste nieder, kein Dunkel drohte mehr, es wartete keine Gewalt, keine Furcht zuckte auf am weiten, glücklichen Horizont eines wunderbaren Tags. Fini konnte das langsame Pochen ihres Herzens hören, tröstend war diese unmittelbare Nähe des eigenen warmen Lebens, zum erstenmal und überraschend waren sie und ihr Herz merkbar allein, und sein Pochen wie eine langsam tropfende, tröstliche Antwort auf angstvoll verschwiegene Fragen. Die Brust war leicht wie kurz nach einer ausgeschütteten Qual, und sorglich gebettet in eine beglückende Wehmut – als würde man weinen, als löste sich eine schmerzlich gekrampfte Fessel nach langen Jahren – endlich, endlich.
Fini, die Kleine, erhob sich und streckte die Arme, jung, wie ein junger Vogel zu fliegen versucht, und als sie den ersten Schritt machte, kamen die Gedanken wieder. In rätselhafter Nähe hatten sie gelauert, wie Fliegenschwärme kamen sie; die kleinen Ängste, die flinken, schwarzen Sorgen, die häßlich huschenden Nöte, die Drohungen des Morgen und Übermorgen, die grausamen Bilder grausamer Tage, und die Furcht wölbte sich wie ein niederes Joch über zitterndem Nacken. Verrauscht war die süße Musik der Ohnmacht, der gute, schläfrige Sang des Vergessens, verblaßt alle leuchtende Weite des sorglosen Nichts und ausgekühlt die bergende Wärme des lauen Tags. Fini fror im Aprilabend, als sie aufstand, um die Briefe auszutragen an die Firma Mendel & Co., an das Landesgericht I und II, an den Nebenkläger Wolff & Söhne, die fremden Briefe in dem grüngefaßten Buch, die fremden Briefe in die fremden Vorzimmer, die leichte, die schmerzende Last, die man austrug, um das Porto zu verdienen, von vier Uhr nachmittags bis sieben Uhr abends.
Durch die großen Straßen ging sie, verloren und gering, und merkte erst in einem Hausflur, daß der Brief an das Landgericht I nicht mehr da war, der wichtige Brief, in der lockeren Reihe flüchtiger Unterschriften fehlte eine, war eine Zeile leer und rundete sich, sah man lange darauf, zu einem furchtbar glotzenden Loch, einem hohlen, weißen Auge. Ein großes Zittern befiel das kleine, frierende Mädchen, und die Kälte wuchs, die man kaum mehr ertrug, mitten im lauen Aprilabend – man fühlte ihn, und er wärmte nicht. Fini wollte die Wärme herabziehn und sie um die dünnen Schultern legen. Wie der Abend die Stadt einhüllte, so sollte er sie auch schützen, die verloren war in der unermeßlichen Straße.
Ach! wenn man so dünn und gering ist, tut es gut, sich irgendwo bergen zu können, in der lärmenden Wüste der Stadt. Drohend wölbt sich das eiserne Leben über unsern kleinen Köpfen, und wir sind machtlos und verloren, preisgegeben dem bellenden Hund und dem blinkenden Polizisten, dem gierigen Auge des Mannes und dem keifenden Ruf des kriegsbereiten Weibes, dem wir besinnungslos in den Weg treten, jeder Macht, die auf den Plätzen lebt und an den Ecken lauert. Jetzt müßte man ein Haus wissen, in das man gehen dürfte, ein schützendes Haus mit reichem Portal, das uns mütterlich empfängt und speist und tröstet und die große Furcht aus unsern Herzen treibt wie der mächtige Portier die unbefugten Eindringlinge; jetzt, da man die Unbarmherzigkeit des Draußen gefühlt hatte, täte ein großes, bergendes Haus so wohl. Keine Sorge wäre drin um den verlorenen Brief und das bange erwartete Morgen.
Als der weißgekittelte Mann kam und eine Laterne mit langer Stange entzündete, huschte eine kleine Wärme durch das frierende Mädchen und ein armer, aber guter Trost, daß zwischen dem Heute und dem Morgen noch eine lange Nacht lag. Zwischen dem Unglück und seinen schrecklichen Folgen waren zwölf oder zehn Stunden und ein Schlaf und ein rettender Traum vielleicht und Zeit genug für ein Wunder, das einmal ja kommen muß in unserem Leben. Vielleicht, wenn kein Traum kam und das Wunder enttäuschte, ließ sich in der Früh noch mit Doktor Blum, dem Sozius, reden, der besser war, weil er jünger war, und eine Stirnlocke trug wie ein Student.
Wäre der Hausflur nicht, in den wir jeden Abend gehn müssen, der Hausflur, der schlimmer war als die Straße, in dem der Kot junger Katzen roch und die Pförtnerin lauerte, und die Treppe nicht mit dem schadhaften Geländer wie einem lückenreichen Gebiß und die vergrämte Mutter nicht mit der ewigen Neugier und dem ungläubig geschärften Ohr – wäre das alles nicht, so könnte man das Morgen Gott, dem lieben Gott, überlassen und heute noch feiern, im weichen Bett, ein Buch und Ansichtskarten auf der Decke.
II
Noch war die Mutter nicht zu Hause. – Es ist gut, wenn unsere Mütter nicht da sind, die Mütter mit den ungläubig forschenden Augen, die traurig sind und weinen müssen, strenge und fürchterlich und dennoch traurig, unsere armen Mütter, die nichts verstehen und schelten und vor denen wir lügen müssen. Wir brauchen niemandem Bericht zu erstatten, und keine Furcht ist in uns vor der Wirkung der Berichts, keine Furcht vor dem Zwang zur Lüge und keine um ihre Entdeckung. Fini entkleidete sich langsam; sie fühlte es warm und feucht an ihren Schenkeln rinnen, Blut mußte es sein, groß war ihre Sorge. Irgend etwas war mit ihr geschehen, und sie forschte in ihrem vergeßlichen Gehirn nach einer Sünde, einer vor Tagen begangenen.
Es ist schön, sich allein im Zimmer vor dem Spiegel entkleiden zu können – allein, die Tür ist versperrt, als hätte man sein eigenes Zimmer wie Tilly, die Große – und festzustellen, wie die Brüste wachsen, weiß und fest und von rosigen Kuppen gekrönt, obwohl sie noch nicht so groß und durch die Kleider deutlich sichtbar sind wie bei Tilly, die einen Freund hat und küssen darf.
Gerührt, als streichelte sie ein kleines, fremdes Tier, so tastete Fini an ihrem Körper, erfühlte den beginnenden Schwung der Hüfte und das kühl gerundete Knie und sah, wie das Blut eine schmale, rote Furche zog, das nackte Bein entlang.
Die kleinen Mädchen fürchten sich, wenn sie das rote Blut sehen und wenn sie nicht wissen, woher es kommt, und ganz allein und nackt sind, ohne die schützende Hülle des Kleides, mit einem lebendigen Spiegel eingeschlossen in einem Zimmer, rotes Blut, unbekanntes, aus unbekannten Gründen fließendes sehen, ist ihre Furcht dreimal so groß. Die Wunder haben in ihnen selbst ihre Ursache und ihr Leben, und wir erschrecken vor dieser Nähe des Rätsels, von dem wir geglaubt haben, daß es in der Weite wächst und ferne unsern Körpern. Fini hielt den Atem an und hörte plötzlich die große Leere im Zimmer, fühlte das Totsein der toten Gegenstände, sah die Lampe in einem Nebel brennen, in einem weißen Nebel, der die Form eines Angesichts annahm und behielt, eines gespenstischen Angesichts mit leuchtendem Kern. Fini hörte aus unermeßlicher Ferne wie aus einem geahnten Jenseits Stimmen der Straße und das Kreischen einer Bahn, die Melodie einer ewigen Geige und ein tröstliches Rauschen der Stille wie aus einer großen Muschel. Kühl und weich flutete die unendliche Stille, ein Ozean, der von den Füßen aufstieg und stieg – schon stand sie mit den Knien darin, und die blaue Stille deckte die Hüften ein und wuchs um das Herz beklemmend.
Ein gutes Dunkel kam und deckte sie zu. Sie sank in die Ohnmacht, in den weichen, ausgebreiteten, gastlichen Mantel aus zärtlichem Samt.
III
So fand sie die Mutter, die allzeit geschäftige, in Sorgen ergrauende, die Mutter, die von der Tour kam, aus Purkersdorf mit der Westbahn.
Den Hut, den schiefen, auf der Fahrt beschädigten, zum Einkassieren unerläßlichen, warf sie auf das Sofa. Eier zerbrachen mit kläglichem Laut in der Tasche. Schön öffnete sie den zitternden Mund zum Fluch, ein häßliches Wort krümmte die Lippe, da erschrak sie, dachte an Selbstmord und grausigen Bericht in der Zeitung und beugte sich über Fini.
Das Mädchen erwachte und sah über sich das breite Gesicht der Mutter, sah in die schmerzlichen Augen und eine unbekannte Güte darin, einen Trost und ein fremdes Erschrecken. Rasch hob sie die Mutter auf starken Armen ins weiße, breite, weiche Bett, kalte Milch brachte sie und küsste Stirn, Mund und Augen wie lange nicht mehr. Vertraut war die Berührung der mütterlichen Lippen, lang entbehrt und wie eine Wiederkehr der halbvergessenen Kindheit. »Mein gutes Kind«, sagte die Mutter und wiederholte die Worte, und ihre Stimme war verwandelt, die Stimme einer alten, einer gewesenen, zurückgekehrten Mutter. »Jetzt bist du unwohl«, sagte die Mutter und: »Nun bist du eine Frau.« Und Fini verstand, was Tilly, die Erwachsene, immer gefragt hatte: ob sie auch schon unwohl sei. Eine stille Feier entzündete sich im Innern, ein heimliches Fest, als trüge man ein weißes Kleid und würde konfirmiert.
»Bleib morgen zu Hause, geh nicht ins Büro«, sagte die Mutter. Weich und warm wie ein kleiner, lieber Wind ging ihre Stimme über Finis Gesicht. So merkwürdig verwandelt war alles; der Bruder schwieg, der sonst immer tobte, die Mutter summte leise in der Küche, und der Nachtwind spielte mit einer zart klirrenden Fensterangel im Nebenzimmer. Ruhe, weiße, war im Bett und in der Welt, die behagliche Wärme eines neugefundenen Heims, Heimat ohne Ende, Güte ohne Grenze und mit der Mutter die Gemeinsamkeit des Erwachsenseins und des Frauseins. Nicht mehr strafende Mutter war sie, sondern schwesterliche Frau.
Spät am Abend klingelte die Nachbarin noch, auf einen Plausch kam sie; leise rasselte ihr Schlüsselbund, und man hörte sie reden. Fini lauschte; die Mutter sprach mit der Frau vom Krieg; sie lasen im Abendblatt den Sieg von Sadowa und sprachen von den Männern, die lange nichts mehr schrieben. Der Duft bratender Erdäpfel wandelte durch die Zimmer; die Frauen aßen und kicherten; jetzt erzählte die Mutter von Fini, und das Kichern der alten Frau wurde unangenehm, und ihr Flüstern kam wie ein Zischen unverständlich und beunruhigend aus der Küche.
Zu schön war die Behaglichkeit des weißen, heimatlichen Bettes und zu aufregend ein mißtrauisches Lauschen. Es war besser, man legte sich gerade hin und dachte an gar nichts mehr.
Aber plötzlich überfiel Fini der Gedanke an den schrecklichen verlorenen Brief, und sie rief die Mutter herbei und erzählte es ihr, die nicht erschrak und nicht fluchte, sondern gütiger wurde und weicher, Trost und Vermittlung versprach und mit beiden Händen die Decke glättete. So verwandelt hat sich die Welt, eine Dankbarkeit strömt sie aus tausend aufgebrochenen Quellen, und aus den Tiefen verschütteter Kindheit holen wir unsere alten, kleinen, frommen Gebete hervor und weinen ein bißchen zu dem auferstandenen Gott und schlafen ein.
IV
Um acht Uhr früh schon weckte eine schrille Klingel, eine Feldpostkarte des Vaters kündigte sie an oder eine Todesnachricht; eines von beiden nur konnte es sein. Tag für Tag, Stunde um Stunde wartete man auf die Karte, auf die Todeskarte vom Regiment, und man zitterte vor dem kurzen Geschrill der Glokke, das man ersehnte, wenn es ausblieb. Fini hörte der Mutter gewöhnliches Ächzen beim Aufstehen, das Schlurfen ihrer Pantinen bis zur Tür und zurück, den Gruß des Postboten und das Rattern der hölzernen, emporgezogenen Jalousien. Es dauerte ein paar Minuten, es waren Minuten süßer, banger Ungewißheit, die wir liebhaben, die gespannten Minuten mit dem angehaltenen Atem vor den großen Überraschungen, die man immer ersehnt, und wären sie auch fürchterlich.
Aus der Küche scholl der Mutter freudiger Ausruf, herbei eilte sie ans Bett und setzte sich und meldete die Ankunft des Vaters, der schon unterwegs war, entronnen dem Tode, verletzt, und vielleicht für immer dem Hause wiedergegeben.
Mit zärtlich zittrigen Fingern zerknitterte sie die rote Karte, schon sah sie aus wie am Busen zerdrückt, und der arme Kopf vergaß das Butterbrot für Josef und die Obliegenheiten der morgendlichen Stunden. Am Bettrand saß sie mit dünn gewikkeltem Zopf und spann Träume, wollte Touren aufgeben, die vergeblichen wenigstens, und von Arnold, dem Onkel, die erträglichen und ertragssicheren abkaufen, in den Gegenden der Munitionsarbeiter, die sichere Gehälter bezogen und verläßliche Ratenzahler waren.
Eine merkwürdige Güte offenbarte das Leben, Gnaden schüttete Gott aus, er verwandelte die Mutter, die fluchende, die Rächerin und die Richterin, in die gütige, freudige Frau, fast konnte man’s nicht glauben. Oft schon waren Zweifel in Fini des Morgens gewesen, ob sie in die Wirklichkeit des Tages erwacht oder entschlummert war in die Fortsetzung des Traumes. Diesmal war alles unwahrscheinlich, die Sonne und der plinkernde Sperling am blechernen Fensterbrett, die goldige Staubsäule in der Ecke beim Ofen, die Wiederkehr des Vaters und die Ruhe im Herzen.
Die Mutter strömte den schwülen Duft ihrer Körper- und Bettwärme aus, sie roch vertraut wie warme Milch und weckte in Fini das Verlangen, die Arme um den Hals der Frau zu legen, die nachgiebige Weichheit der mütterlichen Brüste zu fühlen und glücklich zu weinen. Wäre nicht der Gedanke an den verlorenen Brief noch lebendig in seiner ganzen Furchtbarkeit – wie wäre der Morgen sorgenfrei und wunderbar –, wäre die nächste, die kommende Stunde nicht in der Kanzlei vor dem Doktor Finkelstein.
»Ich will hingehen und ihm erzählen«, sagte die Mutter. Und Fini entsann sich der Schuljahre und der mütterlichen Vermittlungen und ungeschickten Ausreden und des blamierenden Diskurses zwischen Mutter und Lehrer und entschloß sich, selbst zu gehen. Wenn Gott, der wiedergekehrte, neuerbetete, helfen wollte, so half er in allen schwierigen Dingen den kleinen Mädchen, und wie immer, wenn wir fast keinen Ausweg mehr wissen, dämmert in unsern Köpfen langsam eine Ausrede und formt sich zum wahrscheinlichen Bericht, an den wir selbst am Ende glauben. Konnte man nicht mit der Feldpostkarte hingehn und den verlorenen Brief mit Aufregung entschuldigen, die man wohl glaubte, während man eine Ohnmacht, eine gewöhnliche, belächelte? Vieles Wunderbare war seit gestern geschehn, viel mehr Wunder brachte das Heute. – Und Fini, die Kleine, ging über die Straßen, vor denen sie sich gestern so gefürchtet hatte, und war nicht mehr gering und verloren, sondern stolz und gehoben, gewachsen und reif geworden in der schwülen, regenschwangeren Luft des trüben Tags. Die Wolken hingen fallbereit. Kleiner schien die Unermeßlichkeit der Atmosphäre und näher der Welt; verlangend lag der Himmel über der Erde, bereit, sie zu umarmen und zu befruchten.
V
Die Wunder hörten nicht auf, die Güte Gottes gebar sich immer neu. Ein Mann kam, eine Viertelstunde vor dem Doktor Finkelstein, und brachte den Brief, den verlorenen, in die Kanzlei. Fini gab ihm ihr letztes Straßenbahngeld. Sie sah den Mann genau an und behielt sein Gesicht, seine Kleidung, seinen Schnurrbart treu im Gedächtnis. Jahrelang später wußte sie, daß ihm Haarbüschel, graue, aus den Ohren wuchsen. Allerdings kam der Sozius Blum in dem Augenblick herein, als der Mann fortging, groß, stark, duftend und strahlend, ein Gott der Frauen. Behutsam und väterlich faßte er Finis Arm, Milde und Verzeihung schwangen in seiner Stimme, als er zur Vorsicht für alle künftigen Fälle mahnte. Dabei spürte sie den sanften Druck seiner Finger am Oberarm, sie blickte zu ihm auf und sah seine sorgfältig verworrene Locke über dem linken Auge und seinen lächelnden Mund.
Später floß das Wunderbare über in die gewöhnliche Lauheit ärgerlichen Tages. Fini saß vor dem braunen Telephonapparat mit den verwirrenden Stöpseln und verworrenen Bändern, den grüngetupften, den rotgestreiften, den blauen und unbesetzten Löchern, vor denen die rätselhaften Klappen aus rätselhaften Gründen plötzlich abfielen mit leisem Schlag wie verwelkte, harte Augenlider. Das Telephon schrillte, die helle Fanfarenstimme einer Frau verlangte den Doktor Blum; ein Stöpsel flog in ein beliebiges Loch, und Fini wartete auf den Erfolg. Schon ahnte sie gleichzeitig, daß es eine falsche Verbindung war, und sie wartete furchtsam wie in der Schule, wenn sie auf der Tafel eine Rechnung falsch gelöst hatte und hinter dem Rücken das peinliche Schweigen der Klasse fühlte und den triumphierenden Atem der Lehrerin auf der Schulter. Wie konnte man auch an diesem stöpselreichen Apparat den richtigen finden, wenn ein Wunder nicht zur Hilfe kam?
Ach, es kam nicht, sondern der Doktor Finkelstein. Gefräßig, mit einer Aktenmappe stürzte er, der ewig gefräßige, immer sturzbereite, streitbare, mit starken Brillengläsern funkelnde, herein; denn bei ihm hatte es geläutet und nicht beim Sozius, bei ihm hatte die Exzellenz Helena nichts zu suchen – »nichts zu suchen, sage ich« –, die Schlange, die sie beide noch ruinieren würde. »Ich mache keine Strafprozesse, das müßten Sie wissen, zehn Jahre sitzen Sie hier!« Lärm kündigte ihn an, den Doktor Finkelstein, in einer Wolke von Lärm lebte er, und er begann zu diktieren. »Lassen Sie den Apparat, den Sie doch nie verstehen werden, und setzen Sie sich an die Maschine!« Und leise vor sich hin wiederholte er: »Zehn Jahre sitzt sie schon hier« – bis plötzlich ein Blick zu Fini hinüberflog und ihr Gesicht streifte und eine dunkle Erinnerung an die Erzählung des Doktor Blum von einer neuen, jungen Hilfskraft weckte.
Wie flatterte das Herz, wenn er diktierte, die großen, fremden, nie gehörten Worte sprudelten, Sturzbäche erstaunlicher Satzgefüge, prachtvoll exotische Klänge, lateinische Namen, Sätze, labyrinthisch gebaute, mit kunstvoll verborgenen Prädikaten, die manchmal unerklärlich verlorengingen. Während Fini stenographierte, überhörte sie ein Wort, mißverstand einen Namen, und der Bleistift mühsam unter den Druck des Zeigefingers gezwungen, begann zu flattern, wild auf raschelndem Papier, der Klang eines gehörten Wortes zeugte ein ähnliches im Bewußtsein, drohend erhob sich am Ende des Diktats die unerläßliche Vorlesung des Stenogramms, und daran mußte Fini denken, während sie schrieb. An die nächste halbe Stunde, in der es sich erweisen sollte, wie kläglich das Diktat ausgefallen war, an die mißlungenen Sätze mit den verstümmelten Namen, die weggelassenen Paragraphen und verschobenen Prädikate. Es war, als hätte man ein verrücktes, wirbelndes Rad zu stenographieren; große, bunte Räder kreisten, wuchsen violett und rot gerändert aus dem Papier.
Dann erfolgte die Kündigung, notgedrungen, Entlassung auf der Stelle sogar. Rückkehr mit hängendem Kopf und Suchen in den kleinen Anzeigen des Morgenblattes. Warten in den Vorzimmern und sorgsames Kalligraphieren der gleichlautenden Offerten. »Punktum, Schluß!« schrie Doktor Finkelstein, »lesen Sie, schnell!« Aber an diesem wunderbaren Tage strömte Rettung, plötzlich dankbar empfangen, aus allen Türen. Nun klingelte jemand, und Exzellenz Helena trat ein, ihre Stimme klang hell, eine Siegesfanfare, in hellem Kleid rauschte sie mit dem kühngeschwungenen Hut voll jugendlicher Kornblumen. Aus einer merkwürdigen, großen Welt kam sie, aus der Welt der noblen Klientel; Leere war um sie, kein stenographierendes Mädchen und kein Bürodiener, durch Kleider und Körper drangen ihre Blicke, aus Glas war man selbst, ein durchsichtiger Gegenstand. Die tobende Wildheit Doktor Finkelsteins war dahin, Höflichkeiten stotterte er und empfahl sich bestens, den Sozius versprechend.
Einen Akt galt es zu suchen, einen verlorenen Akt. Exzellenz Helena kontra Ehegatten, und man suchte ihn unter H, verzweifelt, schnell, fünfmal durchblätterte Fini den Buchstaben H, bis Doktor Blum ungeduldig Tuschak rief, Exzellenz Tuschak. Unter T fand sich der Akt. Währenddessen saß Tilly eifrig gebeugt über raschelnden Papieren, Bleistifte spitzend, Radiergummis ordnend, Löschblätter schneidend, Briefmarken zählend; vergebens suchte Fini ihren Blick, den freundschaftlichen Blick, den Hilfe versprechenden – ein böses Ding war Tilly, sie stellte sich fleißig und ließ den Kameraden im Unglück. Es verdroß und tat weh, das Blut schoß in die Wangen, Fini fühlte, wie ein Strumpfband sich lockerte, aber ein rettender Griff nach dem Knie war verboten und hätte ein Jucken vorgetäuscht, das lockere Band und der rutschende Strumpf nahmen den letzten Rest von Haltung, Papiere stoben flatternd auseinander.
Dann folgte eine heilende Stille, keine Klingel weckte. Fini sah durchs Fenster, sah die langsame Turmuhr, das rote Kloster mit dem Wandelgang für die Nonnen im Park, die hin und her schritten, schwarz und weiß, fremde Geschöpfe im Jenseits hinter den roten Mauern, im Garten, im Vorhof der ewigen Seligkeit. Die Scheu vor den Bräuten Christi verschwand, und Fini schien es wunderbar im Garten des Klosters. Langsam rückten die goldenen Zeiger vor, Exzellenz Helena verrauschte, einen Augenblick stand Doktor Finkelstein noch da mit funkelnden Brillengläsern, dann ratterte er los mit der schwarzen Kappe und der flatternden Hochkrempe.
In den Straßen war der Frühling, es hatte geregnet, und die großen Kieselquadersteine leuchteten rot und bläulich, als spiegelte sich in ihnen ein Regenbogen. Frisch gewaschen war das Gras auf den Rasenbeeten, die Amseln standen schwarz in der Straßenmitte, Fini schlenderte langsam mit Tilly, heute schon erwachsen, unwohl und Frau. »Ich sehe schlecht aus«, sagte Fini. »Siehst du das nicht? Ich bin unwohl«, sagte Fini wie etwas Selbstverständliches und maß die Brüste Tillys, die unter der dünnen Bluse zitterten. Die Männer lächelten sie an, die jungen Männer, die beutegierig durch die Straßen gingen.
Bei Trillby lockte gelbes Eis, von zarten Waffeln überdeckt, in rundgeschliffenen Eiergläsern, die halben und ganzen Portionen auf marmornen Tischchen draußen, und die tiefen Korbsessel. Das Porto, das bitter verdiente, ging zur Hälfte drauf, ein Trinkgeld bekam die Kellnerin, und knapp ehe ein Einjähriger sich anschickte, aus der hinteren Ecke an den Tisch der Mädchen zu treten, standen sie auf und schritten, neu gestärkt und den Glanz der untergehenden Sonne vor sich auf den Gesichtern, um die Ecke.
Es duftet zu Hause nach süßen Dingen, die man für den heimkehrenden Vater bereitet, der Bruder Josef tobt – und als wären Jahrzehnte seit gestern vergangen, so füllt wieder die graue Unerbittlichkeit das Haus, die Treppe und die Mutter. Dahin ist die warme Bettheimlichkeit von gestern, die Mutter kommt forschend aus der Küche, Einzelheiten des Tagesablaufes will sie wissen, unablässig. Tief schneiden die Seufzer ihrer Unzufriedenheit ins Herz, die Nacht kommt und die geizige Petroleumlampe mit dem graublau angehauchten Glaszylinder, aus dem die Nachbarin Regen für morgen prophezeit.
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