Kitabı oku: «Nacht und Hoffnungslichter», sayfa 3
Es wird eingestiegen
In die Züge nämlich. In die Züge der Südbahn, wenn zufällig kein Streik ist. Und zwar wird durch die Wartesäle eingestiegen. In welche Züge? In die Züge Nummer 31 und 35.
In der Südbahnhalle prangt die schöne Stilblüte: »In die Züge 31 und 35 wird durch die Wartesäle eingestiegen.« Man kann gerade nicht behaupten, daß diese Tafel an Deutlichkeit etwas zu wünschen übrig ließe. Wann und wohin die Züge 31 und 35 abgehen? Natürlich, wann und wohin sie wollen. Hauptsache ist: das Durch-die-Wartesäle-Eingestiegen-werden.
Wie prächtig sich doch die deutsche Grammatik auf Wiener Verhältnisse anwenden läßt! Wo erscheint die leidende Form mehr angebracht als in der Südbahnhalle? In Wien streikt man nicht. Es wird gestreikt. In Wien verkehrt man nicht. Es wird verkehrt. In Wien fährt man nicht. Es wird gefahren. Hier steigt man nicht ein. Das ist eine physische Unmöglichkeit. Es wird in der Menge Tausender Passagiere eingekeilt, erstickt, erdrückt, geohnmachtet, gewartet: schließlich aufgemacht, geschoben, getragen, gehoben; und zum Schluß eingestiegen. In Anbetracht des betrübenden Umstandes, daß es nur wenigen gelingt, alle die leidenden Formen der deutschösterreichischen Grammatik bis zur letzten, das heißt: eingestiegen werden, durchzuhalten, schlage ich folgende Tafel vor:
»Vor dem Eingestiegen-werden in die Züge 31, 35 wird durch die Wartesäle des Südbahnhofes gestorben.«
Josephus
Der Neue Tag, 10.9.1919
KONSERVATIV
Knapp bevor man in die Lazarettgasse von der Spitalgasse einbiegt, befindet sich eine Haltestelle des 5er-Wagens. Ungefähr zehn Schritte weiter, ihr gegenüberliegend, in der Lazarettgasse eine Haltestelle des 15er, der durch die Lazarettgasse fährt. Hier mündet die 15er-Linie in die 5er ein, denn beide haben ein gemeinsames Ziel.
Die Tücke des Objekts: Spängler fügte es, daß, wenn ich an der Haltestelle des 15er-Wagens wartete, der 5er-Wagen zuerst kam. Wartete ich auf diesen, dann kam bestimmt der 15er. Ich beschloß, mich zu rächen, und ging zu Fuß. Dann kamen beide Wagen gleichzeitig.
Seit einiger Zeit ist statt der Haltestelle in der Spitalgasse eine Leinwand zu sehen, auf der mit riesengroßen Buchstaben angekündigt steht: Haltestelle verschoben! Man kann also an einer Haltestelle beide Wagen erwarten. Spängler hat die Tücke ausgeschaltet, indem er die Objekte zusammenrückte.
Nun blieb aber noch die Tücke jenes Subjekts, das in Wien wegen Kohlenmangels vor die Elektrische gespannt ist: die Tücke des Amtsschimmels. Besagtes Subjekt bleibt natürlich dort stehen, wo die Leinwand in riesengroßen Lettern verkündet: Haltestelle verschoben!
Tiefer Sinn aller Wiener Reformen wird hier offenbar: In eine knappe Definition gefaßt, heißt er: Verschoben ist nicht aufgehoben! Dagegen: Aufgehoben ist aufgeschoben!
Die Haltestelle wurde verschoben. Also bleibt der Wagen stehen. Denn die Haltestelle ist nicht aufgehoben. Aufgeschoben ist dagegen die Aussicht, beide Wagen an einer Haltestelle zu erwarten. Nicht aufgehoben ist die Möglichkeit, daß beide zugleich kommen und man infolgedessen zu Fuß geht. Also was ist eigentlich wirklich aufgehoben? Die Aussicht auf einen Erfolg verschobener Reformen! …
Der Schuß um Mitternacht
Ehe ich in die Custozzagasse einbog, ertönte ein Schuß. Es hatte zwölf Uhr geschlagen, und ein Schuß, der der Mitternachtsglokke sozusagen auf dem Klöppel folgt, wirkt in der Custozzagasse nicht aufmunternd. Ich gestehe meine Feigheit. Ich blieb stehen und suchte nach jenem, was man nie findet: einem Wachmann.
Ich wartete eine Viertelstunde. Als es ein Viertel schlug und ich berechnet hatte, daß derjenige, den der Schuß getroffen, schon längst tot sein und jener, der ihn abgegeben hatte, verschwunden sein mußte, entschloß ich mich, in die Custozzagasse einen Blick zu werfen. Ein Blick konnte nicht schaden. Ein Blick kann nicht getroffen werden.
Also warf ich einen Blick. Er fiel auf zwei patroullierende Stadtschutzleute. Ich war getröstet: Nun ist alles in Ordnung. Der Schwerverletzte in ärztlicher Obhut, der Attentäter in Gewahrsam. Oh, unsere brave Stadtschutzwache! Ich beschloß, die beiden Wackeren zu befragen und ihnen nach Feststellung des Tatbestandes die Hand zu drücken. Also fragte ich: wie, wo, woher?
Darauf zog der eine einen Revolver und sagte: Tadellos: Dös is a neicher italiänischer! Mir ham ihn scho ausprobiert!
Und der zweite sagte: Der geht guat!
Worauf ich ging und über den Wandel der Zeiten nachdachte: Nachtwächter, die lärmen; die Landstraße als Scheibenschießplatz; das Auge des Gesetzes, das zielt, statt zu wachen; ein neugegründeter Sicherheitskörper, der andere Körper in Unsicherheit bringt; italienische Revolver als Beute der Schlacht bei Custozzagasse; und manches andere dachte ich.
Von meiner Angst bei nächtlichen Revolverschüssen bin ich geheilt. Ich denke mir: A neicher italiänischer!
Josephus
Der Neue Tag, 12.9.1919
DIE FOLGEN
Ein Kellner trug eine Tasse Tee über die Straße. Ein dreimal gewendet aussehender, herabgekommener Fixbesoldeter kam dem Frühstück in den Weg und war so überrascht von dem lang entbehrten Anblick, daß er, offenbar aus dem Wunsche heraus, von der Teetasse getrunken zu werden, an diese anstieß und sie dem Kellner aus der Hand schlug, so daß sie aufs Pflaster fiel und klirrend zerschellte. Darob Streit zwischen dem Kellner und dem Fixbesoldeten. Der Kellner behauptete, der dreimal gewendete Herr müsse zahlen. Dieser, daß eine über die Straße lustwandelnde Teetasse öffentliches Ärgernis errege, insbesondere, wenn die Gefahr besteht, daß ein Fixbesoldeter ihr begegnen könnte. Unter den Wienern, die zur Stunde, da dies geschah, sozusagen zur Arbeit eilten, bildeten sich zwei Gruppen, die den Fall der Teetasse lebhaft diskutierten. Die einen schrien, der Herr müsse das ruinierte Frühstück bezahlen. Die anderen hielten dawider, daß einem ruinierten Herrn viel eher ein Frühstück bezahlt werden müßte. Der Streit tobte mit unausgesetzter Heftigkeit etwa fünf Minuten. Plötzlich fiel das Wort »Tepp, blöda« mit dumpfem Knall in das Tosen des Streits. Der also Getroffene wich nicht, sondern erhob die Rechte, wog sich ein paarmal hin und her und schleuderte schließlich ein kräftiges »Rotzbua!« zurück. Unter den Wienern, die zu jener Stunde sozusagen zur Arbeit eilten, bildeten sich zwei Gruppen: die eine für den Teppen, die andere für den Rotzbua. Der Fall komplizierte sich zu einem gordischen Knoten. Da kam seltsamerweise ein Wachmann und erklärte beide Schützen für verhaftet. Die Teetasse, deren Scherben noch auf dem Pflaster lagen, hieß er zurückbleiben. Der Fixbesoldete und der Kellner waren verschwunden. Verhaftet wurden zwei Wiener, die sozusagen zur Arbeit geeilt waren.
Denn so ist der Lauf jedes Wiener Geschehens: Die Ursachen verschwinden, und die Folgen ziehen sich in die Länge. Scherben hinterläßt jedes Ereignis. Einer zerschlug eine Tasse, und der andere wollte sie bezahlt bekommen. Zwischen beiden entspann sich ein Streit. Aber die Logik der Wiener Lokalchronik fügt es, daß zwei andere verhaftet werden. Die Folge der Existenz eines Fixangestellten und einer Teetasse war ihr Fall, die Folge des Falles ein Rechtsstreit, die Folge des Rechtsstreits das Verschwinden seiner Urheber, und da diese nicht mehr waren – mußten natürlich zwei andere streiten. Überflüssig war nur der Wachmann. Aber sollte er etwa dort erscheinen, wo er notwendig ist? …
Nein!
Denn ein Wachmann ist, wie schon sein Titel besagt, ein Mann, der bewachen soll. Nun wäre z. B. das Friedrichspalais an der Albrechtsrampe zu bewachen. Es enthält zahlreiche wertvolle Gemälde und andere Kostbarkeiten. Und solange die Monarchie war und der Erzherzog Friedrich, machte der Wachmann seinem Titel Ehre und stand vor dem Friedrichspalais. Ich dachte, das wäre eine Ehrenwache. Denn der Wachmann vor dem Friedrichspalais schien mir noch – sagen wir: wachmännischer – als seine Kollegen. Seine weißen Handschuhe hauchten Festlichkeit. Seine Metallknöpfe glänzten Würde. Seine Haltung war die eines Kandelabers. Er war gewiß eine Ehrenwache.
Aber einmal war der Erzherzog Friedrich weg, und der Wachmann stand dennoch vor dem Palais. Aha! Dachte ich, er bewacht also doch die Schätze!
Seit der Einführung der Republik ist der Wachmann verschwunden. Zwar sind ja wertvolle Gemälde und Kostbarkeiten geblieben. Aber Friedrich ist fort!
Der Wachmann war doch eine Ehrenwache. Warum war er aber auch in Friedrichs Abwesenheit auf seinem Posten gestanden? Eben nicht als Ehrenwache, sondern als Bewachungsposten. Denn solange Friedrich Erzherzog war und die Monarchie eine Monarchie, mußte man Schätze bewachen. Jetzt, denkt die Behörde, da der Erzherzog – Friedrich ist und die Monarchie Republik heißt, können sie uns gestohlen werden. Um sich republikanisch zu erweisen, schaffte sie den Ehren- und Bewachungsposten vor dem Friedrichspalais ab. Den Friedrich konnte man noch zur Not bewachen. Die Schätze nicht. Würde man diese bewachen, so würden die Leute glauben, man bewache jenen. Mit Recht: Denn wann hatte man schon in Wien etwas Wertvolleres als einen Friedrich bewacht? Doch nur, nachdem es gestohlen worden war! …
Josephus
Der Neue Tag, 28.9.1919
ZWEI
Ein Pferd war wieder einmal so unvernünftig gewesen, auf dem holprigsten Pflaster einer engen Gasse zusammenzubrechen. Es lag keuchend und schweratmend da. Sein Fell war naß vom Schweiß, und die Haare bildeten kleine, feuchte Borstenbüschel.
Rings um den gestürzten Gaul stand das »Volk«; ein Konglomerat aus Schaulust und Arbeitslosigkeit. Das Pferd schielte mit seinem großen triefenden Auge durch die obere Spalte der Scheuklappe verächtlich auf die Menge, die ihm noch seine letzte Stunde verbitterte. Das Volk hatte so etwas wie eine Vision vom Tode: »Dös halt’s nimmer aus!«; »A Stund’ no!«; »Recht hat er!« Ein Philosoph sagte: »Das Gescheiteste, was a Vieh heutzutag’ machen kann, bei die Futterpreise!« In den Mienen der Leute glänzte Bewunderung für das Pferd, das die Weisheit besaß zu krepieren. Ein hagerer Mensch in einem schwindsüchtigen Rock, dessen Hals innerhalb der Grenzen eines blaukarierten Kragens ratlos herumirrte wie ein Federstiel in einem weiten, leeren Tintenfaß, bekam allmählich die Physiognomie des personifizierten Neides. Er machte unbewußt die Todeszukkungen des Pferdes mit und schien jeden Augenblick sich auf das Pflaster hinlegen zu wollen. Die Augen der umstehenden bekamen alle denselben gläsernen Schimmer. Es war schließlich nur ein Augenpaar. Die Augen des Volkes, eines Konglomerats aus Schaulust und Arbeitslosigkeit, aus Hunger und Neid. Die Augen schillerten böse: Der hat’s überstanden. Warum sind wir keine Gäule?
Als das Pferd schließlich seinen letzten Atemzug getan hatte, zerstreute sich die Menge, traurig, unsagbar traurig. Nicht über den Tod des Tieres, sondern über ihren eigenen Fortbestand.
Als ich in die nächste Gasse einbog, sah ich ein vor einem Rinnstein zusammengebrochenes Wesen. Sein Gesicht hatte die Züge des Pferdes, das ich soeben sterben gesehen. Aber es war zufällig ein Mensch. Auch »bei die Futterpreise!« im Sterben begriffen. Ringsum war kein Atom von »Volk« zu sehen. Nur ein Hund, der sich mehr zum Rinnstein hingezogen fühlte, schnupperte an dem Knochenhäuflein herum. Ein Mensch war zusammengestürzt. Kein Pferd kümmerte sich um ihn.
Denn die Pferde sind weise und sterben mitten auf dem holprigen Pflaster. Ein Mensch sucht sich eine stille Straßenecke. Mit Recht: Denn wenn er selbst mitten auf dem Ring stürbe, kein »Volk« würde ihn beneiden. Daß ein Pferd stirbt, selbst »bei die Futterpreise«, ist immer noch eine Sehnswürdigkeit. Aber daß ein Mensch stirbt, ist »bei die Futterpreise« schon selbstverständlich.
Papier
Das ist die Materie, die allgegenwärtig und unüberwindbar den Leitartikel wie eine Fahne über dem Jammer unserer Gegenwart schwingt. Letzter Zweck allen Geschehens ist: auf Papier mitgeteilt zu werden. So gewinnt die Mitteilung die Herrschaft über die Geschichte. Die Mitteilung macht Geschichte.
Der Krieg zeitigte eine besondere Erscheinungsform der Mitteilung: die außerordentliche Mitteilung, im Jargon der großen Zeit »Extra-Ausgabe« genannt. Die »Extra-Ausgabe« bewirkte eine Zeitlang Ereignisse, indem sie sie mitteilte. Dann aber wuchsen die Ereignisse der »Extra-Ausgabe« über den Kopf. Denn eine höhere Macht, das Pressequartier, schuf die Ereignisse, d. h. den Heeresbericht. Und diesen brachte die Extra-Ausgabe, keine außerordentliche mehr, sondern eine ordentliche Mitteilung.
Dennoch konnten sich die Leute der Macht des Papiers nicht entziehen. Der Ruf »Extra-Ausgabe!« betäubte den Zweifel. Der Glaube an das Papier blieb aufrecht bis zum Zusammenbruch des Pressequartiers und dem ganz unvorhergesehenen Kopfsprung der Geschichte, der es plötzlich eingefallen war, ein Ereignis ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Pressequartier zu zeitigen.
Nun bleibt die Extra-Ausgabe aus. Ich hielt sie für tot, erledigt, aber vorgestern sprang sie wieder, munter und lebendig, mitten im Grabenkorso aus dem Munde eines Kolporteurs unter die Leute. Sie hatte wieder Geschichte gemacht. Sie meldete die Ermordung des Königs von Italien. Und die Leute rissen sich um die Mitteilung. Sie kostete achtzig Heller. Aber der Ruf betäubte den Zweifel. Das Papier, das fünf Jahre lang die Menschen belogen und betrogen, hat seine Macht nicht eingebüßt. Siegreich aus dem Schutt der Vernichtung erhebt sich das Papier auf dem Schwingen der Extra-Ausgabe.
Josephus
Der Neue Tag, 6.10.1919
DIVERGENZEN
Ohne die Uhr am Stephansplatz wäre ich kein Schriftsteller. Die Stephansturmuhr ist eines meiner unumgänglich notwendigen Schriftstellerrequisiten. Wenn ich schon gar keinen Stoff habe, so gehe ich zu meiner Stephansturmuhr. Sie hat immer irgendeine Liebenswürdigkeit für mich parat in ihrem Uhrgehäuse. Ich besuche sie regelmäßig, ungefähr wie man eine alte Tante besucht, von der man weiß, daß es nicht ganz richtig mit ihr ist, daß sie aber dennoch irgendwelche Leckerbissen im Schrankfach hat.
Es ist immer irgendwas kaputt an der Stephansuhr. Sehr oft steht sie, manchmal geht sie falsch, fast immer zurück, als sehne sie sich nach vergangenen, guten alten Zeiten. Seit einigen Wochen hat sie eine gar wunderliche Laune: Ihre linke Gesichtshälfte, dort, wo die Ziffern immer so wunderbar springen, kümmert sich einen Schmarrn um die rechte, auf der das Ziffernblatt mit den Zeigern angebracht ist. Künden die Zeiger rechts halb zehn, so sagen die Ziffern links dreiviertel neun. Ich glaube, die gute Tante Stephansuhr weiß ganz gut, was sie will. Als ein Wiener Symbol fühlt sie die Verpflichtung, ein Wiener Symptom zu werden. Sie kündet nicht die Zeiten der Stunde, sondern gleich die der ganzen Zeit. Sie spielt Verordnung und Erfolglosigkeit, Erlaß und Widerruf, Nachricht und Dementi. Sie sagt: Nur nicht alles gleich ernst nehmen in Wien! Es kommt immer ganz anders …
Josephus
Der Neue Tag, 8.11.1919
VERWIRRUNG
Der Gasautomat ist ein bescheidenes Möbelstück. Er birgt sich im Vorzimmer, hinter der Tür, schwarzlackiert und unscheinbar und nur mit einem Messingstreifen als schüchterner Verzierung an der Stirn.
Der Gasautomat hat einen Mund. Eine schmale Ritze. Mit diesem Werkzeug pflegte der Automat Sechserln aus Nickel oder Eisen zu verschlingen. Die Köchin machte sich immer im Dunkel des Vorzimmers zu schaffen. Sie suchte den Mund des Gasautomaten. Es war ein zärtliches Verhältnis zwischen der Köchin und dem Gasautomaten.
Wenn der Automat hungrig war, verdunkelte sich plötzlich das Zimmer. Die Gaslampe begann grünlich-gelb zu schimmern wie einer, dem es schlecht wird. Das feinkarierte Netz im Zylinder wurde mit allen Fäserchen sichtbar wie die Kulisse in der Oper, wenn Gretchens Bild am Spinnrad dahinter erscheint. Die Gesichter der Menschen waren wie von einem überirdischen, seltsam mystisch-grünen Scheinwerfer übertüncht. Selbst der Kanarienvogel zwischen dem Rhododendron und der Fensternische begann angsterfüllt zu zwitschern, schlug mit den Flügeln und machte einen Wind. Es war ganz wie bei der Sonnenfinsternis.
Die Damen begannen in den Täschchen zu kramen, die Herren steckten sämtliche greifbaren Daumen und Zeigefinger in die Westentaschen. Irgendwo erschien auf dem Tische ein Sechserl. Die Tochter des Hauses verschwand im Dunkel des Vorzimmers. Ein klapperndes Geräusch zeigte die Vollendung ihres Sündenfalles an. Die Köchin barst vor Eifersucht.
Alles das hat sich nun seit einiger Zeit geändert. Der Mangel an Sechserln veranlaßte die Direktion der städtischen Wasserwerke, die Gaspreise zu erhöhen. Man müßte nun eigentlich eine Papierkrone in den Mund des Automaten stecken. Der aber will von einer Krone nichts wissen. Er kann die Valuta nicht verdauen. Er will immer noch nur ein Sechserl, das mehr wert ist als eine Krone.
Früher pflegte ein Mann mit einem rätselhaften Schlüssel und einer großen Bierträgertasche zu kommen. Er kniete vor dem Gasautomaten und pumpte ihm den Magen leer. Alle Sechserln wanderten in die Tasche. Die Verdauung des Gasautomaten war geregelt.
Nun ist die Kasse offen. Der Gasautomat läßt sich betrügen. Es ist eine Schmach.
Man wirft ein Sechserl hinein, der Automat glaubt daran und funktioniert gewissenhaft.
Aber dann holt man unten das Sechserl wieder heraus und steckt es wieder in den Mund des Automaten.
Nach einem Monat kommt ein Mann mit einem Bleistift und einer Rechnung. Er zählt am Bauch des Automaten ab, wie oft dieser getäuscht wurde, und kassiert die Zahl der illusorischen Sechserln in Kronenwährung ein.
Ein Kubikmeter Gas kostet eine Krone, der Automat gibt ihn aber nur für ein Sechserl her. Aus Dankbarkeit entlockt man diesem immer wieder sein Geld und zahlt es dafür in Kronen einem Dritten. Ein Kubikmeter Gas kostet also in Wirklichkeit ein Sechserl, das heißt weniger als eine Krone. Eine Krone will der Automat nicht, weil ein Sechserl mehr ist als eine Krone.
Oh, welche Verwirrung! …
Josephus
Der Neue Tag, 27.11.1919
DIE HEILIGE FLAMME
Ich hatte einen riesigen Appetit auf eine Pfeife, und, was mehr ist, ich hatte eine Pfeife bei mir und in meinem Tabakbeutel gerade genug Tabak oder dergleichen, um meine Pfeife zu stopfen.
Ich stopfte sie. Aber natürlich hatte ich kein Zündholz. Ich hielt einen bepelzten Passanten an, den ich rauchen sah.
»Ich bitte um Feuer!«
Er war sogar ganz liebenswürdig, aber er sagte:
»Ja, Zündhölzeln hab’ ich keine net, ich mußte mir eh schon eine Zigaretten an der vorigen anzünden.«
Ich erkannte, daß er schob, bat ihn aber dennoch, mich meine Pfeife an seiner Zigarette anzünden zu lassen.
Er sagte: »An Ihnerer Stinkpfeifen wer’ ich mir meine Khedive verstänkern!«
Ich seufzte, leerte den Inhalt der Pfeife wieder in den Tabakbeutel und dachte: Im Büro wird der Ofen brennen.
Ich hatte so einen Appetit auf eine Pfeife. Schon auf der Treppe stopfte ich sie mir wieder. Ich dachte: Ich stecke einen Fidibus in den Büroofen –––
Aber der Ofen war nicht geheizt.
Ich fragte den Bürodiener: »Habt ihr denn kein Zündholz, um den Ofen anzuzünden?«
Er sagte: »O ja, aber kein Heizmaterial.«
Ich freute mich: »Also, bitte, geben Sie mir ein Zündholz.«
Er sagte: »Der Herr Direktor hat mir die Zündholzschachtel abverlangt, weil wir eh nicht heizen können.«
Ich stopfte meine Pfeife und ging zum Herrn Direktor hinein, bat ihn um Feuer.
Der Herr Direktor schrie mich an: »Nächstens werden Sie sich ein Hemd bei mir ausbogen wollen. Wertgegenstände wie Füllfedern und Zündhölzer borgt man nicht her.«
Traurig ging ich und entstopfte wieder meine Pfeife. In der Tür hörte ich, wie der Herr Direktor vor sich hinsagte: »Ich habe gedacht, er will einen Vorschuß haben. Aber wenn er mich so belästigt ––«
Ich dachte: »Der Kollege Pimplhuber ist immer glänzend mit Rauchmaterial versehen. Vielleicht ––«
Ich stopfte hoffnungsvoll meine Pfeife und ging zum Kollegen Pimplhuber. Er sagte: »Geh, das ist fad! Eben wollte ich zu dir kommen, ob du Feuer hast. Ich wollte dir sogar eine Trabuco dafür schenken ––«
Ich entstopfte meine Pfeife, stopfte sie aber von neuem und ging zum Kollegen Huberdimpfel. Er ist wegen seiner sozialen Anschauungen bekannt.
Der Kollege Huberdimpfel sagte: »Ich habe nur ein Zündholz, aber das will ich bürgerlich mit dir teilen.« Er brach es in genau zwei gleich große Hälften und gab mir die untere ohne den Kopf.
Ich entstopfte meine Pfeife und überlegte. Im Café Kolossal verkauft der Ober Zündhölzer, die Schachtel zu einer Krone zwanzig. Ich habe noch vier Kronen im Vermögen. Eine Krone fünfzig kostet der Tee ohne, dreißig Heller kriegt der Ober Trinkgeld ––
Ich ging ins Café Kolossal, bestellte einen Tee ohne, kaufte dem Kellner eine Schachtel Zündhölzer ab, zog mit einem Seufzer der Befriedigung Pfeife und Tabakbeutel ––
– und bemerkte, daß bei dem vielen Stopfen und Entstopfen allmählich mein bißchen Tabak verloren gegangen war.