Kitabı oku: «Dialektik der Ordnung», sayfa 4
Soziale Erzeugung moralischer Unsichtbarkeit
Bisher haben wir uns um die Rekonstruktion jener sozialen Mechanismen bemüht, die »animalisches Mitleid ausschalten«; um die soziale Erzeugung seines Verhaltens, das angeborenen moralischen Hemmungen entgegenwirkt und das Individuen, die im Sinne der »Normalität« keineswegs »moralisch degeneriert« sind, in Mörder oder vorsätzlich handelnde Komplizen zu verwandeln vermag. Die Erfahrung des Holocaust deckt nun noch einen weiteren sozialen Mechanismus auf; dieser ist in seinen Möglichkeiten noch weit gefährlicher, da er eine viel größere Anzahl von Menschen als Täter in den Genozid einbezieht, ohne daß diese dabei bewußt mit schwierigen moralischen Entscheidungen oder quälenden Gewissensfragen konfrontiert würden. An moralischen Fragen entzünden sich immer dann keine Kontroversen, wenn die moralische Dimension des Handelns nicht erkennbar ist oder deren Aufdeckung oder Diskussion bewußt vermieden wird. Anders formuliert: Die moralische Dimension des Handelns kann unsichtbar sein oder bewußt verschleiert werden.
In diesem Zusammenhang ein weiteres Zitat von Hilberg: »Man muß sich bewußt machen, daß die meisten Mittäter [des Holocaust] keine Gewehre auf jüdische Kinder abfeuerten oder Gas in die Gaskammern leiteten … es waren Bürokraten, die Schriftsätze formulierten, Zeichnungen anfertigen, die telefonierten und an Besprechungen teilnahmen. Sie betrieben die Vernichtung eines ganzen Volkes von ihren Schreibtischen aus.«32 Das wenige, was man von den Konsequenzen oder vermeintlich harmlosen Geschäftigkeit wußte, war schnell verdrängt. Kausale Zusammenhänge zwischen bürokratischem Handeln und dem Massenmord ließen sich nur schwer entdecken. Es galt moralisch nicht als verwerflich, einer vermeintlich natürlichen Neigung nachzugeben und sich nicht über Gebühr Gedanken zu machen, die Konsequenzen des eigenen Tuns nicht bis zum Ende weiterzudenken. Wer nicht verstehen kann, wie derartige moralische Blindheit überhaupt möglich ist, denke nur an unsere Zeit: Die Beschäftigten einer Waffenfabrik feiern einen »arbeitsplatzsichernden« Rüstungsauftrag, um abends vor dem Fernsehschirm ehrlich erschüttert über die Massaker zwischen Äthiopiern und Eriträern zu sein; oder man denke daran, daß »fallende Rohstoffpreise« als gute Nachricht begrüßt werden, während man über »hungernde Kinder in Afrika« tief bestürzt ist.
Vor einigen Jahren prägte John Lachs den Begriff der Mediatisierung, der Vermittlung des Handelns, für eines der herausragendsten und folgenreichsten Merkmale der modernen Gesellschaft: Handlungen werden von einem Dritten ausgeführt, der »zwischen mir und den Folgen meines Tuns steht, so daß diese mir verborgen bleiben«. Zwischen Plan und Ausführung entsteht eine Distanz, die mit einer Unzahl minutiöser Handlungen von Befehlsempfängern ausgefüllt ist, die jeder Verantwortung enthoben sind. Die »Mittelsmänner« schirmen die Folgen der Handlungen vor den Handelnden selbst ab.
Das Resultat ist, daß es viele Handlungen gibt, für die niemand mit vollem Bewußtsein Verantwortung übernimmt. Für den Auftraggeber existieren sie nur als Wort oder in der Vorstellung; er betrachtet sie nicht als die eigenen, weil er ihre Ausführung nicht miterlebt. Der Mann, der sie tatsächlich ausführt, identifiziert sich andererseits nicht damit, weil er glaubt, selbst nur das schuldlose Instrument fremden Willens zu sein…
Ohne die unmittelbare Erfahrung der Konsequenzen eigenen Handelns agiert auch der Untadeligste in einem moralischen Vakuum: die abstrakte Kenntnis des Bösen ist weder ein zuverlässiger Leitfaden noch ein hinreichendes Motiv … wir sollten über das Ausmaß der weitgehend nicht vorsätzlichen Grausamkeit an sich unbescholtener Menschen nicht überrascht sein…
Bemerkenswert ist, daß wir durchaus in der Lage sind, falsches Handeln und schreiende Ungerechtigkeit als solche zu erkennen. Was bestürzt, ist, wie es dazu kommen konnte, wenn jeder einzelne eigentlich nur harmlose Dinge tat … Es fällt schwer zu akzeptieren, daß es häufig weder einen einzelnen noch eine Gruppe gibt, die verantwortlich sind. Noch schwerer fällt es zu akzeptieren, daß das eigene Handeln an anderer Stelle Leiden verursacht hat.33
Die wachsende physische und psychische Distanz zwischen dem eigenen Handeln und dessen Folgen bewirkt nicht nur, daß moralische Hemmungen wegfallen, sondern verschleiert auch die moralische Tragweite des Handelns und verhindert auf diese Weise das Auseinanderbrechen von individuellen ethischen Grundsätzen und den sozialen Konsequenzen der Handlung. Indem die meisten sozial signifikanten Handlungen durch eine lange Kette komplexer Kausal- und Funktionszusammenhänge vermittelt sind, rücken moralische Probleme aus dem Blickfeld, denn es bietet sich nur selten die Gelegenheit zu Überprüfung und bewußter moralischer Entscheidung.
Ein psychologischer Effekt von noch größerer Tragweite wird dadurch erzielt, daß die Opfer selbst unsichtbar sind. Es handelt sich hier um einen der wichtigsten Faktoren für die Eskalation menschlichen Leidens in der modernen Kriegsführung. Nach Ansicht von Philip Caputo entwickelt sich das Ethos des Krieges »mit zunehmender Distanz und Technologie. Wer andere mit hochentwickelten Waffen über große Entfernung tötet, macht sich nicht schuldig«34. Töten »auf Distanz« beläßt den Zusammenhang zwischen Blutvergießen und den dafür nötigen harmlosen Handgriffen – wie etwa das Bestätigen eines Auslösers, eines Stromschalters oder einer Computertastatur – auf einer rein theoretischen Ebene, nicht zuletzt weil die Diskrepanz von Resultat und direkter Ursache schon von der Größenordnung her das normale Vorstellungsvermögen übersteigt. Wie sonst hätten Piloten Bomben über Hiroshima und Dresden abwerfen können, wie sonst kann man gewissenhaft Dienst in einer Raketenbasis tun oder immer umfassendere atomare Sprengköpfe entwickeln – ohne daß darüber die ethische Grundauffassung ins Wanken (oder gar zum Zusammenbruch) käme (die Unsichtbarkeit der Opfer war sicherlich auch für Milgrams berühmte Experimente eine wichtige Voraussetzung). Bedenkt man die Unsichtbarkeit der Opfer, begreift man besser, wie es zu der schrittweisen Vervollkommnung der Vernichtungsethik des Holocaust kommen konnte. Die Einsatzgruppen* trieben die Opfer vor den Maschinengewehren zusammen und erschossen sie aus relativ kurzer Entfernung; der Abstand zu den Gräben, in die die Ermordeten dann fielen, wurde zwar relativ groß gehalten, die Schützen konnten jedoch die Folgen ihres Tuns nicht übersehen. Die Organisatoren der Vernichtung hielten diese Methode daher auch für primitiv, ineffizient und potentiell schädlich für die Moral der Ausführenden. Andere Mordmittel wurden gesucht, bei denen der Sichtkontakt zwischen Mörder und Ermordeten unterbrochen war: zunächst die Gaswagen, dann die Gaskammern. Die Gaskammer reduzierte – in der von den Nazis prefektionierten Form – die Rolle des Mörders auf die eines »Sanitätsoffiziers«, der lediglich einen Sack »Desinfektionsmittel« in einen dafür vorgesehenen Schacht auf dem Dach des Gebäudes schüttete, ohne es jemals selbst betreten zu müssen.
Die technisch-administrative Effizienz des Holocaust erklärt sich zum Teil auch aus der geschickten Verwendung »moralischer Beruhigungsmittel«, wie sie die moderne Bürokratie und Technokratie bereithalten. Die mangelnde Transparenz von Kausalzusammenhängen in komplexen Interaktionsnetzen und die »Distanzierung« abstoßender und moralisch verwerflicher Konsequenzen bis hin zur Nichtsichtbarkeit für die Täter spielten dabei eine entscheidende Rolle. Die Nazis entwickelten eine dritte, vielleicht noch raffiniertere Methode, die sie zwar ebenfalls nicht selbst erfunden hatten, die sie jedoch zu einem bis dahin unbekannten Grad perfektionierten: die Dehumanisierung der Opfer. Die sozio-psychologischen Faktoren, die für die furchtbare Effizienz dieser Methode ausschlaggebend waren, sind weitgehend in Helen Feins Konzept eines »Bezugssystems von Verpflichtungen« (universe of obligation) enthalten. Fein definiert dieses als »Kreis von Personen, die eine wechselseitige Schutzverpflichtung haben, hergeleitet aus der speziellen Beziehung zu einer Gottheit oder geheiligten Quelle der Macht«35. Dieses »Bezugssystem« ist ein soziales Terrain, innerhalb dessen moralische Regeln Gültigkeit haben, die außerhalb dieser Grenzen jedoch ebenso ihre Verbindlichkeit verlieren wie Gewissensentscheidungen ihre Legitimation. Um die Menschlichkeit der Opfer zu zerstören, genügt es, diese aus dem »Bezugssystem« auszugrenzen.
Nach den Maßstäben des alles überragenden Wertes der nationalsozialistischen Weltanschauung, des Rechts auf Deutschsein, ließen sich die Juden aus dem »universe of obligation« ausgrenzen, indem man ihnen die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft aberkannte. Hilberg formuliert schneidend: »In dem Augenblick, als Anfang 1933 ein Beamter erstmalig die Definition für ›Nicht-Arier‹ in einer Verordnung niederlegte, war das Schicksal der europäischen Juden besiegelt.«36 Um aber die Kooperation (oder auch nur Passivität oder Gleichgültigkeit) der europäischen Staaten zu erlangen, bedurfte es anderer Mittel. Der Ausstoß der Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft mochte für die SS hinreichen, weckte jedoch selbst bei den Nationen, die insgeheim mit den Zielen der neuen Beherrscher Europas sympathisierten, Furcht und Mißtrauen. Als nicht mehr Deutschland allein, sondern ganz Europa judenfrei* werden sollte, mußte der Ausstoß aus der Volksgemeinschaft ersetzt werden durch die Entmenschlichung an sich. Franks Vorliebe für das Bild vom »jüdischen Ungeziefer« und der Wandel in der rhetorischen Behandlung der »Judenfrage« vom »Schutz der Rasse» zur »Säuberung» und »politischen Hygiene« gehörten ebenso dazu wie die vor Typhus warnenden Plakate an den Mauern der Ghettos und der Name der Firma, die das Gift für die Massenvernichtung lieferte: Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung*.
Die moralischen Konsequenzen des Zivilisationsprozesses
Es gibt in der Soziologie verschiedene Konzepte für den Zivilisationsprozeß, doch das geläufigste nennt zwei Kernpunkte: Der Zivilisationsprozeß unterdrückt irrationale und im wesentliche antisoziale Triebe und drängt die Gewalt unwiderruflich, wenn auch nur allmählich aus dem sozialen Leben (genauer: der Zivilisationsprozeß konzentriert die Gewalt unter der Kontrolle des Staates, der das Machtmonopol zur Sicherung der Außengrenzen der nationalen Gemeinschaft und der sozialen Ordnung nutzt). Die beiden Kernpunkte werden in einer zivilisierten Gesellschaft – zumindest nach westlich-moderner Auffassung – durch eine moralische Kraft zusammengehalten. Institutionen kooperieren und ergänzen einander bei der Durchsetzung einer normativen und durch Gesetze geregelten Ordnung, die ein in vor-zivilisierten Gesellschaften unbekanntes Maß an sozialem Frieden und Sicherheit des einzelnen garantieren.
Diese Vorstellung ist nicht grundsätzlich falsch, wirkt in Kenntnis des Holocaust jedoch naiv und einseitig. Zwar sind in diesem Zusammenhang wichtige historische Entwicklungslinien offenbar geworden, die Untersuchung nicht minder folgenreicher Tendenzen wurde aber vernachlässigt. Man konzentrierte sich auf einen einzigen Aspekt des historischen Zivilisationsprozesses und zog eine willkürliche Trennungslinie zwischen Normalität und Anomalie. Verstörende Aspekte der Zivilisation wurden kriminalisiert und mit ihrem zufälligen, vorübergehenden Charakter erklärt; gleichzeitig überging man die auffallende Kongruenz zwischen einigen konstitutiven Merkmalen dieser ausgegrenzten Phänomene und den normativen Annahmen der Moderne. Die Kontinuität des alternativen, destruktiven Potentials des Zivilisationsprozesses blieb weitgehend unbeachtet, Theoretiker, die auf die Doppelgesichtigkeit moderner sozialer Ordnungen hinwiesen, wurden ignoriert und ins Abseits gerückt.
Die wichtigste Lehre aus dem Holocaust muß sein, diese Kritik ernst zu nehmen und das Modell des Zivilisationsprozesses derart zu erweitern, daß dessen Tendenz zur Entkräftung ethischer Motive für soziales Handeln deutlich wird. Man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der Zivilisationsprozeß unter anderem den Einsatz von Gewalt aus dem Bereich moralischen Entscheidens herausgelöst und die Anforderungen der Rationalität von ethischen Normen und moralischen Skrupeln befreit hat. Das Vordringen der Rationalität auf Kosten anderer möglicher Handlungskriterien und insbesondere die Tendenz, rational begründbare Gewaltanwendung zuzulassen, ist schon früh als konstitutives Merkmal der modernen Zivilisation erkannt worden. Phänomene von der Dimension eines Holocaust sind daher als gesetzmäßige Folgen des Zivilisationsprozesses und als dessen latentes Potential zu betrachten.
Max Webers erhellende Darstellung der Bedingungen und Mechanismen des Rationalismus enthüllt, mit nachträglicher Einsicht gelesen, wichtige und doch bisher weitgehend unterschätzte Zusammenhänge. Die Bedingungen rationaler Geschäftsführung – wie etwa die bekannte Trennung zwischen privatem Haushalt und Wirtschaft, Privateinkommen und öffentlichen Ausgaben – bergen zugleich bedrohliche Tendenzen, da sie zweckorientiertes, rationales Handeln von der Berührung mit anders (das heißt irrational) gesteuerten Prozessen isolieren und so eine Immunisierung vor potentiell hemmenden Faktoren wie Hilfsbereitschaft (gegenseitiger Unterstützung), Solidarität, gegenseitigem Respekt bewirken können, die den Bereich nichtwirtschaftlicher Gebilde bestimmen. Diese Tendenz zur Rationalisierung tritt uns in der modernen Bürokratie idealtypisch systematisiert und institutionalisiert entgegen. Liest man Max Weber aus heutiger Sicht, so ist die Ausschaltung moralischer Aspekte eines der Hauptanliegen der Bürokratie, ja sogar die Grundvoraussetzung für deren Erfolg als Koordinationsinstanz rationalen Handelns. Und das schließt die Kapazität zur Erzeugung Holocaust-ähnlicher Lösungen ein, die im Rahmen der alltäglichen Problembewältigung vollzogen werden.
Jede Neuformulierung der Theorie des Zivilisationsprozesses in diese Richtung erfordert notwendig eine Neubesinnung der Soziologie selbst. Art und Stil der Soziologie haben sich der modernen Gesellschaft analysierend angepaßt. Seit ihrer Entstehung unterhält die Soziologie eine mimetische Beziehung mit ihrem Gegenstand – oder, zutreffender vielleicht, mit der Vorstellung von diesem Gegenstand, als Bezugspunkt für den eigenen Diskurs konstruiert und akzeptiert. Derart bekennt sich die Soziologie zu eben den Prinzipien rationalen Handelns, die sie für ihren Gegenstand’ als konstitutiv ansieht. Die Unzulässigkeit ethischer Problemstellungen ist verbindlich für den eigenen Diskurs, da diese begrenzt gültigen Ideologien zugeschrieben werden und soziologischer, d. h. rationalwissenschaftlicher Beschäftigung nicht angemessen scheinen. Begriffe wie die »Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens« oder »moralische Pflicht« klingen daher in einem Soziologieseminar ähnlich fremdartig wie in den desinfizierten sterilen Büros des Verwaltungsapparates.
Wenn die Soziologie diese Prinzipien in der fachlichen Praxis beachtete, so hielt sie sich damit durchaus an die Gepflogenheiten der Wissenschaftskultur allgemein. Auch diese hat als Teil des Rationalisierungsprozesses eine genaue Analyse bitter nötig. Die Verdrängung moralischer Fragestellungen in der Wissenschaft kann böse Folgen haben: Man erinnere sich, daß der Massenmord und die Beseitigung der Leichen in Auschwitz als »medizinisches Problem« angegangen wurden. Franklin M. Littells Warnung vor einer Glaubwürdigkeitskrise der modernen Universität ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen: »Welche medizinische Fakultät brachte Mengele und seine Komplizen hervor? Welche anthropologische Abteilung lieferte die Mitarbeiter für das ›Institut für Erbforschung‹ an der Straßburger Universität?«37 Um Mißverständnissen darüber vorzubeugen, wer sich durch solche Fragen angesprochen fühlen sollte – sie sind keineswegs von nur zeitgeschichtlicher Bedeutung, wie Colin Grays Untersuchung über die Motive des Wettrüstens zeigt: »Wissenschaftler und Technologen auf beiden Seiten treten in erster Linie an, um eigenes Wissen zu vermehren (der Gegner ist weniger die sowjetische Technologie, vielmehr das Unbekannte, das die wissenschaftliche Neugier anzieht) … Wen wundert es da, daß motivierte, fachlich hochqualifizierte und finanziell gut ausgestattete Forscherteams am laufenden Band neue, raffinierte Waffenkonzepte produzierten?«38
Eine erste Fassung dieses Kapitels erschien im Dezember 1988 im British Journal of Sociology.
* im Original deutsch
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2
Moderne, Rassismus und Vernichtung I
Der Kausalzusammenhang zwischen Antisemitismus und Holocaust scheint vielen klar genug: Demzufolge wurden die europäischen Juden von den Deutschen ermordet, weil diese, und ebenso ihre Erfüllungsgehilfen, Judenhasser waren. Der Holocaust also als entsetzlicher Höhepunkt einer jahrhundertealten Tradition religiöser, ökonomischer, kultureller und nationaler Feindseligkeit gegenüber den Juden? Diese Erklärung des Holocaust ist populär und klingt ja auch »vernünftig« (wenn mir dieses Paradox gestattet ist). – Und doch, die Plausibilität dieses kausalen Zusammenhanges ist eine scheinbare und hält einer genaueren Prüfung nicht stand.
Fundierte historische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben nachgewiesen, daß der Antisemitismus in Deutschland vor der Machtergreifung und auch noch nach der Konsolidierung nationalsozialistischer Herrschaft allgemein weitaus geringer ausgeprägt war als in vielen anderen Ländern Europas. Und lange bevor der schwierigere gesellschaftliche Emanzipationsprozeß der Juden in der Weimarer Republik vollendet wurde, galt Deutschland bei Juden in aller Welt geradezu als Insel religiöser, nationaler Gleichheit und Toleranz. In Deutschland gab es zu Beginn dieses Jahrhunderts mehr jüdische Akademiker und Angehöriger freier Berufe als in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Antijüdische Ressentiments in der Bevölkerung waren weder tief verwurzelt noch sehr verbreitet. Und gewalttätige öffentliche Übergriffe kamen, anders als in anderen Teilen Europas, äußerst selten vor. Nationalsozialistische Versuche, latenten Antisemitismus im Volk durch inszenierte antijüdische Gewaltspektakel zu schüren, erreichten eher das Gegenteil und spielten daher eine untergeordnete Rolle. Henry L. Feingold, einer der bekanntesten Historiker des Holocaust, nimmt an, daß Meinungsumfragen zum Grad des Antisemitismus, hätte es solche gegeben, »im Deutschland der Weimarer Republik vermutlich eine geringere Abneigung gegenüber den Juden nachgewiesen hätten als in Frankreich«.1 Zu keinem Zeitpunkt der Vernichtung übernahm allgemeiner Antisemitismus eine tragende Rolle. Antisemitismus hat jedoch zweifellos indirekt zur Durchführung des Massenmordes beigetragen, indem er jene Lethargie erzeugte, mit der die meisten Deutschen der Tatsache der Massenvernichtung begegneten, um sich später auf Unwissenheit zu berufen. Norman Cohn schreibt dazu: »Die Menschen mochten sich nicht aufraffen, den Juden beizustehen. Die allgemein verbreitete Indifferenz und Leichtigkeit, mit der die Bevölkerung sich von den Juden distanzierte, entsprang sicherlich dem unbestimmten Gefühl … die Juden seien irgendwie unheimlich und gefährlich.«2 Richard L. Rubenstein geht noch ein Stück weiter: Die Lethargie unter den Deutschen – mit anderen Worten die kollektive Komplizenschaft durch Unterlassung – lasse sich einfach klären: »Glaubte nicht die Mehrheit der Deutschen, von der Beseitigung der Juden zu profitieren?«3 Andere Historiker jedoch haben die »Komplizenschaft durch fehlenden Widerstand« mit Faktoren erklärt, die nicht unbedingt Ansichten über das jüdische Wesen einschließen. Walter Laqueur etwa betont, »nur sehr wenige interessierten sich für das Schicksal des Juden. Die meisten Menschen hatten andere Probleme. Das Thema war unerfreulich, Spekulationen nutzlos; insgesamt sah man es nicht gern, wenn über das jüdische Schicksal gesprochen wurde. Die Erörterung dieser Frage wurde verdrängt und fürs erste hinausgeschoben.«4
Wer den Antisemitismus als einzige Ursache des Holocaust begreift, übersieht ein anderes schwieriges Problem. Der Antisemitismus – ob in religiöser oder wirtschaftlicher, kultureller oder rassischer, gewalttätiger oder versteckter Form – ist seit Jahrtausenden ein fast weltweit anzutreffendes Phänomen, der Holocaust dagegen ist beispiellos. Fast alle seine Merkmale sind einzigartig und mit keinem anderen historischen Massaker in der Judenverfolgung vergleichbar, egal wie grausam man vorging oder als wie fremd, feindselig oder gefährlich die Opfer zuvor hingestellt worden waren. Der Antisemitismus als zeitlose und allgegenwärtige Erscheinung ist kaum allein für die Singularität des Holocaust verantwortlich zu machen. Aber das Problem ist noch komplizierter, denn es kann keineswegs als sicher gelten, daß antisemitische Tendenzen überhaupt zu antijüdischer Gewalt führen müssen; sie sind zwar ohne Zweifel eine notwendige Bedingung, nicht unbedingt jedoch für sich genommen eine hinreichende Voraussetzung. Für Norman Cohn bilden organisierte Gruppen »professioneller Judenmörder« (die natürlich Beweis für antisemitische Tendenzen sind, ohne allerdings mit diesen gleichgesetzt werden dürfen) die eigentliche Substanz und Ursache gewalttätiger Übergriffe gegen Juden; ohne diese Gruppen wären antijüdische Ressentiments niemals und nirgends in dieser Weise gegen jüdische Mitmenschen eskaliert.
Es ist ein Mythos, Pogrome seien spontane Ausbrüche des Volkszorns. Wir kennen keinen einzigen nachgewiesenen Fall, in dem die Bewohner einer Stadt oder eines Dorfes aus heiterem Himmel über ihre jüdischen Nachbarn hergefallen sind und sie umgebracht haben, selbst im Mittelalter nicht. … In der Neuzeit finden sich ebenfalls keine Indizien für solche auf breiter Basis ruhenden Gewalttätigkeiten, zumal selbst die organisierten Gruppen immer erst in Erscheinung traten, wenn sie von irgendeiner Obrigkeit ermuntert beziehungsweise unterstützt wurden.5
Formulieren wir es so: Weder historische noch zeitgenössische Belege erlauben es, die populäre These zu erhärten, antijüdische Gewalt im allgemeinen und das singuläre Phänomen Holocaust im besonderen seien der »Kulminationspunkt antijüdischer Ressentiments«, »Antisemitismus in seiner radikalsten Form« oder das »Hervorbrechen weit verbreiteter antijüdischer Ressentiments«. Isoliert betrachtet, bietet der Antisemitismus keine hinreichende Erklärung für den Holocaust (Ressentiments bieten generell keine hinreichende Erklärung für Genozid). Wenn es zutrifft, daß antisemitische Tendenzen für die Planung und Durchführung des Holocaust eine wichtige Rolle spielten, ja sogar unersetzlich waren, so ist mit gleichem Recht zu konstatieren, daß die antisemitische Haltung der Urheber und Planer des Massenmords in wesentlichen Punkten von den antijüdischen Emotionen der Vollstrecker, Kollaborateure und willfährigen Mitwisser abwich. Damit der Holocaust möglich wurde, mußte ein (wie auch immer geprägter) Antisemitismus zuvor mit Faktoren ganz anderer Provenienz verschmolzen werden. Unser Augenmerk wird sich daher, statt schwer zu erhellenden Fragen der Individualpsychologie nachzugehen, auf die sozialen und politischen Mechanismen richten müssen, die diese zusätzlichen Faktoren hervorbrachten und deren potentiell explosive Reaktion mit traditionellen, gesellschaftlich-sozialen Antagonismen ermöglichten.