Kitabı oku: «Dialektik der Ordnung», sayfa 6
Rittlings auf den Barrikaden
Aus den oben erörterten Gründen kann man das Phänomen Antisemitismus nicht als Unterkategorie nationaler, religiöser oder kultureller Antagonismen auffassen. Der Antisemitismus hat auch nur wenig mit widerstreitenden ökonomischen Interessen zu tun (ein häufig anzutreffender Versuch, den Antisemitismus in moderne wirtschaftliche Verteilungskämpfe einzubetten, die man sich als Nullsummenspiel konkurrierender Interessengruppen vorstellt) – der Antisemitismus diente ausschließlich den selbstdefinitorischen und identitätsstiftenden Zielen seiner Propagandisten. Diesen ging es um Grenzziehung, nicht um den Grenzkonflikt. Jeder Ansatz, regionale/lokale und zufällige Faktorenkonstellationen als Ursachen heranzuziehen, greift daher zu kurz. Die Tatsache, daß der Antisemitismus für die verschiedenartigsten und voneinander völlig unabhängige Interessen und Anliegen eingespannt wurde, erklärt sich gerade aus seiner nicht an Raum und Zeit gebundenen Universalität. Er paßte sich den vielen örtlich begrenzten Konflikten gerade deshalb an, weil es keinerlei kausalen Zusammenhang gab. Die Einbindung des typisierten Juden in ungleichartige, zum Teil widersprüchliche, aber stets heftig umstrittene Fragen verschärfte die ihm eigentümliche Inkongruenz zusätzlich. In gleichem Maße wuchsen die vermeintliche Erklärungskraft und auch die dämonische Potenz dieses Judenbildes. Für keine andere soziale Gruppe traf zu, was Leo Pinsker 1882 über die Juden schrieb: »Für die Lebenden ist der Jude ein Toter; für die Einheimischen ein Fremder und ein Vagabund; für die Armen und Ausgebeuteten ein Millionär; für die Patrioten ein Heimatloser.«10 Oder wie es in moderner Version, im Kern unverändert, 1946 hieß: »Der Jude galt als Verkörperung all dessen, was man verabscheute und fürchtete. Er war der Träger des Bolschewismus und stand zugleich für den liberalen Geist der dekadenten westlichen Demokratie. Wirtschaftlich gesehen war er Kapitalist und Sozialist in einer Person. Man verunglimpfte ihn als trägen Pazifisten, und merkwürdigerweise galt er gleichzeitig als Anstifter zum Krieg.«11 Und W. D. Rubinstein schreibt über einen der vielen Aspekte der jüdischen Viskosität: Der gegen die jüdischen Unterschichten gerichtete Antisemitismus sei durch die Kombination mit »seiner auf die jüdische Elite zielenden Variante womöglich für die besondere Heftigkeit des europäischen Antisemitismus verantwortlich: Während andere Gruppen entweder als privilegiert oder unterprivilegiert stigmatisiert wurden, galten die Juden als beides zugleich.«12
Die prismatische Gruppe
Anna uk von der Universität Lublin bezeichnet die Juden als »mobile Klasse«, »da sie gleichzeitig Emotionen hervorriefen, die normalerweise von den höheren sozialen Schichten auf die unteren Schichten und umgekehrt von den niedrigeren sozialen Straten auf höhere soziale Ränge gerichtet sind.«13 Anna Źuk hat das Aufeinanderprallen der Wahrnehmungsperspektiven im Polen des 18. Jahrhunderts eingehend untersucht und ist dabei auf ein allgemeines, den Antisemitismus erhellendes soziologisches Phänomen gestoßen. Im letzten Jahrhundert vor den Polnischen Teilungen dienten die Juden im Lande in erster Linie dem Adel und der Oberschicht. Sie übten eine Vielzahl äußerst ungeliebter öffentlicher Funktionen aus, die für die politische und ökonomische Vormachtstellung der adligen Großgrundbesitzer unerläßlich waren, etwa die Zinseintreibung oder den Vertrieb landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Die Juden fungierten als »Mittelsmänner« oder, sozio-psychologisch gesehen, als Abschirmung der eigentlichen Herren. Die Juden waren für diese Rolle besser geeignet als jede andere Gruppe, konnten sie doch keinesfalls hoffen, in den Genuß des mit dieser wichtigen Funktion normalerweise verbundenen sozialen Aufstiegs zu kommen. Da die soziale und politische Rivalität mit ihren Herren ausgeschlossen war, begnügten sich die Juden mit rein finanziellen Gegenleistungen. Die soziale und politische Minderwertigkeit gegenüber den Herren wurde auf diese Weise festgeschrieben. Die Herren behandelten die Juden mit sozialer Verachtung und kultureller Aversion wie alle der Unterschicht zugehörigen Diener. Das im Adel vorherrschende Bild der Juden unterschied sich nicht von den Stereotypen gegenüber sozial Unterprivilegierten. Ebenso wie die Bauern und das städtische Kleinbürgertum galten die Juden als unzivilisiert, schmutzig, dumm und geizig, Pöbel, den man sich am besten vom Leibe hielt. Da die ökonomische Funktion der Juden gewisse Berührungspunkte unumgänglich machte, mußte deren soziale Absonderung strikter sanktioniert und festgelegt sein als die anderer sozialer Klassen, deren Position unverrückbar feststand.
Der bäuerlichen und der städtischen Bevölkerung mußten die Juden in ganz anderem Licht erscheinen. Man darf nicht vergessen, daß die jüdischen Dienste gegenüber den Großgrundbesitzern und Ausbeutern der Landwirtschaft nicht nur ökonomischer Natur waren – sie bildeten einen Schutzschild des Adels und der Oberschicht gegen den Volkszorn. Statt die wahren Urheber zu treffen, entlud sich der Unwille auf die Mittelsmänner. Die Unterschichten betrachteten die Juden als den eigentlichen Feind, denn es waren diese, die ihnen als Ausbeuter entgegentraten. Unmittelbar kannte das Volk nur jüdische Unbarmherzigkeit. Aus dieser beschränkten Perspektive waren die Juden die Herrscher. Was Wunder, daß »die Juden, obwohl sozial ebenso unterprivilegiert wie ihre Angreifer, Zielscheibe der eigentlich auf die Oberschicht gerichteten Aggressionen wurden«. Die Juden gerieten in eine »Mittlerrolle, die sie als sichtbares Verbindungsglied in den Fokus der Aggression der ausgebeuteten sozialen Schichten rückte«.
Die Juden waren in zweifacher Weise in diese soziale Auseinandersetzung verstrickt – zunächst ein Phänomen ohne spezifisch jüdischen Bezug und per se nicht verantwortlich für die besonderen Merkmale der Judenphobie. Was die Besonderheit der jüdischen Position ausmachte, war, daß sie von zwei entgegengesetzten Seiten her zum Objekt eines Klassenantagonismus wurden. Für jedes der feindlichen Lager standen die jüdischen Mittelsmänner jenseits der Barrikade. Die Metapher von der prismatischen Gruppe trifft diesen Umstand besser als die der »mobilen Klasse«: Je nach Perspektive und sozialer Brechung der Wahrnehmung entstand ein doppeltes Judenbild: entweder rohe, unkultivierte und brutale Unterschicht oder skrupellose, hochmütige Obrigkeit.
uks Untersuchung beschränkt sich auf die Epoche bis unmittelbar vor Beginn der Modernisierung in Polen. Daher ist die Doppelung des Judenbildes, die sie so brillant herausarbeitete, nicht in allen weiteren historischen Konsequenzen erkennbar. Im vormodernen Ständestaat fand zwischen den Ständen Kommunikation praktisch nicht statt, so daß die beiden Perspektiven und die daraus hervorgehenden Stereotypen zunächst nicht zu jener inkongruenten, den modernen Antisemitismus kennzeichnenden Mixtur verschmelzen konnten. Da es keine Berührungspunkte zwischen den sozialen Klassen gab, führten die Antagonisten sozusagen einen »Privatkrieg« gegen die Juden, der – besonders im Fall der Unterschicht – von der Kirche in Dogmen eingebunden werden konnte, die den eigentlichen verschleierten. (Während der von Peter von Amiens im Rheinland angezettelten Massaker versuchten Landesväter und Bischöfe allerdings, »ihre Juden« gegen krasse Verleumdungen und ungerechtfertigten Zorn in Schutz zu nehmen.)
Erst mit dem Aufkommen der Moderne kollidierten die verschiedenen, logisch disparaten Erscheinungsbilder der (nicht zuletzt erst durch systematische Segregation) fremdartig gewordenen jüdischen Gruppe – und überlagerten einander allmählich. Die Moderne wies ja auch den Ideen eine ganz neue Aufgabe zu, denn der moderne Staat bedarf der ideologischen Mobilisierung, um funktional effizient zu sein; das betonte die Tendenz zur Uniformität und brachte ein »zivilisatorisches« und proselytisches Missionarsbewußtsein mit sich.14 Ehemalige Randgruppen sollten in engen geistigen Kontakt mit dem ideenerzeugenden Zentrum des Staatskörpers treten. Insgesamt führten diese neuen Entwicklungen zu einer engeren und intensiveren Kommunikation zwischen den Klassen und Schichten; traditionelle Formen der Klassenherrschaft wandelten sich und wurden als geistiger Führungsanspruch definiert: Kulturell verbreitet wurden insbesondere Ideen und Formeln, die auf politische Loyalität abzielten. Es war unvermeidlich, daß die je verschiedenen Bilder des Juden aufeinanderprallten. Hatte man bis dahin gar nicht bemerkt, wie widersprüchlich sie waren, erwies sich dies nun als Problem und Herausforderung. Charakteristisch für die schnell sich modernisierende Gesellschaft, galt es, auch dieses Problem zu »rationalisieren« und seine Widersprüchlichkeit aufzulösen. Es gab zwei Möglichkeiten: die überkommene und in sich inkongruente Bildwelt zu zerschlagen, oder die alte Inkongruenz neu und rational zu untermauern.
Tatsächlich sind beide Strategien im frühneuzeitlichen Europa nachzuweisen. Auf der einen Seite brandmarkte man die irrationale Statuszuweisung der Juden als Beispiel für die Absurdität der feudalen Ordnung und als Aberglauben, der den Sieg der Vernunft behindere. Die Andersartigkeit und Eigentümlichkeit der Juden wurde mit den zahllosen, vom ancient régime tolerierten Partikularismen auf eine Stufe gestellt, die die neue Ordnung hinwegfegen würde. Ein ursächlich kulturelles Problem, als lokale Absonderlichkeit gedeutet, sollte durch sorgfältige Aufklärung überwunden werden. Sobald die neu errungene Gleichheit vor dem Gesetz auch für Juden gelte, so prophezeiten viele, würden auch deren Andersartigkeit in nichts sich auflösen – die Juden als freie Individuen; ausgestattet mit allen bürgerlichen Rechten, würden ununterscheidbar in der kulturell und gesetzlich einheitlichen Gesellschaft aufgehen.
Die Moderne war andererseits jedoch von Prozessen begleitet, die in eine entgegengesetzte Richtung wiesen. Einerseits verfestigte sich das Stereotyp der jüdischen Inkongruenz und nahm das Stigma der jüdischen »Viskosität«, semantischer Ungreifbarkeit und Subversivität in einer sonst transparenten und sauberen Ordnung in sich auf, andererseits schien es sich den veränderten Umständen anzupassen und weitere, neue Inkongruenzen aufzusaugen; in neuer Dimension und ohne logische Querverbindungen entstand eine Inkongruenz auf höherer Ebene, gewissermaßen eine Meta-Inkongruenz. Mehr als jede andere Gruppe waren die Juden, eben wegen der ihnen in religiöser und sozialer Hinsicht zugewiesenen Viskosität, anfällig gegenüber den Auswirkungen von Spannungen und Antagonismen, wie sie in den sozialen Umwälzungen und vielfältigen Umbrüchen der Moderne auftraten. Für die meisten Mitglieder der Gesellschaft bedeutete die heraufziehende Moderne die Zerstörung alter Ordnung und Sicherheit. Und erneut sah man die Juden nahe dem Zentrum dieses destruktiven Prozesses. Ihr schneller sozialer Aufstieg und ihre als unheimlich empfundene Verwandlung schienen die Verkörperung der Zerstörungskraft der sich ankündigenden Moderne gegenüber allem Vertrauten, Gewohnten und Sicheren.
Jahrhundertelang hatten die Juden in der sicheren Distanz selbstgewählter oder aufgezwungener Ansiedlungen gelebt; plötzlich tauchten sie auf, kauften Grundstücke oder mieteten Häuser in einstmals rein christlichen Gegenden und wurden auf diese Weise Bestandteil des täglichen Lebens und Partner im diffusen Diskurs eines nicht mehr ritualisierten sozialen Umganges. Jahrhundertelang waren die Juden rein äußerlich zu identifizieren gewesen, sie trugen ihre Andersartigkeit gewissermaßen am Körper, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Plötzlich kleideten sie sich wie alle anderen, nämlich nach sozialem Status und nicht mehr nach Kastenzugehörigkeit. Jahrhundertelang waren die Juden Parias, auf die noch die Geringsten unter den Christen voller Verachtung herabsehen durften. Plötzlich rückten die Parias in sozial einflußreiche, prestigeträchtige Positionen, sei es aufgrund intellektueller Fähigkeiten oder wegen ihres Geldes, dessen statusdefinierende, Stand und Herkunft auslöschende Kraft inzwischen akzeptiert war. Ohne Zweifel, das Schicksal der Juden verkörperte das ganze dramatische Ausmaß der sozialen Umwälzungen und zeigte plakativ die Erosion der alten Ordnung auf. Was von ewiger Dauer geschienen hatte, zerrann und löste sich auf. Wer empfand, daß die Welt aus den Fugen geriet, wer in seiner sozialen Existenz sich bedroht oder verdrängt fühlte, der hatte die Möglichkeit, die eigenen Ängste vor den stürmischen Zeiten auch rational als Folge der subversiven Inkongruenz der Juden zu erklären.
Die Juden gerieten auf diese Weise in den tiefgreifenden historischen Konflikt zwischen traditioneller, vormoderner Welt und sich anbahnender Moderne. Dieser Konflikt fand zunächst Ausdruck im offenen Widerstand der von Entwurzelung, Verarmung und sozialer Verdrängung bedrohten Klassen und Schichten gegenüber der neuen Ordnung, die als drohendes Chaos aufgefaßt wurde. Mit der Niederlage der ursprünglichen antimodernistischen Rebellion und dem nicht aufzuhaltenden Triumph der Moderne verschwand dieser Konflikt, schwelte latent jedoch unter der Oberfläche weiter: als Angst vor dem Nichts, als unstillbares Verlangen nach Sicherheit, in paranoiden Verschwörungstheorien ebenso wie in der hektischen Suche nach der immer schwerer faßbaren Identität. Eines Tages sollte die Moderne ihren Widersachern jene raffinierten Waffen in die Hand legen, die erst durch die Niederlage des antimodernistischen Widerstandes denkbar geworden waren. Die Ironie der Geschichte wollte es, daß antimodernistische Phobien Kanäle und Instrumente fanden, die allein die Moderne zu entwikkeln imstande war. Die inneren Dämonen Europas sollten schließlich mit den beispiellosen Errungenschaften der Moderne – technologisch hochentwickelten Produkten, wissenschaftlicher Methodik und zentralisierter Staatsmacht – ausgetrieben werden.
Die jüdische Inkongruenz war wie gemacht für diese historische Entwicklung, die selbst einzigartig inkongruent verlief. Die Juden waren Verkörperung der inneren Dämonen und blieben es, als der Exorzismus längst offiziell verboten und in die Unsichtbarkeit getaucht war. Immer wieder in der Neuzeit weckten die Juden Spannungen und Ängste, die von der Moderne für überwunden erklärt worden waren, dann jedoch beispiellos verstärkt und schließlich mit furchterregenden Instrumenten ausgerüstet wurden.
Moderne Dimensionen der Inkongruenz
Früh fungierten die reichen, aber verachteten Juden als natürliche Blitzableiter für Entladungen antimodernistischer Energien. Sie bezeichneten eben jene Zone, in der die anrüchige Macht des Geldes mit sozialer Verachtung und moralisch-ästhetischer Aversion zur Deckung kam. Die Gegner der Moderne, insbesondere in ihrer kapitalistischen Form, fanden hier einen idealen Fixpunkt. Der Kapitalismus brauchte nur mit den Juden in Zusammenhang gebracht zu werden, um als fremd, unnatürlich, gefährlich und moralisch abstoßend zu gelten. Und dieser Zusammenhang schien offensichtlich: Der Umgang mit Geld hatte lange im gesellschaftlichen Abseits gestanden und wurde allgemein als Wucher verurteilt und verachtet, solange die Juden in der Ausgrenzung des mittelalterlichen Ghettos lebten. Man wollte nicht an Zufall glauben, als sie sich in den Geschäftsstraßen der Metropolen niederließen und gleichzeitig finanzielle Macht unter dem klangvollen Namen Kapital in das vitale gesellschaftliche Zentrum rückte und zu sozialem Ansehen kam.
Die erste Auswirkung der Moderne auf die Lage der europäischen Juden war, daß diese zur wichtigsten Zielscheibe des antimodernistischen Widerstandes wurden. Die führenden Denker in den Anfängen des modernen Antisemitismus, Fourier, Proudhon, Toussenel, waren überzeugte Antimodernisten und stritten gegen die Macht des Geldes, gegen Kapitalismus, Technik und Industrialisierung. Die Vorstellung, die heraufziehende kapitalistische Gesellschaftsordnung könne aufgehalten werden, verband in der frühen Industriegesellschaft radikalen Antisemitismus und antikapitalische Tendenzen, um so die reale oder erträumte »natürliche« Ordnung wiederherzustellen, der die Geldbarone ein Ende zu bereiten drohten. In dieser Vorstellung verschmolzen die Juden mit der Macht des Geldes: Ein kausaler Zusammenhang wurde suggeriert und metaphorisch untermauert – von »geistiger Affinität« war die Rede oder, um einen von Max Weber häufig benutzten Begriff zu verwenden, von »Wahlverwandtschaft«. Widerstand gegen den Kapitalismus, der seinen Schatten auf Arbeitsethos und Unabhängigkeit des Handwerks warf, war leichter mobilisierbar, wenn dieser mit einem fremdartigen und als verwerflich geltenden Urheber identifizierbar war. Für Fourier und Toussenel repräsentierten die Juden alles, was am vorrückenden Kapitalismus und den sich ausbreitenden Metropolen hassenswert erschien. Ihre Haßtiraden gegen die Juden zielten in der Tat auf die furchteinflößende neue Gesellschaftsordnung. Proudhon bezeichnete die Juden »als Antiproduzenten von Natur aus, ganz im Gegensatz zum Bauern oder jedem ordentlichen Händler«.15
Die antimodernistische Version des Antisemitismus konnte (per definitionem) den Anschein von Rationalismus wahren und damit ihre Popularität, solange die Hoffnung berechtigt schien, die neue Ordnung könne verhindert und statt dessen ein kleinbürgerliches Utopia in Gestalt des verlorenen Paradieses errichtet werden. Diese Version des Antisemitismus hatte jedoch bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in dem Maße an Schubkraft verloren, in dem das Aufbegehren gegen die neue Zeit verpufft und die neue Ordnung als endgültig und unumkehrbar akzeptiert hatte werden müssen. Dieses Stereotyp der Verschmelzung von finanzieller Macht und jüdischem Charakter oder Geist, in der frühen kleinbürgerlich-konservativen, antimodernistischen Version des Antikapitalismus entwickelt, wurde gleichwohl von deren späteren Formen absorbiert und erschien dort in neuem Gewand. Zumeist im Verborgenen schwelend und nur gelegentlich an die Oberfläche dringend, war der Antisemitismus eine wichtige Strömung der antikapitalistischen Opposition und somit auch ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Geschichte des europäischen Sozialismus.
Es blieb Karl Marx, dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, vorbehalten, den antikapitalistischen Antisemitismus von einer rückwärts in eine vorwärts gewandte Anschauung zu verwandeln. (Neu an diesem Denken war, daß es sich die Überwindung und nicht die Fesselung der kapitalistischen Entwicklung zum Ziel setzte; es akzeptierte die Unumkehrbarkeit der kapitalistischen Umwälzungen und deren Dynamik; es sah eine bessere Gesellschaft von dem Moment an voraus, in dem kapitalistischer Fortschritt in allgemeinen und daher humanen Fortschritt umschlug.) In dieser modernisierten Version blieb der Antisemitismus der antikapitalistischen Opposition auch dann zugänglich, als jegliche Illusion zerstoben war, der Kapitalismus sei eine vorübergehende Krankheit, die geheilt oder ausgetrieben werden könne. Marx sah eine Wahlverwandtschaft zwischen dem »Geist des Judentums« und dem Geist das Kapitalismus als gegeben an, beide am Eigennutz orientiert und mit ausgeprägter Neigung zum Schacher und zur Habgier. Beide gelte es demzufolge zu überwinden, damit das menschliche Zusammenleben auf einer solideren und gesünderen Basis ruhen könne. Kapitalismus und Judentum erwarte ein gemeinsames Schicksal. Ihrem gemeinsamen Triumph werde der gemeinsame Untergang folgen, da keiner auf sich gestellt überlebensfähig sei. Um den einen zerstören zu können, müsse der andere zerstört werden; Emanzipation vom Kapitalismus als gleichzeitige Emanzipation vom Judentum und umgekehrt.
Die Tendenz, das Judentum ebenso mit finanziellem Einfluß wie mit den Übeln des Kapitalismus gleichzusetzen, war allen sozialistischen Bewegungen Europas immanent, wenn auch vielfach unter der Oberfläche. Antisemitische Verunglimpfungen aus den sozialdemokratischen Bewegungen Deutschlands und denen Österreich-Ungarns, den damals größten des europäischen Kontinentes, waren an der Tagesordnung. August Bebel, Mitbegründer der deutschen Arbeiterbewegung, zollte 1874 den radikal antisemitischen Lehren Karl Eugen Dührings größtes Lob – Anlaß für Friedrich Engels, diesem zwei Jahre später als Entgegnung ein ganzes Buch zu widmen; nicht, wie man denken könnte, um die Juden zu verteidigen, sondern weil er die Marxsche Autorität für die Belange der wachsenden Arbeiterbewegung stärken wollte. Nicht immer gelang es allerdings, die antijüdischen Ressentiments auf die ihnen zugedachte Funktion zu beschränken – nämlich die einer unausweichlichen, wenn auch zweitrangigen Variante antikapitalistischer Gesinnung; mitunter verkehrten sich die Prioritäten derart, daß der Kapitalismus zu einer Folgeerscheinung der jüdischen Bedrohung wurde. So lief in Frankreich fast die gesamte Gefolgschaft von August Blanqui, dem unbeugsamen Kämpfer im antikapitalistischen Feldzug, unter Führung seines engsten Vertrauten Ernest Granger von den Barrikaden der Pariser Kommune direkt zur aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung Frankreichs über. Erst mit dem Auftauchen der Nazibewegung spaltete und polarisierte sich diese populäre Opposition zum Kapitalismus, wobei die sozialistische Linie die erbitterte Gegnerschaft zum Antisemitismus als notwendiges Element im Kampf gegen den erstarkenden Faschismus aufgriff.
Während im westlichen Europa der hartnäckigste Widerstand gegen die neue industrielle Ordnung aus den Reihen der Kleinbürger in Stadt und Land kam, ruhte die antikapitalistische, antistädtische und antiliberale Einstellung im Osten auf einer gewichtigeren Basis. Wegen des fast ungebrochenen sozialen Einflusses und der politischen Vorherrschaft der begüterten Aristokratie rangierten die städtischen Berufe am untersten Ende der Prestigeskala und wurden mit einer Mischung aus Abscheu und Verachtung bedacht. Jeder Reichtum, der nicht auf Heirat oder landwirtschaftlichem Ertrag beruhte, galt dem Adel als unwürdig; selbst die Landwirtschaft und die damit verbundenen ökonomischen Aktivitäten wurden Verwaltern oder sozial und menschlich auf niederer Stufe stehenden Pächtern überlassen. Da die nationalen Eliten indifferent oder ablehnend gegenüber den Herausforderungen der Modernisierung blieben, waren die Juden – kulturelle Außenseiter – in ihrer Gesamtheit eine der wenigen Gruppen, die nicht dem lähmenden Einfluß der Wertvorstellungen des Adels unterlagen und die auf diese Weise von der industriell-technologischen und finanziellen Revolution profitieren konnten. Angesichts einer von Wertvorstellungen des Adels dominierten Welt mußte das Ablehnung hervorrufen. Joseph Marcus zeigt in seiner gründlichen Untersuchung der (für die Entwicklung im übrigen Osteuropa durchaus exemplarischen) Industrialisierung Polens im neunzehnten Jahrhundert, daß der Vormarsch der Industrialisierung von der polnischen Elite, die weithin Wertvorstellungen des Adels verhaftet war, als nationale Katastrophe aufgefaßt wurde.
Während jüdische Unternehmer den Eisenbahnbau vorantrieben, klagte J. Supinski, ein führender polnischer Nationalökonom, die ›Eisenbahn ist ein bodenloser Schlund, in dem gewaltige finanzielle Mittel verschwinden, ohne daß mehr davon übrig bleibt als ein Damm und die darauf entlangführenden Schienen‹. Als die Juden Fabriken bauten, warfen ihnen die Landbesitzer vor, die Landwirtschaft zu zerstören, der angeblich die Arbeitskräfte ausgingen. Als die Fabriken mit der Produktion begannen, zogen deren Besitzer nicht nur den Haß der polnischen Intelligenz und der gesellschaftlichen Elite auf sich – sie wurden auch belächelt, weil sie unbeschwertes Landleben, Libertinage und Unkonventionalität gegen die triste Atmosphäre der Fabrik eingetauscht hätten, die den Menschen zum Sklaven mache und schließlich zerstöre.
Es versteht sich, daß eine Gesellschaft, in der derartige Einstellungen vorherrschten, in der materielle Fragen als zweitrangig angesehen und Geldverdienen mit Verachtung gestraft wurde, nicht die unternehmerischen Qualitäten hervorbringen konnte, die in der kapitalistischen Industrialisierung gefordert waren. Es überrascht daher nicht, daß die einzige Unterstützung des industriellen Fortschritts in Polen von einheimischen Juden und ausländischen Siedlern ausging.
Die jüdische Bourgeoisie entwickelte sich außerdem zum wichtigsten Propagandisten des westlich geprägten Liberalismus. Demgegenüber betrachteten die polnische Aristokratie und katholisch-konservative Kreise diese politischen Ideen und den ›westlichen Materialismus‹ insgesamt als Gefahr für die polnische Tradition und den ›Nationalcharakter‹16
Als sich die polnischen Juden zum Erstaunen der Oberschicht in eine jüdische Bourgeoisie wandelten, wurde dies in mehrfacher Hinsicht als Bedrohung empfunden. Es entstand hier eine neue, auf Geld und Industrieproduktion gestützte soziale Kraft, die in Konkurrenz trat zur traditionellen auf Landbesitz und ererbtem Patronatentum beruhenden Macht. Die Juden symbolisierten außerdem das Auseinanderbrechen der bis dahin engen Verbindung von Prestige und Einfluß; die Knechte von einst, angesiedelt auf der untersten Stufe der Wertschätzung, schickten sich an, Machtpositionen zu besetzen, und führten ihre eigene, falsche soziale Stufenleiter ein. Für den Adel, auf Wahrung seiner nationalen Führungsstellung bedacht, stellte die aufkommende Industrialisierung eine doppelte Bedrohung dar. Das lag nicht nur an der Art der Bedrohung, sondern auch an dem, von dem sie ausging. In der wirtschaftlichen Initiative der Juden schien die direkte Gefahr für die Herrschaft des Adels mit der Unterminierung der gesamten sozialen Hierarchie, auf die sich diese Herrschaft stützte, verbunden. Es lag also nahe, die Juden selbst mit den Umwälzungen und der drohenden Instabilität zu identifizieren. Die Juden erschienen als heimtückische, destruktive Kraft, als Urheber von Chaos und Unruhe; als klebrige Substanz, die die Grenzlinie zwischen dem, was es zu scheiden galt, verschmierte, die die hierarchische Stufenleiter schlüpfrig machte, Festes aufweichte und alles, was heilig war, in den Strudel der Profanisierung zog.
Als die jüdischen Assimilationsbestrebungen in den verschiedenen Ländern allmählich an die Grenzen der gesellschaftlichen Absorptionsbereitschaft stießen, schwenkte die jüdische Bildungselite mehr und mehr zur Sozialkritik um und galt konservativem Denken daher bald als (von Natur aus) destabilisierendes Element. David Biale schreibt in seiner scharfsichtigen Analyse über den Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts: »Jüdische Liberale, Nationalisten und Revolutionäre waren sich damals trotz aller Kontroversen in einem einig: Die Gesellschaftsordnung in Europa benachteiligte die Juden. Daher sah man in der Veränderung der Gesellschaft oder in einer gewandelten Beziehung der Juden zu ihr die einzige Möglichkeit zur Verbesserung der jüdischen Situation in Europa… unter ›Normalität‹ verstand man nunmehr das soziale Experiment und utopische, nie zuvor praktizierte Ideale.«17
Die Affinität der Juden zum liberalen Erbe der Aufklärung verlieh der jüdischen »Viskosität« eine neue Dimension. Wie keine andere gesellschaftliche Gruppe hatten die Juden ein Interesse an der vom Liberalismus geforderten Staatsbürgerschaft. Hannah Arendt hat es prägnant formuliert: »Im Gegensatz zu allen anderen Gruppen wurden die Juden und ihre gesellschaftliche Position durch den politischen Körper bestimmt und definiert. Da dieser politische Körper jedoch keine eigenständige soziale Realität besaß, bewegten sich die Juden in einem sozialen Niemandsland.«18 Das gilt für die gesamte vormoderne europäische Geschichte; Juden waren Hofjuden* und, je nach Ausprägung der Feudalordnung, Eigentum und Schützlinge des Königs, der Fürsten oder Kriegsherrn. Der Status dieser Juden diente politischen Zwecken und war entsprechend abgesichert. Aus dem gleichen Grund waren sie von allen sozialen Verpflichtungen entbunden und standen außerhalb der sozialen Ordnung, so daß Loyalitätskonflikte durch Klassenzugehörigkeit nur sehr selten entstanden. Die Juden waren eine Verlängerung des Staates inmitten der Gesellschaft und existierten, sozial gesehen, exterritorial. Aus diesem Grunde waren sie im gespannten und konfliktreichen Umgang zwischen Untertanen und politisch Herrschenden ein willkommener Prellbock, an dem sich die ersten und härtesten Schläge entluden. Da ihr einziger Schutz der des Staates war, waren sie auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen des Herrschers ausgeliefert und standen königlicher Willkür oder Geldgier ohnmächtig gegenüber. Die Inkongruenz der jüdischen Lage – im Vakuum zwischen Staat und Gesellschaft – schlug sich in einer ebenso inkongruenten Reaktion auf die sozialen und politischen Verwerfungen der aufkommenden Moderne nieder. Das Durchbrechen der uralten Abhängigkeit von den politisch Herrschenden setzte eine unpolitische soziale Basis und damit politische Autonomie voraus. Der Liberalismus versprach dies, indem er die Emanzipation des Individuums betonte. Damit die Juden aber tatsächlich vom liberalen Gedankengut profitieren konnten, waren, wie bei Privilegien früher, politische Entscheidungen notwendig. Die Emanzipation vom Staat schien nur vom Staat selbst ausgehen zu können. Während andere gesellschaftliche Gruppen sich darauf konzentrierten, die eigene soziale Stellung vor übertriebener Einmischung des Staates zu sichern, waren mehr Rechte für die Juden undenkbar ohne einen Staat, der bereit war, die Machtmonopole und Privilegien des überkommenen Ständestaates niederzureißen. Den etablierten Eliten mußten die Juden daher wie eine Keimzelle der Zerstörung vorkommen – nicht allein wegen ihres schnellen gesellschaftlichen Aufstiegs, sondern weil dieser Aufstieg den Zusammenbruch der alten Sicherheit symbolisierte. P. G. J. Pulzer hat Zeugnisse der damaligen Stimmung gesammelt: »Die gefährlichste Waffe des Judaismus ist die Demokratie der Nichtjuden«; »Der Jude nutzt die Gedanken der Aufklärung und des Individualismus für sich aus, um das deutsche Sozialgefüge aus dessen Kern heraus zu sprengen. Er muß sich daher gesellschaftlichen Einfluß nicht mehr erschmeicheln, sondern hat den Deutschen eine Sozialtheorie aufgezwungen, die den Juden in eine gesellschaftliche Spitzenstellung katapultiert.«19 Auf der anderen Seite führten die Anstrengungen der Juden, politische Protektion zu erlangen, dazu, daß das selbstbewußte und auf die eigenen Fähigkeiten stolze Bürgertum die Juden im Lager der Feinde ihrer sozialen und politischen Emanzipation ausmachte. Es entstand ein »liberaler Ableger des Antisemitismus, der Juden und Oberschicht über einen Kamm schor und diese als eine antibürgerliche, auf finanziellem Interesse gegründete Koalition hinstellte«.20
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