Kitabı oku: «Dialektik der Ordnung», sayfa 5

Yazı tipi:

Charakteristiken der jüdischen Sonderstellung

Der Begriff »Antisemitismus« wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt und war schnell popularisiert. Von Anfang an herrschte Einigkeit darüber, daß damit ein Phänomen bezeichnet sei, das weit in die Vergangenheit zurückreichte. Zwei Jahrtausende antijüdischer Ressentiments und Diskriminierung wurden als ungebrochene Kontinuität betrachtet. Historiker setzten die Anfänge des Antisemitismus nahezu einhellig mit der Zerstörung des Zweiten Tempels (70v. Chr.) und dem Beginn der eigentlichen Diaspora an, obgleich sogar Forschungen über sozusagen protoantisemitische Tendenzen im Babylonischen Exil betrieben wurden. (Der sowjetische Historiker Salomo Luria legte Anfang der zwanziger Jahre eine recht spekulative Untersuchung über »heidnischen« Antisemitismus vor.)

Ethymologisch gesehen ist der Begriff »Antisemitismus« unglücklich gewählt, da er sein Signifikat ungenügend (weil zu allgemein) definiert und das Objekt seiner Praktiken im Grunde verfehlt. (Die Nazis, die sicherlich radikalsten Verfechter des Antisemitismus, rückten im Verlauf des Krieges von dem Begriff zusehends ab, da seine vermeintliche Eindeutigkeit politische Sprengkraft enthielt, denn auch einige der treuesten Bündnispartner Deutschlands fühlten sich dadurch bedroht.) Da semantische Probleme in der grausamen Praxis jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielten, war die Zielsicherheit des antijüdischen Programms nie ernsthaft gefährdet. »Antisemitismus« war stets gleichbedeutend mit antijüdischen Ressentiments, beruhend auf dem Konzept von den Juden als fremdartige, feindselige und unerwünschte Gruppe, und bezeichnet die daraus hervorgehenden und dieses Konzept stützenden Praktiken.

Der Antisemitismus unterscheidet sich von traditionellen Formen des Hasses zwischen Völkern und Gruppen in einem wichtigen Punkt. Die Theorie und Praxis des Antisemitismus widmet sich einer besonderen Kategorie sozialer Beziehungen – im Mittelpunkt steht nicht das Verhältnis zweier territorial etablierter Gruppen, die sich gleichberechtigt gegenüberstehen, sondern das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit, »Wirts«-Population und einer relativ kleinen Gruppe, die in ihrer Mitte lebt und, weil sie die eigene Identität wahrt und der schwächere Partner ist, als stigmatisierter Gegensatz begriffen wird, aus dem sich das »wir« der einheimischen Mehrheit gegenüber »denen da« definiert. Die vom Antisemitismus Betroffenen haben in der Regel den semantisch verwirrenden und psychologisch verunsichernden Status von Fremden im Innern und halten damit eine wichtige gesellschaftliche Demarkationslinie nicht ein, die man sich klar definiert und unüberwindbar wünscht. Die Intensität des Antisemitismus verhält sich in der Regel proportional zur Heftigkeit des Bestrebens nach Grenzziehung und Grenzdefinition einer Gesellschaft.6 In den meisten Fällen manifestieren sich im Antisemitismus greifbar starke grenzbewahrende Tendenzen und die damit verbundenen Emotionen und Verhaltensweisen.

Offenkundig sind die besonderen Merkmale des Antisemitismus unauflöslich mit dem Phänomen der Diaspora verwoben. Aber auch die jüdische Diaspora unterscheidet sich von fast allen historischen Völkerwanderungen oder Siedlungsbewegungen. Ein fundamentales Charakteristikum der jüdischen Diaspora ist bereits die zeitlich-historische Dimension der Absonderung dieser »Fremden in unserer Mitte« – sowohl diachronisch wie synchronisch, also sowohl im Hinblick auf historische Kontinuität wie auch auf das jüdische Identitätsbewußtsein. Anders als bei normaler Einwanderung verfestigten sich die grenzdefinierenden Reaktionen auf die Präsenz der Juden über diesen langen Zeitraum und wurden als kodifizierte Rituale institutionalisiert, die die Dauerhaftigkeit der Trennung noch verstärkten. Ein weiteres einzigartiges Charakteristikum der jüdischen Diaspora ist die Totalität der jüdischen Heimatlosigkeit, die nur mit jener der Sinti und Roma vergleichbar ist. Die ursprüngliche Verbindung der Juden mit dem Lande Israel wurde mit den Jahrhunderten immer schwächer und war am Ende nur mehr eine geistige Dimension, wobei selbst diese von der Wirtsbevölkerung angefochten wurde, da das biblische Land inzwischen von den Christen selbst für das religiöse Erbe beansprucht wurde. Die Ressentiments gegenüber den absonderlichen »Fremdlingen« wurden zumeist noch übertroffen vom Zorn über deren Ansprüche auf das gelobte Land, zumal man die Juden als illegitime Heuchler ansah.

Die Juden faßten ihre ewige und unumkehrbare Heimatlosigkeit seit Beginn der Diaspora als integralen Bestandteil der eigenen Identität auf. Die Nazis leiteten daraus später das Hauptargument für die Verfolgung ab; Hitler versuchte mit der jüdischen Heimatlosigkeit zu begründen, warum die Feindschaft gegenüber diesem Volk eine ganz andere Dimension habe als normale Feindseligkeit zwischen rivalisierenden Nationen oder Rassen.

(Eberhard Jäckel7 hat rekonstruiert, daß die ewige und totale Heimatlosigkeit die Juden in Hitlers Augen grundsätzlich von allen anderen Völkern unterschied, die er haßte und zu unterwerfen oder auszulöschen gedachte. Hitler glaubte8, daß die Juden wegen des fehlenden Staatsterritoriums von der normalen, kriegerischen Form des Machtkampfes durch Eroberungen ausgeschlossen seien und daher zu schmutzigen, betrügerischen und hinterlistigen Methoden greifen müßten, was sie zu einem besonders ernstzunehmenden, gefährlichen Gegner mache; nicht zuletzt weil dieser Gegner wohl kaum je zu saturieren sei, müsse er vollständig vernichtet werden.)

Nun darf man allerdings nicht übersehen, daß die besondere Qualität des jüdischen Andersseins im vormodernen Europa eine gewisse Integration in die vorherrschende soziale Ordnung durchaus nicht verhinderte. Diese Integration war möglich, weil die von den grenzziehenden und -definierenden Prozessen herrührenden Spannungen und Konflikte relativ schwach ausgeprägt waren. Hinzu kam noch, daß der vormoderne Ständestaat ohnehin sozial stark segmentiert war. In einer in Stände oder Klassen unterteilten Gesellschaft waren die Juden nur ein Stand unter vielen. Der einzelne Jude wurde – wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft – definiert durch die Privilegien und Stigmata des Standes, dem er angehörte. Die Juden waren stärker isoliert, aber darin lag nichts Außergewöhnliches. Ihr Status war, wie in allen kastenartigen Gruppierungen, hervorgegangen und diktiert durch das Gebot der Reinheit und das Verbot der Vermischung. Bei allen Unterschieden dienten diese Praktiken einem einheitlichen Zweck und sollten einen sicheren und, wenn möglich, unüberbrückbaren Abstand schaffen. Die Isolation der Gruppen untereinander wurde auf verschiedene Art erreicht, so etwa durch Segregation, wobei ein Minimum an Kontakt in streng kontrollierter und ritualisierter Form möglich war. Es gab auch die Möglichkeit, die Mitglieder einer sozialen Gruppe rein äußerlich als Fremde zu markieren, wenn nicht sowieso geistig-religiöse Unterschiede gepflegt wurden, die eine kulturelle Osmose oder Nivellierung kultureller Gegensätze weitgehend ausschlossen. Über Jahrhunderte lebten die Juden in eigenen Vierteln und waren an ihrer besonderen Kleidung erkennbar, die mitunter per Gesetz vorgeschrieben war, wenn nämlich die Stringenz der Trennung nicht durch das Brauchtum abgesichert war. Die Trennung der Lebensbereiche erwies sich als nicht ausreichend, da Ghetto und Wohnland in den meisten Fällen so sehr verschränkt waren, daß sie regelmäßig in Berührung kamen. Die räumliche Trennung mußte folglich ergänzt werden durch strikt ritualisierte Umgangsformen, wo gewisse Berührungspunkte unumgänglich waren. Soziale Beziehungen, die sich nicht formalisieren und funktional begründen ließen, waren im allgemeinen verboten oder nicht gern gesehen. Wie bei den meisten Ritualen, die Kasten bewahren und Vermischung bekämpfen sollen, üblich, waren Eheschließung und gemeinsame Lebensführung streng verboten; selbst der allgemeine gesellschaftliche Umgang war auf die nötigsten Bereiche beschränkt.

Man darf nicht übersehen, daß alle diese anscheinend antagonistischen Maßnahmen durchaus Instrumente der sozialen Integration darstellten. Insgesamt minderten sie die von einem »Fremden im Innern« unvermeidlich ausgehenden Gefahren für die Identität der Gastgruppe. Auf diese Weise entstanden Bedingungen, unter denen das Zusammenleben ohne Reibung prinzipiell möglich war. Der Verhaltenskodex gewährleistete, wurde er strikt genug eingehalten, die friedliche Koexistenz in einer spannungsgeladenen, potentiell explosiven Situation. Simmel hat beschrieben, wie eine Institutionalisierung des Rituals Konflikte in Instrumente der Sozialisation und sozialen Kohäsion transformiert. Solange die Rituale der Trennung wirksam blieben, bestand kein Grund für Feindseligkeit. Der gesellschaftliche Umgang wurde auf streng ritualisierte Bereiche reduziert, die Regeln wurden genau eingehalten und jede Übertretung mit Abscheu registriert. Natürlich mußten auch die Mitglieder der isolierten Gruppe den ihnen zugewiesenen minderwertigen gesellschaftlichen Status akzeptieren und damit zugleich, daß die Mehrheit diesen Status definieren, kontrollieren und jederzeit ändern durfte. Betrachtet man die Diaspora historisch, gilt dabei zu bedenken, daß das Rechtswesen in der Regel kaum mehr war als ein System von Privilegien und legitimierter Ausbeutung. Gleichheit vor dem Gesetz, insbesondere in sozialer Hinsicht, war lange unbekannt oder zumindest ein unerreichbares Ideal. Am Vorabend der Moderne kann man sich die jüdische Sonderstellung durchaus als exemplarisch für die lückenlos hierarchische Segmentierung der als gottgewollt gedachten Ordnung vorstellen.

Jüdische Inkongruenz von den Anfängen des Christentums bis in die Moderne

Das heißt nicht, daß die Segregation der Juden nicht schon früh als Sonderfall betrachtet und theoretisch mit besonderer Signifikanz bedacht wurde. Für die gelehrten Kreise des vormodernen Europas – christlicher Klerus, Theologen und Philosophen, deren Geschäft es war, den Sinn des Zufälligen und die Logik des scheinbar eruptiven Weltgeschehens freizulegen – waren die Juden eine Merkwürdigkeit; eine Wesenheit, die sich kognitiver Klarheit und der moralischen Harmonie der Welt widersetzte. Weder zu den konvertierenden Heiden, noch zu den göttliche Gnade verschmähenden Ketzern gehörend, standen die Juden nicht innerhalb und nicht außerhalb der eifernd verteidigten Grenzen des Christentums. Sie besetzten gewissermaßen die Barrikaden und straften deren Unüberwindlichkeit Lügen. Die Juden waren zugleich die altehrwürdigen Väter des Christentums und dessen hassenswerte, verabscheute Lästerer. Die jüdische Ablehnung der christlichen Lehre ließ sich nicht als heidnische Ignoranz betrachten, es sei denn unter Gefahr für die christliche Wahrheit. Und sie war andererseits auch nicht als – prinzipiell – korrigierbarer Irrtum verlorener Seelen hinstellbar. Die Juden waren nicht Ungläubige vor oder nach der Konversion, sondern Menschen, die sich der christlichen Wahrheit nicht beugen mochten. Der jüdische Glaube stellte eine permanente Herausforderung für die Unfehlbarkeit der christlichen Lehre dar. Dieser Herausforderung zu begegnen oder ihr wenigstens einen Teil der Gefährlichkeit zu nehmen, war nur möglich, wenn man den Starrsinn der Juden als böse Absicht und moralische Korruptheit auslegte. Hinzu kommt ein Aspekt, in dem wir das folgenreichste Merkmal des Antisemitismus erkennen: die Existenz der Juden wurde an die christliche Heilslehre geknüpft, Anfang und Ende beider Religionen schienen zusammenzugehören. Das unterschied die Juden von allen anderen störenden und nicht assimilierten Segmenten der christlichen Welt. Im Gegensatz zu den Ketzern bildeten die Juden weder örtlich begrenzte Unruheherde, noch waren sie historisch durch Ursprung oder Ende einzuordnen. Das Judentum war eine allgegenwärtige, kontinuierliche Begleiterscheinung der Christenheit, sozusagen ein alter ego der christlichen Kirche.

Die Koexistenz von Christentum und Judentum definierte sich demzufolge nicht schlicht aus Konflikt und Feindschaft. Sicher gab es auch diese, doch das christlich-jüdische Verhältnis war komplexer. Das Christentum war nicht in der Lage, sich zu entwickeln – und schon gar nicht seine ökumenische Vormachtstellung zu betreiben, ohne gleichzeitig die jüdische Sonderstellung zu kontrollieren und zu festigen – mit der Vorstellung nämlich, Erbe und Überwinder Israels zu sein. Die christliche Identität speiste sich aus der Sonderstellung der Juden. Das Christentum wurde geboren aus der Ablehnung durch die Juden und bezog seine Vitalität aus der Feindschaft gegen die Juden. Christliches Theoretisieren über die eigene Daseinsberechtigung entsprang dem Bewußtsein, Widerpart der Juden zu sein. Je starrsinniger die Juden, desto dringender die Aufgabe, die christliche Mission zu vollenden. Man sehnte den Tag christlichen Triumphes herbei, an dem die Juden ihren Irrtum würden eingestehen müssen – in einer Vision der massenhaften jüdischen Konversion zum christlichen Glauben. Die Christenheit verlieh den Juden – eines alter ego wahrhaft würdig – einen eschatologischen Sinn. Die jüdische Gegenwart und Bedeutung wurde überhöht, den Juden eine machtvolle, aber auch finstere Faszination zuerkannt, die sie anders nie hätten erlangen können.

Die territoriale und historische Präsenz der Juden unter den Christen war daher weder marginal noch zufällig. Ihre Unterschiedlichkeit war nicht vergleichbar mit der anderer Minoritäten, denn sie bildete einen Aspekt christlicher Identität. Das christliche Dogma ging im Hinblick auf die Juden weit über generalisierte Abgrenzungspraktiken hinaus; es zielte auf mehr als die Systematisierung jener vagen und diffusen Erfahrung des Andersseins, die mit einer kastenähnlichen Segregation verbunden ist. Das christliche Dogma über die Juden reflektierte nicht alltägliche soziale Reibungen, sondern folgte einer anderen Logik – der der Selbsterneuerung der Kirche und ihrer ökumenischen Vormachtstellung. Hier liegt der Grund für die relative Autonomie der »jüdischen Frage« in der sozialen, ökonomischen und kulturellen Erfahrung. Und aus diesem Grund ließ sich diese Frage relativ leicht aus dem Kontext des täglichen Lebens herauslösen und gegenüber der Prüfung durch die Alltagserfahrung immunisieren. Die christlichen »Gastgeber« erlebten die Juden konkret im täglichen gesellschaftlichen Umgang, gleichzeitig aber vor dem Hintergrund von Kategorien, die losgelöst von diesem Umgang definiert waren. Dieses zweite Merkmal der Juden war weder konstituierend, noch ergab es sich zwangsläufig aus dem ersten, es stand daher relativ problemlos – d. h. isoliert – für Handlungen zur Verfügung, die so gut wie keinen Zusammenhang mit der Alltagspraxis hatten. Im christlichen Dogma bildete sich ein Antisemitismus heraus, der »kaum einen Bezug zur realen gesellschaftlichen Situation der Juden hatte. Dieser Antisemitismus zeigte sich verblüffenderweise bei Menschen, die noch nie einem Juden begegnet waren, oder trat in Ländern auf, in denen es seit Jahrhunderten keine Juden gab«.9 Diese Form des Antisemitismus erwies sich als äußerst resistent und wirkte über die Zeit der geistigen Herrschaft der Kirche hinaus bis in das säkularisierte Weltbild. Das moderne Zeitalter erbte ein Bild »des Juden« schlechthin, das sich grundsätzlich von den jüdischen Männern und Frauen in der Nachbarschaft unterschied. Dem Judentum wurde von den säkularisierten Instanzen sozialer Integration eine Rolle zugewiesen, die Merkmale des alter ego des Christentums in sich aufnahm.

Das auffälligste und folgenreichste Merkmal des von der christlichen Kirche geförderten »Judenbildes« war die ihm innewohnende Widersprüchlichkeit. Es verknüpfte disparate, nicht in Einklang zu bringende Elemente. Die Inkohärenz des Bildes hatte mythische Dimension, die auf dämonische Kräfte hinzuweisen schien und die daher so faszinierend und abstoßend und zuallerst so furchteinflößend war. Im Bild des Juden kam der immerwährende Kampf der christlichen Kirche um die eigene Identität, den eigenen zeitlichen und räumlichen Ort zum Ausdruck. Das Judenbild war semantisch derart überladen, daß der typisierte Jude Eigenschaften vereinigte, die man sich sorgfältig getrennt wünschte. Er galt daher als natürlicher Feind aller Kräfte, die auf streng definierte, unüberwindbare Grenzlinien bedacht waren. Der typisierte Jude war »schleimig« (visqueux nach Sartre oder »slimy« – so Mary Douglas) – kompromittierte damit die Ordnung der Dinge und widersetzte sich ihr, war zugleich aber auch der Inbegriff dieses Widerstandes (die Wechselwirkung der universellen kulturellen Aktivität des Grenzziehens und der ebenfalls universellen Zuweisung des Schleimigen habe ich ausführlich im dritten Kapitel meines Buches »Culture as Praxis« erörtert). Der typisierte Jude erfüllte einen wichtigen Zweck. Er symbolisierte die grauenhaften Folgen der Grenzüberschreitung, die jedem drohten, der nicht an seinem Platz blieb und versuchte, bedingungsloser Loyalität oder eindeutiger Entscheidung auszuweichen; der Jude war Prototyp und Urbild von Nonkonformismus, Heterodoxie, Anomalität und Verirrung. Der typisierte Jude galt als sichtbarer Beweis für die wahnwitzige, unheimliche Vernunft des Abweichlerischen und diskreditierte von vornherein jeden Gegenentwurf zur kirchlich definierten, tradierten und praktizierten Ordnung. Der Jude war aus diesem Grunde der zuverlässigste Wächter dieser Ordnung. Der typisierte Jude trug eine Botschaft; jeder Versuch einer anderen Ordnung im Hier und Jetzt muß scheitern und wird nur Chaos und Untergang verursachen.

Die Produktion der jüdischen Inkongruenz ist ein Nebenprodukt der Selbstkonstitutierung und Selbstreproduktion der christlichen Kirche und meiner Ansicht nach ein Hauptgrund dafür, daß die Juden zu den »inneren Dämonen Europas« zu zählen sind (»Europe’s Inner Demons« ist der Titel der denkwürdigen Untersuchung von Norman Cohn über die Hexenverfolgung in Europa). Einer der wichtigsten Befunde Cohns (den viele andere Arbeiten zu diesem Thema nachdrücklich bestätigt haben) ist die auffällig geringe Korrelation zwischen der Intensität des Hexenwahns und entsprechend irrationaler Ängste einerseits und dem Fortschritt wissenschaftlichen Denkens und dem Vordringen der Rationalität im Alltagsleben andererseits. Das Gegenteil ist der Fall: Die explosionsartige Vermehrung modern-wissenschaftlicher Methoden und die Beschleunigung der Rationalisierung des Lebens in der Frühphase der Moderne ging einher mit dem grimmigsten und unbarmherzigsten Abschnitt in der Geschichte der Hexenverfolgung. Die Irrationalität des Hexenwahns und der Hexenverfolgung sollte keineswegs als retardierendes Element im Siegeszug der Vernunft aufgefaßt werden. Diese Irrationalität erklärt sich vielmehr aus Ängsten und Spannungen, die aus dem Zusammenbruch des ancien régime und dem Heraufdämmern der neuen Ordnung erwuchsen. Alte Sicherheiten schwanden, während sich neue noch nicht abzeichneten und überhaupt die Festigkeit der alten nie wieder erreichbar schien. Jahrhundertealte Separationslinien wurden mißachtet, sichere Distanz schrumpfte, Fremde tauchten auf und siedelten in unmittelbarer Nachbarschaft, Identitäten lösten sich auf und verloren ihre Gewißheit. Was von den alten Demarkationslinien übrig blieb, bedurfte erbitterter Verteidigung, neue Identitäten verlangten nach neuen Grenzziehungen – inzwischen aber unter den erschwerenden Bedingungen eines alles erfassenden und rasenden sozialen Wandels. Die Bekämpfung des »Schleims«, des archetypischen Feinds von Klarheit, Abgrenzung und Identität, war zur Erfüllung beider Aufgaben von größter Bedeutung. Daß dieser Kampf eine nie gekannte Grausamkeit erreichen sollte, lag daran, daß die Umbrüche und die damit verbundenen Aufgaben nie gekannte Dimensionen erreichten.

Es ist die These dieser Untersuchung, daß die prägnantesten Merkmale des Judenbildes aus der aktiven oder passiven, direkten oder verborgenen Verwicklung des typisierten Juden in das intensive Ringen der Moderne um Grenzziehung und Grenzerhaltung entstanden sind. Ich behaupte, daß der typisierte Jude historisch gesehen als universelle Viskosität in der westlichen Welt konstruiert wurde. Die Juden saßen auf ziemlich allen Barrikaden, die für die unterschiedlichen Konflikte in der Entwicklung der westlichen Gesellschaft aufgetürmt worden waren. Die Tatsache, daß der typisierte Jude auf so vielen verschiedenen Barrikaden gesichtet wurde, verstrickt in Konflikte unterschiedlichster Art, ließ seine Viskosität exorbitant erscheinen. Die Multi-Dimensionalität der jüdischen Unschärfe bildete eine zusätzliche kognitive Inkongruenz, die selbst mit der »Viskosität« in den einzelnen Grenzziehungskonflikten nicht mehr vollkommen faßbar war.

₺472,01

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
422 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783863935733
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu