Kitabı oku: «Fridolins heimliche Ehe», sayfa 8
VI
Ottilie schritt unten im Speisezimmer, das auf den Garten hinausführte, schon lange ungeduldig auf und ab. Die Tafel war, Gott weiß wie lange, gedeckt, die Suppe war erschienen und war wieder entfernt worden; denn von den drei Herren der Gesellschaft ließ sich noch immer nicht ein einziger sehn. Das Fräulein trat wieder einmal (ungefähr zum zehntenmal) an die Glasthür, um in den Garten hinauszuschauen und vielleicht dort einen dieser Männer zu entdecken. Sie legte ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Sie trommelte mit allen zehn Fingern darauf. Alles war umsonst. Endlich trat sie zum zehntenmal in das Zimmer zurück und wandelte wieder – wie die Figuren eines mechanischen Theaters, die immer von neuem vorüberspazieren, vorüberreiten oder vorüberrauchen – bis an die andere Thür.
Die kleine Judica kam hereingesprungen. »Nun?« fragte Ottilie, »hast du den Papa, oder den Onkel, irgendwo entdeckt?«
»Den Papa – nein.«
»Aber den Onkel?«
»Tante Ottilie,« fragte das Kind, anstatt zu antworten, »ist es eigentlich eine Sünde, wenn man horcht?«
»Warum fragst du danach? – Hast du den Onkel gesehn?«
Etwas unsicher, was sie sagen solle, schüttelte Judica den Kopf. »Ich hab' ihn nicht gesehn – aber ich hab' ihn gehört.«
»Wo?«
»In seinem Zimmer. Weißt du, was er da that? Er ging da grade so auf und ab, wie du hier unten. Du, Tante Ottilie! Wenn einer an eine Thür kommt und hört, daß in dem andern Zimmer einer laut mit sich selber spricht, und wenn einer dabei so sonderbar ist, und wenn einer dann horcht, – ist das Sünde?«
»Was hast du denn behorcht?« fragte Ottilie unruhig, ohne auf die Frage zu antworten.
»Zuerst sagte er immer: ›Ottilie! Ottilie!‹ und ich dachte, Tante Ottilie, du wärst da oben bei ihm; aber du warst doch hier unten. Und dann – — Du! Warum nennt er dich sonst immer Sie, und warum nannte er dich nun Du?«
»Das weiß ich nicht; aber du bist ein kleines dummes Ding und hast gewiß alles falsch verstanden; – und nun ist's genug.«
»Oho! es fängt ja erst an! – Tante Ottilie, hat denn jeder Mensch eine heimliche Ehre? Onkel Fridolin hat eine heimliche Ehre; das hat er dreimal gesagt.«
»Was redest du da alles; ich verstehe nichts,« fiel Ottilie ihr ins Wort.
»Ich auch nicht,« sagte Judica treuherzig. »Ich weiß auch gar nicht, warum er dich so bedauert; bist du denn so unglücklich? Immer wieder hat er dich bedauert; und sich auch; – aber dann kam eine andere dazwischen; denn auf einmal sagte er: ›Eva des Herzens!‹ Und die hat er dann auch bedauert; und dann —«
Das Kind schmiegte sich näher an Ottilie und flüsterte, wie wenn ein Küchlein, das den Habicht gesehen hat, unter dem Flügel der Mutterhenne piepst: »Und dann, glaub' ich, hat er geweint.«
Ottilie stand in wachsender Unruhe da. Was war geschehn?
»Und dann, Tante Ottilie, kam offenbar irgend ein Mensch zu ihm ins Zimmer, der etwas von ihm wollte —«
»Was?« fragte Ottilie unwillkürlich.
»Ich weiß nicht; aber Onkel Fridolin wollte nicht. Er wurde sehr laut und sagte: ›Ich kann nicht! Ich darf nicht! Mein Schicksal!‹ – Und dann rief er: ›Ich dich unglücklich machen! Und mich!‹ – Und dann rief er: ›O Gott!‹ – Und da ging denn wohl auch der andre Mensch wieder fort; denn es wurde still. Da bin ich endlich an die Thür gegangen und wollte sie aufmachen; aber sie war verschlossen. Onkel Fridolin fragte furchtbar laut: ›Wer ist da?‹ Und ich war' vor Schreck beinahe fortgelaufen. Ich dacht', er hätte gemerkt, daß ich gehorcht hatte; – glaubst du, Tante Ottilie, daß er's gemerkt hat?«
»Siehst du: dein böses Gewissen!« sagte Ottilie; doch mit Anstrengung. »Nun, und was dann?«
»Dann bin ich doch stehen geblieben, weil du mir gesagt hast, daß ich vor Menschen, die mir nichts zuleide thun, nie davonlaufen soll. Und hab' hineingerufen: Onkel Fridolin, warum du denn nicht zum Essen kommst? – ›Geh' nur!‹ sagte er dann, ›ich komme gleich! Geh', laß mich allein!‹ Und da bin ich fortgegangen, und die Treppe herunter.«
»Also wird er ja kommen!« murmelte Ottilie vor sich hin. »Also wird er ja kommen!« wiederholte sie laut, wie um ihrem unmäßig klopfenden Herzen zuzusprechen. Sie nahm ihr Taschentuch, das sie vorhin mit kölnischem Wasser getränkt hatte, und legte es sich gegen die Schläfen, die Stirn. Ich verstehe nichts, dachte sie; nichts. Aber es ist ja wohl in diesem Leben nicht das erste Mal! – Warten und sich fassen.
Sie ging wieder an die Glasthür; Judica kam ihr nach. »Tante Ottilie!« sagte das Kind, indem es an ihrem Kleide zupfte, »der Carlo. Er hat eine lettera; einen Brief.«
Carlo, der Sohn des Hausknechts, stand mit einem Billet in der Hand hinter Judica. »Gib her,« sagte Ottilie hastig und nahm es ihm aus der Hand. Es war an sie. Von wem? – Sie schickte den Jungen fort und öffnete. »Leopold Rheinau« war die Unterschrift. Die Buchstaben erschienen ihr ungeheuer groß, übermenschlich groß, – vielleicht weil sie eine ungewöhnlich kleine Handschrift zu sehen erwartet hatte. Sie lächelte über ihre Aufregung und las:
»Verehrtes Fräulein! Warum schreibe ich Ihnen? Ich weiß es nicht. Es wäre vielleicht würdevoller, wenn ich schwiege. Ich weiß es nicht. Es zieht mich auf eine wirklich unwiderstehliche Weise, Ihnen zu sagen, daß ich nun alles weiß, und alles begreife.
»Vielleicht hat die Natur, die so gern ihre kleinen Geheimnisse vor uns hat, Ihnen vorbehalten, einen Menschen, der unheiratbar schien (Gott im Himmel, was für ein Wort; verzeihen Sie), zu einer richtigen ganzen ›Hälfte‹ zu machen. Glauben Sie mir, ich bin kein besonders guter Mensch; und mir ist schlecht zu Mut; aber ich wünsche Ihnen alles Glück, alles Gute. Alles. Ich sehe jetzt, ich bin nicht ganz so schlecht, wie ich als Skeptiker, als Physiolog von mir dachte. Alles Glück, alles Gute! Und verzeihen Sie mir, daß ich zu denken wagte, es könnte sein, – was nicht ist.
»Ich bin schon fort, wenn Sie dieses lesen; mit dem Dampfschiff, nach Peschiera, und dann so weiter. Grüßen Sie die andern; sagen Sie ihnen, – was? – Plötzliche Notwendigkeit, abzureisen; bitte, sagen Sie das. Ich werde Sie ewig verehren. Solange ich lebe, mein' ich; solange ich atme. Solange ich Ich bin. Ich werde verzweifelt gelehrte Bücher schreiben und – — – Und leben Sie wohl!«
Was für ein sonderbarer Brief das ist, dachte Ottilie. Wie er mich rührt.
»Kind, was zupfst du schon wieder?« fragte sie Judica, die sich mit dem ganzen Gewicht ihrer kleinen Person an Ottiliens Kleid hängte.
»Paolo!« antwortete das Kind. »Er hat eine lettera; einen Brief.«
Paolo, der Kellner, trat in der doppelten Würde seiner Stellung und seiner Nation vor das Fräulein hin. »Hier ist die Rechnung,« sagte er in seinem zischenden Mailänder Italienisch; »der Schignor Filippo hatte sie verlangt. Die Wochenrechnung. Und hier ist ein Brief.«
»Geben Sie, geben Sie!« sagte Ottilie. – Paolo ging.
Sie öffnete das Billet; ihr erster Blick flog wieder zur Unterschrift. Sie las:
»Hochachtungsvoll
ergebenst
der durch Sie glückliche Vater Judicas.«
Der Vater Judicas schreibt mir? – Warum? – Sie wendete das Blatt und las den Anfang: »Mein verehrtes Fräulein! Ein plötzlicher, an sich unbedeutender Anlaß zwingt mich, mit dem nächsten Omnibus -«
Abzureisen? Der auch?
»Der nach Mori an die Eisenbahn geht —«
Ist der nicht schon seit einer Stunde fort? dachte sie. Ja; seit einer Stunde! – Sie las weiter; sie las bis zum »hochachtungsvoll ergebenen« Schluß. Das Blut trat ihr in die Wangen, mehr als einmal. Endlich lachte sie, legte Pastor Philipps Brief in dieselbe unnatürliche Form wieder zusammen, in der sie ihn empfangen hatte, und nahm die Rechnung zur Hand.
Sie las sie Wort für Wort, Ziffer für Ziffer, von oben bis unten; dann bemerkte sie, daß sie nicht ein Wort, nicht eine Ziffer wirklich verstanden hatte. »Wir haben keine Andacht dafür!« sagte sie vor sich hin. »Mein Gott, was für ein Tag!« Plötzlich fuhr sie zusammen. Warum? Weil sie Schritte hörte; weiter nichts. Wessen Schritte? – Sie sah nicht zurück; sie blieb gegen die Glasthür gewendet stehn. Gleich darauf fühlte sie wieder an ihrem Kleid – als arbeite jedesmal ein elektrischer Apparat – Judicas Zupfen.
»Was gibt's?« fragte sie.
»Du, Tante Ottilie!« sagte das Kind. »Der Herr von diesem Hause. Der Herbergo.«
»Hat er auch eine lettera?« fragte Ottilie und drehte sich herum. Auf einmal wurde sie blaß. Der kleine Wirt, der mit sehr ernstem Gesicht, ungefähr mit dem Ausdruck eines die Anklage begründenden Staatsanwalts, vor ihr stand, hielt wirklich auch einen Brief zwischen seinen gelblichen Fingern.
»Wegen der Rechnung, Signora; ich komme wegen der Rechnung,« sagte er (auf italienisch) fast etwas unverschämt.
»Eilt es Ihnen so sehr?« fragte sie erstaunt. »Wollen Sie sich gefälligst an den Herrn Professor wenden, sobald er kommt.«
»Sie sind sehr gütig,« erwiderte der Wirt mit beleidigendem Lächeln. »Ter Signor Filippo weist mich an, die Rechnung Ihnen zu überreichen; Sie weisen mich an den Signor Professore; der Signor Professors weist mich an den Signor Filippo. Aus diesem Kreislauf komm' ich nicht heraus, – und ebensowenig mein Geld.«
»Mein Herr!« sagte Ottilie, die über und über erglühte; »ich verstehe Sie nicht. Wie kann es Ihnen einfallen, in diesem Ton – — – Ich werde den Herrn Professor ersuchen, augenblicklich zu kommen!«
»Werden Sie ihn wirklich ersuchen? – Ich führe dieses Hotel seit zehn Jahren, meine Dame, ich kenne diese kleinen Kunstgriffe alle. Alle. Bemühen Sie sich nicht. Ich weiß schon, woran ich bin; Dio mio! wie hatt' ich mich in diesen Herren getäuscht! – Sie sind noch da. Ich halte mich an Sie. Ich ersuche Sie um mein Geld.«
»Mein Herr, Sie sind verrückt!« fuhr es aus Ottilien heraus. »Sowie der Herr Professor kommt —«
»Glauben Sie, daß er kommt?« fiel ihr der Wirt ins Wort. »Ich glaube es nicht. Er hat sich schon empfohlen, Madame. Ich Ahnungsloser! Ich wußte noch nichts vom Verschwinden des Signor Filippo; darum ließ ich ihn fort! In diesem Billet wird das Geld für die Rechnung wohl nicht stecken, Madame; ich fürchte, nein.«
»Was für ein Billet? Geben Sie her!« – Sie nahm es ihm aus der Hand und riß es auf, ohne nach der Aufschrift zu sehn. Kleine, sehr kleine Buchstaben hüpften ihr entgegen; hüpften wie Flöhe, da ihr alles vor den Augen auf und nieder flog. Endlich, nachdem sie die Lider mehrmals mit Gewalt geschlossen, las sie und erriet sie, was da geschrieben stand:
»Mein lieber Philipp!«
Also nicht an mich, dachte sie; doch in der Not des Augenblicks, in der Angst ihres Herzens las sie weiter:
»In dieser unglückseligen Stunde, wo ich Dir so unbrüderlich den Krieg erklärt, meiner selbstsüchtigen Leidenschaft das erste und letzte Wort gelassen habe, sprach nicht Ich aus mir, sondern Es; dieses schreckliche Es, das nicht ›Wir‹ ist, aber sich oft mit so verhängnisvoller Macht bemüht, es zu sein. Nenne es, wie Du willst; ich nenne es Es. Jetzt komme ich wieder zu mir. Ich werde wieder der Mann, der sein Schicksal begreift; der ihm stille hält; der seine im Leid geübten Schultern hinhält, das auf ihn gelegte Verhängnis zu tragen. Ich weiß, ich weiß, ich soll keiner von den ›Glücklichen‹ sein. Ich weiß, daß ich für Dein Glück zu sorgen habe; dies ist meine Pflicht; andres zu wollen, habe ich kein Recht. Ich weiß es. Ich verzichte. Ich ward zum Verzichten geboren. Was ist einfach zu thun? Daß wir Dich glücklich machen. Gut, wir wollen es thun. Unserer sterbenden Mutter hab' ich es gelobt. Wir wollen es thun. Kümmere Dich nicht um das, was mir dabei geschieht. Ich drücke mein Herz zusammen, daß es nicht verblutet, und bleibe mit mir allein; in meiner heimlichen Ehe.
»Vergessen! Ottilie vergessen! – — Ich werde versuchen, es zu machen, wie ich's damals machte, als der Arzt mir sagte: Geben Sie die Zigarren auf; rauchen Sie nicht mehr. Damals ergriff ich die einzig richtige Maßregel gegen mich. Ich sagte mir: mein Lieber, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, morgens und abends zu rauchen. Ich gab mir diese Unmöglichkeit zu, und rauchte nur noch ›nach Tische‹. Anfänglich noch meine vier Zigarren hintereinander; allerdings. Ich ließ mich einige Tage gewähren; dann sagte ich mir: Drei Zigarren sind schicklich und deiner würdig; mehr nicht. Ich gab es mir zu. Dann: zwei. Dann: eine. Dann ging ich zum Arzt und sagte: ›Soll ich Ihnen auch diese eine noch opfern? Verlangt es die Wissenschaft? Gut! So soll es geschehn!‹ – Nein. Er ließ mir die eine. Ich rauche sie noch.
»So will ich's auch hier versuchen! – — Vielleicht laßt ihr mir dann wenigstens einen Seufzer, einen Gedanken . . . Werde glücklich, Philipp! Ich eile, euch zu verlassen. Ein Einspänner führt mich nach Arco, und von da nach Trient. Wohin weiter? Laß mich daran nicht denken . . . Lege meinen Anteil an der Rechnung aus. Kein falsches Mitleid mit mir! Ich kann nicht mehr schreiben, nicht mehr denken. Sag Ottilien – das heißt, sag ihr nicht – daß ich fliehe, weil ich verzichte; daß ich verzichte, weil ich bin
Dein unglücklicherFridolin.«
– — »Nun? und meine Rechnung?« fragte der Wirt, als sie schon lange ausgelesen hatte und noch immer nichts vernehmen ließ. »Werden Sie mich gefälligst zahlen, Madame?«
Auf diese Frage starrte Ottilie ihm wie erwachend ins Gesicht. Es stand ihr mit erstaunlicher Klarheit alles auf einmal vor Augen: daß sie kein Geld hatte, daß Fridolin auf sie verzichtete, und daß sie mit Judica und der unbezahlten Rechnung in der Fremde allein war.
Von dieser Tragikomödie überwältigt sank sie auf einen Stuhl. Sie hatte noch Besinnung genug, ihre Lage grausam komisch zu finden; und indem sie das dachte, fing sie an zu weinen.
Drittes Buch
I
Der beste aller Leser folgt mir abermals in das Haus in Berlin, in der Königgrätzer Straße; über den Hof, in den dritten Stock. Er folgt mir in das kunstgeweihte Arbeitszimmer, in dem er sich – da er nicht allzu wohlbeleibt ist – noch eben umdrehen kann; lehnt sich gegen den großen Bücherschrank und stellt sich dem Apollo von Belvedere gegenüber; und da er dem Apollo von Belvedere gegenüber steht, sieht er auch zu dessen Füßen, in der »zierlichen Bettstatt«, »mit feiner Wolle bedecket«, den schlafenden Fridolin. Es ist früher Morgen. Er schläft. Er scheint kummervoll zu träumen; denn sonst wäre die Falte zwischen seinen Brauen – diese Falte, der er ein wehmütiges Gedicht gewidmet hat – nicht so tief. Er seufzt. Ueber diesem Seufzer wird er vermutlich erwachen. Ganz? Noch nicht. Er öffnet die Augen, sie sehen aber noch nicht. Erst sein Geruchssinn, der stärkste, feinste seiner Sinne, erwacht; die schöne Nase, die »Lerche« unter seinen Organen, wie er sie nennt, die jeden Morgen das Leben zuerst begrüßt. Sie schwellt ein wenig die Flügel. Sie erinnert sich der Veilchen, die zwei Schritte entfernt auf einem der »Stockwerkel« stehn (Sprachverderber nennen es Etagere). Ueber diesem Genuß erwachen auch die Augen, gehen der Nase nach und erblicken das tiefe Blau, das aus den kleinen duftenden Blumen herüberschwimmt. Sie saugen es ein. Ihr eigenes blasseres Blau scheint sich an diesem tieferen zu wärmen. Die Falte zwischen ihnen wird weicher; es regt sich etwas wie Heiterkeit um den schönbärtigen Mund. Aber wie lange? Nur einen Augenblick. Der Professor richtet sich auf; er schlägt die türkische Decke zurück, die ihn verhüllt, läßt die Augen in dieser gefüllten Oede, dieser kunstvollen Einsamkeit umhergehn, und eine traurige Schwermut schleiert sich über sein Gesicht . . . Wieder regt sich die »Lerche«, die schöne Nase. Sie zieht sich hinauf. Will sie den Morgen ansingen? – Nein. Aber sie niest.
Der Professor wirft sich auf sein Lager zurück, zieht wieder die Decke über seine Schultern, und blickt mißmutig, beinahe kläglich aus ihr hervor. »Warum hab' ich geniest?« sagt er. »Weil ich mich erkälte. Warum erkält' ich mich? Weil man mich nicht mehr abreibt; weil man mich nicht mehr mit kaltem Wasser behandelt. Warum reibt man mich nicht mehr ab?« – Er zieht an der Klingelschnur, die rechts neben ihm hängt. Wird man nun gleich kommen oder nicht? Wird man ihn wieder vernachlässigen oder nicht? – Nein; man kommt. Frau Therese Ritter – ebenso reinlich, ebenso angenehm, ebenso phlegmatisch wie vordem – tritt ein.
»Herr Professor haben geklingelt,« sagt sie, unter der schneeweißen Haube hervor, und blickt sanft und still zu ihm hinüber.
»Ja, ich erlaubte mir, zu klingeln,« antwortet er. »Wollen Sie zunächst die Gnade haben, mir zu sagen, was Onkel Reaumur heute meldet?«
»Draußen zwölf plus; drinnen« (sie blickte auf ein Thermometer neben der Thür) »vierzehn Grad, Herr Professor.«
»Dieser nordische April fängt an, Mai zu werden! – Wie kann ich bei vierzehn Grad im Zimmer niesen? Das ist unnatürlich. Das ist ein Aufschrei der verweichlichenden Kultur. Seit zwei Tagen erst aus dem Land, wo die wirkliche Sonne scheint, zurück, und schon morgens um sechs geniest! – Ich wünsche Doktor Strehlau zu sehn. Meine Beste, warum stellen Sie Doktor Strehlau in der Küche bei Ihren Wassereimern an, statt ihn hereinzuschicken? Warum lassen Sie mich auf ihn warten?«
»Ich lasse Ihnen nicht warten, Herr Professor; aber er war noch nicht da.«
»Noch nicht da! – Alle Welt verläßt mich! – Also wenn dieses Ungeheuer kommt, so schicken Sie es herein.«
»Er soll Ihnen wohl abreiben, Herr Professor.«
»Das kann er nicht; denn die Natur hat das Abreiben nur in Verbindung mit dem Accusativ gestattet, meine Liebe. Wen soll er abreiben? Mich. Tante Ritter, haben Sie die Güte, sagen Sie: mich.«
»Mich,« sagte sie mit dem angenehmsten Lächeln. »Aber es geht ja nicht. Sehn Sie Ihnen doch um, Herr Professor; wo soll er« (sie verschluckte den Dativ, da Fridolin sie erwartungsvoll ansah) – »wo soll er Sie hier abreiben; es ist ja kein Platz nicht.«
»Wenn kein Platz nicht ist, so werde ich in des Herrn Pastors Schlafzimmer gehn; da finden wir Platz.«
»Und der Herr Pastor« – fragte Tante Ritter scheinbar ganz unschuldig, und ohne sich zu rühren – »kommt er denn noch nicht wieder, Herr Professor?«
»Tante Ritter,« erwiderte Fridolin, »die Neugier sieht Ihnen schon aus hundert grauen Augen heraus; wie wenn Sie mich durch ein Prisma anguckten mit – mit fünfzig Ecken. Ich kann Ihnen auch heute nicht sagen, wann der Herr Pastor wiederkommt, weil ich es auch heute nicht weiß.«
»Und meine Nichte —«
»Und ebenso steht es mit der Nichte,« setzte er, einen Seufzer unterdrückend, mit leidlicher Fassung hinzu.
»Das geht mir dann ja auch weiter nichts nicht an,« erwiderte sie resigniert. »Wenn ich man bloß wüßte, Herr Professor – aber ich frage Ihnen« (ein vorwurfsvoller Blick; sie verbesserte sich) »ich frage Sie nicht mehr danach – warum Sie denn eigentlich so plötzlich wiedergekommen sind; Sie ganz allein.«
»Wollen Sie mir gütigst gestatten, Tante Ritter, Ihnen über diesen Gegenstand unserer Unterhaltung eine letzte Bemerkung zu machen?«
»Bitte!« sagte sie.
»So versichere ich Ihnen hiermit, daß Sie eine ausgezeichnete Frau, aber eine neugierige alte Gans sind; und daß ich mich augenblicklich von Ihnen scheiden lasse, wenn Sie noch ein einzig Mal – ein einzig Mal! – auf diesen Gegenstand der Unterhaltung zurückkommen. Und jetzt erlauben Sie, daß ich mich mit meinen Strümpfen bekleide.«
Diesem Wink, sich zu entfernen, folgte Frau Ritter ohne Widerstreben, und in Betracht der Mitteilung, die ihr geworden war, mit untadelhafter Fassung. Sie ging auf ihren weichen Schuhen stumm und geräuschlos hinaus. Erst in der Thür fiel ihr ein, daß sie es diesmal wohl ihrer Würde schuldig sei, das letzte Wort zu behalten. »Na ja, ich gehe ja schon,« sagte sie zurück.
»Doktor Strehlau ist da!« rief sie dann aus dem andern Zimmer, nachdem sie verschwunden war. Die Thür öffnete sich wieder, und der Mann, den Fridolin »Doktor Strehlau« benannt hatte, trat mit schwerem Schritt in seinen mächtigen rindsledernen Soldatenstieseln herein. Ein breitschulteriger Pommer, der Offiziersbursche des Majors, der im Vorderhaus wohnte; das jüngste Exemplar einer niederen Gattung von »Leibschwaben«: »Leibschwaben aus dem Volke«, wie Leopold sie getauft hatte. In seinen frühesten Morgenstunden, ehe der Dienst bei seinem Major begann, bediente er den Professor, wie alle seine Vorgänger im Majorsdienst denselben Professor in denselben Stunden bedient hatten. Er hatte das alleinige und ausschließliche Recht, Fridolins Stiefel zu wichsen; er genoß den Vorzug, sämtliche Röcke und Hosen des Professors ausklopfen zu dürfen; er ward unter Umständen »zur Disposition gestellt«, nämlich zur Disposition der Frau Ritter; endlich avancierte er zum »Doktor der Wasserkunst«, und seine roten Hände lernten ein nasses Laken um Fridolins Glieder schlagen und sie so lange auf und nieder kneten und reiben, bis der Professor schrie, er halte es nicht mehr aus. Dieses Amt hatte ihm den Ehrennamen »Doktor Strehlau« verschafft. Er war ein gewissenhafter Mann in allem, was er betrieb. Er kam mit großer Regelmäßigkeit auch nach Tische und trank die Bierreste aus; er machte es durch sein aufmerksames Wesen unmöglich, daß in Fridolins Haushaltung etwas »umkam«; auch verließ er nach der Abreibung nicht gerne das Zimmer, eh ihm die gewohnte Morgenzigarre von Fridolins milder Hand überreicht worden war.
»Guten Morgen, Herr Professor!« sagte er eintretend, mit einem wohlwollenden Lächeln über sein breites, rotbackiges Gesicht.
»Sehn Sie her, mein Sohn!« antwortete Fridolin. »Sehn Sie diesen Strumpf, an meinem rechten Bein. Nennen Sie das Pünktlichkeit? Dieser Strumpf an meinem rechten Bein sagt Ihnen, mein Sohn, daß Sie heut zu spät kommen.«
»Je, das ist wol leider nicht anders,« erwiderte Musketier Strehlau in aller Treuherzigkeit. »Ich hab' wol gestern abend etwas lange gekneipt, Herr Professor.«
»Etwas lange gekneipt! Wer sagt mir das? Ein Greis im Feldmarschallsalter oder ein zweiundzwanzigjähriger Kriegsknecht? Als ich Ihre paar Jahre auf dem Buckel hatte, Doktor Strehlau, kneipte ich, wenn es sein mußte, bis vier, und stand um fünf wieder da. Wollen Sie mich gefälligst heut abreiben oder nicht?«
»Fangen wir wieder an?«
»Ich hab' heut morgen völlig unmotiviert geniest; darum fangen wir wieder an. Im braunen Zimmer. Erwarten Sie mich mit Ihrem niederträchtigen nassen Laken, und mit meinen Kleidern, im braunen Zimmer. Gehn Sie in Ihrem Kriegerrock voran, ich in meinem Zivilhemd folge Ihnen nach.«
»Je, das muß dann wol,« sagte Doktor Strehlau und ging.
Fridolin sah sich allein. »Großer Gott!« seufzte er auf, indem er sich den Strumpf wieder herunterstreifte; »Ottilie! – Ottilie! – — Aber morgens und abends an sie zu denken, ist mir ja verboten. Warum verboten? Weil mein höheres Ich es nicht will. Weil der kategorische Imperativ in mir sagt: es soll nicht sein. Also darf es nicht sein! – Ne unquam immemor sis te philosophum esse. Sie wird dich vergessen, wie dich schon manche vergaß; sie wird mit einem andern glücklich werden; – mein Lieber, vergiß du sie auch; versuch, was du kannst! – Zur Abreibung!« – Er stand ohne Hemde da, fühlte, daß er sogleich wieder niesen werde, hüllte sich in seine türkische Decke und eilte hinaus.
»Beachten Sie, Doktor Strehlau,« sagte er, als das nasse Laken ihn umschlungen hielt und die beiden roten Fäuste des Musketiers an seinem Rücken auf und nieder fuhren, »beachten Sie, daß ich keinen Laut von mir gegeben habe, als dieses infam eisige nasse Tuch über mich her fiel.«
»Je, das ist auch keine Kleinigkeit, Herr Professor,« erwiderte Strehlau.
»Reiben Sie stärker; – ich sage mir einfach, daß ich es nicht fühle, dann fühle ich's nicht. Reiben Sie auch weiter unten; kein Teil des menschlichen Körpers soll verachtet werden; jeder thut seine Pflicht und verdient sein Recht. Haben auch Sie Ihre Pflicht gethan, mein Sohn, und Ihre Lektion in dem kleinen Geographiebuch gelernt? – Warum schweigen Sie, Doktor Strehlau?«
»Na, einiges hab' ich wol gelernt; wenn Sie mir's gütigst überhören wollen —«
»Sagen Sie mir die großen französischen – (Au! – Der Kerl reibt wie ein Wahnsinniger – Aber laß ihn; nur zu) die großen französischen Festungen her, wie ich's Ihnen aufgegeben habe.«
»Also erstens Paris.« (Pause.)
»Verweilen Sie nicht zu lange bei Paris; gehn Sie weiter.«
»Lilie.«
»Nicht Lilie! sondern Lille. (Lilie!! Ach Lilie – Ottilie Bruch des Verbots. – O Philipp! O Leopold!) Reiben Sie nicht zu stark.«
»Je, also Lille.«
»Weiter, weiter, mein Sohn!«
»Lyon.«
»Lyon ist gut. – Aber Sie verschnaufen jedesmal so lange, wie wenn Sie die Festung eben erobert hätten. Doktor, fahren Sie fort.«
»Es gibt keine französische Festung Namens ›Je‹. Rücken Sie vor! Rücken Sie vor!«
»Bordeaux – ist das auch 'ne Festung?«
»Mein lieber Sohn – — Nur drauf auf die Schulterblätter – — Sie bestehen ja schlecht. Ich hab' es übernommen, Ihre Bildung zu erweitern; ein deutscher Soldat muß ein gebildeter Mann sein; er muß gebildeter sein als alle Soldaten der Welt. Hören Sie, was ich sage, aber hören Sie darum nicht auf, zu reiben, Doktor Strehlau. Ihre Vorgänger waren fleißiger als Sie! Selbst meine kleine faule Nichte ist jetzt fleißiger als Sie – (O Judica! – O Ottilie!) Trinken Sie weniger Bier, mein Sohn, und essen Sie mehr Nahrung des Geistes.«
»O, ich will ja auch, Herr Professor. Sagen Sie mir's man tüchtig. Je, die kleine Judica —! Die hat's in sich. Die gefällt mir besser als ihr Vater, Herr Professor, – wenn ich auch meine Meinung sagen soll.«
»Es ist aber nicht gewünscht worden, daß Sie Ihre Meinung sagen sollen; niemand hat es gewünscht. Bleiben Sie bei Ihren Festungen, mein Sohn; und erobern Sie sie bis morgen alle! Haben Sie gehört? (Jetzt reibt er mir die Haut vom Leibe herunter. Ich halt's nicht mehr aus! – Doch; ich halt's noch aus.)«
»Bis morgen alle; da geb' ich Ihnen mein Wort.«
»Beachten Sie, Doktor Strehlau, daß wir so, während wir der Pflege und Mißhandlung des Leibes obliegen, zugleich den Geist beschäftigen, als ging' ihn diese Mißhandlung nichts an; als existierte sie nicht. Beachten Sie, daß das die Art gebildeter Männer ist; daß der Geist, mein Sohn – weil er das Höhere ist – — Halt! Hören Sie auf! Sind Sie toll? Hören Sie auf!«
»Je, 's thut wol weh, Herr Professor —«
»Abtrocknen! Sanft! – — Mein Hemd! – Für was für einen Heiligen halten Sie mich, daß Sie mir die ganze Haut herunterschinden? – Meine Hose! – Ich hasse Sie. Sie sind mir ein Gegenstand des – —«
Doch er brach ab; er murmelte vor sich hin: »Te philosophum esse. Te philosophum esse! – — Meine Strümpfe. Die reinen. Nummer elf. Jetzt verlassen Sie mich. Doktor Strehlau, Sie haben Ihre Schuldigkeit gethan; hier ist Ihre Zigarre. Mein Sohn, rauche sie mit Verstand! Und die französischen Festungen!« rief er ihm nach.
»O, ich werde ja wol,« sagte Doktor Strehlau mit seinem vertrauensvollsten Lächeln und ging aus der Thür.