Kitabı oku: «Macht und Wort», sayfa 2
6.
Sie stürzten sich in einer Gasse auf mich.
Ich musste ordentlich einstecken. Selbst nachdem ich zu Boden gegangen war, hagelte es noch Prügel und Tritte.
»Letzte Warnung«, sagte einer der Kerle, der wie jemand klang, der Leuten grundlos ihr Sandwich aus den Händen schlug oder ihnen drohte, sie aus einem Fenster zu werfen.
Sie ließen mich wie Abfall in der Gosse liegen, wo ich den rissigen Teer vollblutete und das Bewusstsein verlor.
7.
Ich erwachte und stellte fest, dass man mir meine Würde und meinen Geldbeutel geklaut hatte – gut, dass ein Großteil meines Honorars zu Hause neben dem Brief meiner anonymen Auftraggeber unter der losen Bodendiele deponiert war.
Mit einiger Mühe kam ich auf die Beine, setzte meinen zerbeulten Hut auf und schleppte mich durch die Dunkelheit zurück in meine Bude, wo ich mich wimmernd aufs Sofa hievte und rasch wieder wegdämmerte.
Mitten in der Nacht schreckte ich von einem Knall hoch, doch es war nur der Wind, der die Pappe von meinem Fenster abgerissen hatte, die daraufhin nach innen gefallen war.
Ich setzte mich auf, stöhnte und ermahnte meine Selbstheilungskräfte, ein bisschen Gas zu geben. Zur Sicherheit unterstützte ich sie mit ein paar Pflastern, etwas Salbe, einer Handvoll Schmerztabletten, einem Bier und einer Zigarette.
Jeder Zug und jeder Schluck taten weh, als ich dalag, qualmte, süffelte, grübelte und immer müder wurde.
Ich wusste, dass es Wahnsinn war, weiterzumachen.
Doch Stolz und Trotz waren seit jeher mein Treibstoff.
Mehr denn je wollte ich diesen ominösen Hort der letzten Erinnerung finden und rauskriegen, wieso das Ministerium plötzlich solch ein Interesse an einem mickrigen Privatdetektiv hatte.
8.
Am nächsten Tag ging ich zu Gis Lieferanten, der nicht allzu begeistert darüber war, dass ich in seiner Werkstatt – seiner Ausschlachterei von gestohlenen Küchengeräten – aufkreuzte.
»Hort der letzten Erinnerung? Das sind nur Gerüchte«, wiegelte er ab. »Und wie ich Gi schon sagte: Da verbrennt man sich eh die Finger dran, wenn nicht. Ich würd’s lassen.«
»Alles klar. Ich weiß eh Bescheid. Wollte nur noch eine zweite Meinung einholen, ob es sich lohnt oder nicht, bevor ich nachher wirklich hingehe.«
Ich nickte ihm zu – und verpasste ihm einen ansatzlosen Kinnhaken, der ihn von den Beinen holte.
Er sah wie ein getretener Hund zu mir auf. »Wofür war das denn, Mann? Ich hab dir alles gesagt, was ich weiß!«
Ich sah ihn an. »Gi? Ich würd’s lassen …«
Und Gi mich umbringen, wenn sie hiervon erfuhr.
9.
Gis Bekannter sollte mein Köder sein.
Das Ministerium überwachte mich garantiert noch. Wenn sie beobachteten, dass ich mit dem Kerl sprach, würden sie ihn ausquetschen und sehen, was er wusste – und ihnen würde er alles sagen. Auch, dass ich ihm erzählt hatte, längst im Bilde und unterwegs zu sein. Sie würden daraufhin hoffentlich nachsehen gehen, ob im Hort der letzten Erinnerung alles in Ordnung war.
Ich musste nur in einem Versteck mit Blick auf die Werkstatt Posten beziehen, mich still verhalten und geduldig sein.
Lange warten musste ich nicht.
Als sie mit dem Knilch fertig waren, folgte ich ihnen in einem Taxi, dessen Fahrer auf meine Anweisung hin gebührenden Abstand hielt.
So führten mich die Typen vom Ministerium zu dem Ort, von dem sie mich unbedingt fernhalten wollten.
10.
Der Hort der letzten Erinnerung war eine schnöde, dreckige Lagerhalle unter vielen, direkt am übel riechenden Fluss, so nichtssagend und uninteressant wie es nur ging.
Sowie die beiden Scheißkerle nach ihrem berufsbedingt-paranoiden Kontrollgang wieder herauskamen und davonfuhren, wartete ich noch etwas, ehe ich mir zwischen zwei vorbeikommenden Überwachungsdrohnen an einer Hintertür Zugang zu der Halle verschaffte, deren Grundfläche der Größe eines Sportplatzes entsprach. Wände und Boden bestanden aus Metall. Zu meiner Überraschung war die Lagerhalle über und über mit unterschiedlich dicken, bunten Vierecken aus Papier und Karton gefüllt, die sich auf wüsten Stapeln, abenteuerlichen Pyramiden und wilden Haufen türmten. Sie sahen ziemlich lädiert aus.
Das mussten dann wohl diese Bücher sein.
Und sie alle hatten Nummern wie die, nach der ich suchte.
»Interessant«, sagte ich zu niemand anderem als mir selbst – und machte mich in Anbetracht der Gelegenheit auf die Suche nach dem Buch, das zu meiner Nummer passte, wofür ich massig Buchaußen- und Innenseiten sichten musste. Bei meinem archäologischen Vorwärtsdrängen brachte ich ein paar wackelige Türme des Bücherschrottplatzes zum Einstürzen, sorgte für noch mehr Knicke, Risse und Knautschen.
Ich wühlte mich mehrere Stunden durch die Bücherhaufen. Hielt mich an die Stapel und Berge, die ich ohne größere Schwierigkeiten freiräumen und untersuchen konnte.
Auch wenn ich nicht genau fand, was ich suchte, fand ich doch genug. Irgendwann gab ich die Suche nach meiner Nummer auf, klaubte einfach einen der zerfledderten Bände heraus, schlug ihn auf und begann, neugierig darin zu blättern und schließlich richtig zu lesen.
Es standen ein paar spannende Sachen in diesem Buch.
Mehr Gedanken und Ideen, als eine E-Mail, ein Posting oder ein altmodisches Flugblatt je fassen könnten, bevor das Ministerium sie fand und schnell aus der Welt schaffte.
Ich hob den Kopf, musterte diese Grabkammer. Wenn in den anderen Büchern Ähnliches wartete, wunderte es mich kein Stück, dass das Ministerium nicht scharf darauf war, dass jemand Fragen stellte oder diesen Ort durchstöberte.
Wieso entsorgten sie die verfänglichen Bücher aber nicht einfach? Arroganz und Hybris, nehme ich an. Wie immer.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie viele dieser Hallen es in der Gegend, der Stadt, in anderen Städten gab.
Wie viele Bücher noch existierten.
Ein durchdringender Signalton wie ein Nebelhorn riss mich aus meinen Gedanken. »Verbrennungsvorgang gestartet«, sagte eine geschlechtsneutrale Computerstimme obendrein feierlich.
Ein Knistern in einem unsichtbaren Lautsprecher, und eine nicht mechanische und mir sogar vertraute, aber deshalb keineswegs menschlichere Stimme sagte: »Raten Sie, wer noch mal zurückgekommen ist, um dem Fuchs im Hühnerstall Hallo zu sagen. Die Hunde. Sie hätten auf uns hören sollen, Sie Schlaumeier.«
Die Sprinkleranlage an der Decke ging an und verteilte einen beißendchemischen Regenschauer über mir und den Bücher-Gebirgszügen. Der Schauer versiegte, und sogleich schossen aus mehreren Düsen in den Metallwänden fauchende Feuerstöße.
Die Bücher ringsum brannten sofort lichterloh.
Ich ließ meine Lektüre fallen, riss mir meinen mit Brandbeschleuniger durchnässten Mantel vom Körper und schleuderte den Hut hinterher. Dann rannte ich los, aber es war zu spät: Feuer, Rauch, Hitze und Papierfetzen waren überall – ein Albtraum aus brennenden Büchern und lodernden Flammen, und ich mittendrin. Ich hustete mir die Seele aus dem Leib, was meine angeknacksten Rippen aufschreien ließ, und ging auf alle viere, um es dem Rauch wenigstens ein klein wenig zu erschweren, mich umzubringen.
Meine Hände strichen panisch über den Metallboden, den ich vor Qualm nicht mehr sah. Etwas Scharfkantiges schnitt mir in die Finger, und ich zuckte würgend zurück.
Scherben bringen Glück, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, und ich zwang meine Hände, weiterzutasten, den Schmerz geradewegs zu suchen. Krabbelnd und mit tränenden Augen folgte ich der beißenden Spur aus Scherben.
So erreichte ich ein Abflussgitter, das ich anheben und durch das ich mich in die herrlich stinkende und nasse Umarmung der Kanalisation werfen konnte.
11.
Meine Kleidung war versengt, ich hatte Verbrennungen und Brandblasen am Körper, im Gesicht und an den zerschnittenen Händen, ich war erschöpft, mein Lieblingshut war fort, ich war am Ende meiner Kräfte - aber ich lebte.
Die Lust aufs Rauchen war mir allerdings vergangen.
Ich wankte aus einem tunnelartigen Abflussrohr dem schwindenden Abendlicht entgegen. Den Ruinen aus Beton und Rost, den abgemagerten Hunden, der Abwesenheit von Drohnen und den in den Schatten umherhuschenden Gestalten nach zu urteilen, befand ich mich jenseits des Stadtrands.
Und jetzt?
Das Ministerium hielt mich für tot. Wenn ich mich von meiner Wohnung, der Kneipe, Gi und den Kameras in Drohnen und Tablets fernhielt, mochte das eine Weile so bleiben, was mir gewisse Freiheiten brachte.
Die Bücher waren verbrannt. Ich hatte jedoch genug gelesen – und mir vieles gemerkt.
Das Fegefeuer des Ministeriums war für mich zu einer Ideenschmiede der Wahrheit geworden; einer Feuertaufe, aus der ich verändert hervorgegangen, in der etwas in meinem Geist entfacht worden war. Jetzt wollte ich dafür sorgen, dass es anderen ebenso erging und gewisse Dinge niemals mehr in Vergessenheit gerieten.
Aber ein Schritt nach dem anderen.
Zuerst musste ich meine Auftraggeber finden, die den Stein ins Rollen gebracht hatten, indem sie ihn durch mein Fenster warfen.
REDEN IST MACHT
von Nicole Rensmann
»Reden ist Macht«, prangte in großen Buchstaben über dem Bogentor des Rathauses, protzige Lettern aus purem Gold, die eine Epoche des Reichtums und Überflusses beschrieben.
Bo hatte sich im Rathaus für den Chefposten im Finanzbüro beworben. Er wies eine gute Ausbildung und ein paar Jahre Erfahrung an der Börse vor. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er die Stufen zum Eingang hinaufstieg. Dreißig Stufen, für jeden Tag des Monats eine. Die Treppe mit besonderer Bedeutung. Er hatte sie noch nie aus der anderen Perspektive betrachten müssen, stehend, mit verschränkten Händen auf dem Rücken, den Kopf vor Scham gesenkt.
Die Stufen hinaufzugehen, fühlte sich episch an. Er bemerkte, dass ihn die Vorstellung erregte, auf dem Treppenabsatz durch die schwere Marmortür in das Reich der Stadtverwaltung zu treten. Ein kühler Wind fegte über seinen Kopf hinweg und zerzauste sein Haar, als er mittels des goldenen Klopfers um Einlass bat. Jegliches euphorische Gefühl verebbte, nun war er ein kleiner Bewerber, der den Machtvollen gegenübertreten und auf sein Können hinweisen musste, ohne ein Wort zu sprechen.
Die Türen öffneten sich, ein Untergebener wies Bo die Richtung zum Konferenzraum.
Seine Schuhsohlen quietschten auf dem polierten Parkett, das Herz hämmerte gegen die Brust, Spucke sammelte sich in seinem Mund an, er schluckte und wischte sich über die Mundwinkel.
Das F am KONFERENZRAUM hing schief und schien ein bisschen wackelig zu sein. Die Buchstaben besaßen eine geringere Größe als die vor dem Hauptportal, waren aber ebenfalls aus Gold gegossen.
Während er das wankende F betrachtete, öffnete sich die Tür, eine Frau nickte Bo zu und winkte ihn an sich vorbei in den Raum, wo zehn Machtvolle auf ihn warteten.
Fünf Männer und fünf Frauen saßen nebeneinander an einem langen schmalen Tisch. Alle trugen schwarze Anzüge und weiße Hemden oder Blusen dazu.
Er fühlte sich klein und verwundbar.
»Setz dich!« Einer der Machtvollen wies Bo auf den Stuhl hin, der in etwa fünf Metern Abstand vor dem Tisch stand.
Hastig ging Bo darauf zu und spürte Erleichterung darüber, keine Geräusche beim Hinsetzen verursacht zu haben.
»Du kennst die Regeln?«, fragte die Frau in der Mitte. Ihre blonden Haare trug sie zu einem Dutt hochgesteckt, was sie älter aussehen ließ.
Bo nickte.
»Wir haben dich eingeladen, weil deine Bewerbungsunterlagen überzeugend waren. Du musst bei uns einen Test bestehen. Hast du das verstanden?«
Bo starrte den Mann an, der neben der ersten Frau saß und nickte.
»Wir stellen dir mehrere Fragen, auf die du antworten musst«, sagte ein anderer Mann.
Die Sprache war das höchste Privileg, das die Machtvollen für sich beanspruchten. Wer beim Reden erwischt wurde, landete für vierundzwanzig Stunden auf der Treppe – die Treppe der Scham – Wiederholungstäter kamen direkt in die Fabriken, wo die Hierarchie klar definiert war. Ein Aufstieg zu einem höheren Rang war nicht mehr möglich. Mit den Machtvollen zu sprechen, war ein Vergehen, das hart bestraft wurde, die Treppe spielte dabei keine Rolle mehr.
»Die Prozedur wird dir lang vorkommen. Das ist sie auch. Es liegt an dir, ob du dich für den Job qualifizierst oder nicht«, sagte eine der Frauen und wartete keine Reaktion ab. »Gut, wir beginnen.«
Die zehn Machtvollen stellten Bo je eine Frage, die er nicht mit Nicken oder Kopfschütteln beantworten konnte. Sie zwangen ihn zu antworten, indem sie ihn beschimpften, beleidigten und verbal bedrohten. Erst nacheinander, dann alle durcheinander. Er hatte im Lauf seines Lebens viele spitze Bemerkungen eines Ranghöheren aushalten müssen, diese Worte setzten ihm zu, kränkten ihn, machten ihn klein. Nach einer halben Stunde standen sie auf, kamen näher, umkreisten ihn wie ein Schwarm hungriger Geier und bespuckten ihn mit Fragen. Jedes Wort ein Dolch. Sie wussten genau, wie sie die Spitze ansetzen mussten, um ihn zu verletzen.
Er wollte sich wehren, mit Händen und Füßen, mit Worten und Schreien, doch er hielt der Versuchung stand. Er weinte nicht, er sagte keinen Mucks. Und am Ende der dreistündigen Litanei hatte er den Job.
In den Straßen dieser Stadt herrschte Stille. Leise Selbstgespräche wurden meist geduldet. Wer vor Wut schrie, wurde festgenommen. Wer mit dem Nachbarn über dem Gartenzaun quatschte, bekam eine Geldstrafe und musste auf die Treppe. Das Spielen der Kinder auf den Höfen der Heime klang leiser als der Wind. Das Lachen sah wie eine Grimasse aus. Sie alle kannten es nicht anders.
Als Bo an diesem Tag nach Hause kam, schloss er Türen und Fenster, ließ die Rollos herunter, stellte die Musik laut und schrie! Er schrie all die aufgestaute Angst und die Unterwürfigkeit, das Gefühl von Minderwertigkeit und Einsamkeit hinaus, er schrie gegen die klassische, gesangslose Musik an, bis sich seine Stimme nur noch wie ein Krächzen anhörte. Dann legte er sich auf die Couch und schlief ein.
Schon als Kind hatte sich Bo gewünscht, eines Tages im Rathaus zu arbeiten und einer der Machtvollen zu sein. Dafür hatte er sein persönliches Schweigegelübde abgelegt und sich an die Regeln gehalten. Allerdings erst, nachdem seine rebellische Phase schmerzhaft beendet worden war.
Im Gegensatz zu seinen Kameraden liebte er das Lesen, er verehrte die Sprache, träumte von feingeformten Sätzen und wohlklingenden Wörtern, die sich zu Geschichten vereinten. Wie alle Kinder war er einen Tag nach seinem dritten Geburtstag von den Eltern getrennt worden. Von da an lebte er in einer Gruppe von fünfzehn Jungs in einem Erziehungsheim. Das Reden hatten ihm seinen Eltern gelernt, nun musste er lernen zu schweigen.
Als er die Schrift einstudiert hatte, begann er Worte, die in seinem Kopf melodisch klangen, in ein Buch zu schreiben, formte daraus titellose Gedichte und Geschichten. Das war verboten. Trotz seines Wunsches, ein Machtvoller zu werden, widersetzte er sich dieser Regel. Der Wortzauber verführte ihn, obwohl er nie an dem Gesetz gezweifelt hatte. Das Buch hütete er wie einen Schatz und versteckte es unter einem losen Brett im Boden. Nachts schlich er sich aus dem Haus, in den Wald, verkroch sich in einer unbewohnten Bärenhöhle und las seine Erzählungen den kahlen Steinwänden vor.
Das Klingeln an der Tür riss Bo aus seinem unruhigen Schlaf. Er kämmte sich grob mit den Fingern durch das zerzauste Haar und öffnete die Tür. Ein Untergebener, der Schneider der Machtvollen, nickte Bo zu und ging an ihm vorbei. Sein Equipment trug er in einem Koffer mit sich, den er auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa abstellte und öffnete. Er scannte Bos Körpermaße für die Einheitskluft der Machtvollen und verschwand, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Bo stand in der Rangfolge über ihm, der Untergebene hatte nicht die Erlaubnis, mit ihm zu reden. Auch Bo hatte in Gegenwart des Schneiders geschwiegen. Erst Jahre später würde er verstehen, warum er sich mit dem Untergebenen auf eine Stufe gestellt hatte.
Bo goss sich einen Whisky ein und dachte darüber nach, welche Aufgaben in den nächsten Jahren an ihn herangetragen werden würden. Wer im Rathaus arbeitete, blieb nicht allein für seine Abteilung zuständig. Die Ranghöchsten gaben die Richtung an. Er wollte zum obersten Rat der Machtvollen, und darüber hinaus. Das war sein Ziel!
Vor dem Wandel hatte sich die Sprache in ein schwer verständliches Kauderwelsch entwickelt. Die Menschen verloren die Fähigkeit, Worte korrekt anzuwenden und positive Emotionen mit dem Gesagten oder Geschriebenen zu wecken. Die schrumpfende Kommunikationsfähigkeit sorgte dafür, dass die Menschen nicht mehr handelten. Es zählte nur noch das Geschwätz. Sprache verwandelte sich in ein machtvolles Instrument, ohne wahrhaftige Aussage. Den Regierungen gelang es nicht, der Verbreitung von Lügen und Verschwörungen entgegenzuwirken. Keiner glaubte mehr an das Wort. Es folgten Krieg und Zerstörung. Zur Rettung der Welt musste der Gesetzgeber handeln. Sie stoppten Verleumdung, Lügen, Verschwörung, Trigger und Mobbing mit einem Gesetz und verboten jegliche Form der kommunikativen Verbreitung. Bücher, Zeitungen, Magazine landeten auf dem Scheiterhaufen. Elektronische Medien, das sogenannte E-Book, Internet, Radio und TV – Bezeichnungen, die für Bo wie aus der Zukunft klangen, jedoch aus der Vergangenheit stammten, wurden abgeschaltet. Als Kind hatte er mit seinen Kameraden aus dem Heim die dazugehörenden Geräte auseinanderbauen und auf einen Schrottplatz verbannen müssen. Sie hatten sich über diese laute Epoche lustig gemacht – leise, still und heimlich, wie es die Art in seinem Leben war.
Seit achtundneunzig Jahren verwalteten die Machtvollen die Sprache. Nur ihnen war es erlaubt zu reden.
Wenige Stunden später brachte der Untergebene Bo die neue Kluft. Zu seinem schwarzen Anzug erhielt er ein rotes Hemd, kein weißes. In dieser Nacht schlief er schlecht, denn der nächste Tag sollte ihn seinem Traum näherbringen, für die Wahrheit zu kämpfen und die Sprache zu behüten.
Seine rebellische Jugendphase endete abrupt, als er von den Erziehern erwischt wurde. Tränen und Stockhiebe waren die Folge. Danach hatte er nicht einmal seine Lust herausgestöhnt, wenn er – längst erwachsen – mit einer Frau geschlafen hatte. Er blieb stumm, bis zu diesem Tag.
Am Morgen stand vor dem Haus ein Auto, das ihn fahrerlos zum eingegebenen Ziel fuhr. Er nahm auf der Rückbank Platz, schnallte sich an und wartete darauf, dass sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Nichts geschah.
Auf dem im vorderen Bereich montierten Monitor zeigte sich ein Guten-Morgen-Gruß, gefolgt von: »Ich warte auf deinen Befehl!«
Bo beugte sich nach vorne und klickte auf den Bildschirm. Der Wagen bewegte sich nicht. Seinen Mut zusammennehmend, denn einen Fehler durfte er sich nicht leisten, flüsterte Bo: »Losfahren.«
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Seine Stimme klang heiser, was Bo dem gestrigen Schreien zuordnete – seine Stimmbänder waren ungeübt. Das würde sich ändern.
Ab sofort erhielt Bo Privilegien, die ihn von den Untergebenen abgrenzten. Die laufenden Kosten seines Hauses und seines Lebens übernahm die Stadtverwaltung. Rechnungen existierten für ihn nicht mehr, seine Einkäufe waren ab sofort frei. Er gehörte zu den Großen, den Machtvollen – fast. Solange er noch ein rotes Hemd trug, stand er eine Etage unter den Männern und Frauen, die ihn für seine Einstellung dem Demutstest unterzogen hatten. Nach Rot kam Weiß, doch Bo visierte das schwarze Hemd an, das nur eine Person tragen durfte: Der Oberste.
Das Auto brachte ihn zu einem Hintereingang, den er bisher nicht kannte. Davor standen zwei Männer, die sich unterhielten. Ein seltenes Bild, an das sich Bo erst gewöhnen musste.
Er stieg aus, nickte den beiden Männern zu und schritt auf die Tür zu. Sie trugen rote Hemden, wie er. Bo war der Neue, er würde kein Gespräch beginnen.
Hinter der Tür erwartete ihn ein Android, der ihn freundlich begrüßte. »Guten Morgen, Bo! Ich führe dich an deinen Arbeitsplatz!«
Der Android bewegte sich steif. Bo folgte ihm bis zu einem kleinen Büro. An der Seite der Tür hing sein Namensschild. Sein Herz hüpfte. Er hatte es geschafft!