Kitabı oku: «Macht und Wort», sayfa 3

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Zwei Jahre später.

Bo knöpfte das schwarze Hemd zu und betrachtete sein Spiegelbild, im Hintergrund sah er die junge Frau auf dem Bett, die ihn mit großen Augen ansah. Bo wandte den Blick ab. Er verließ sie, ohne ein Wort. Das Auto wartete vor der Tür, er ließ es stehen und ging zu Fuß, der Wagen folgte ihm geräuschlos.

Seine Karriere war steil nach oben gegangen. Nach nur wenigen Monaten hatte er den Sprung in die obere Liga geschafft. Inzwischen war er der Oberste der Machtvollen, gewählt von den Untergebenen, die seine Konsequenz und seine scharfen Worte feierten. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte er viele Menschen auf die Treppe und in die Fabriken geschickt. Seine Worte waren Gesetz. Warum fühlte er sich in letzter Zeit machtlos? Er hatte alles erreicht, was er sich je gewünscht hatte. Nur Glück spürte er nicht.

Eine Stimme flüsterte in seinem Kopf, die rebellische Stimme aus vergangenen Tagen. Er verbannte sie. Sprechen war mit den Machtvollen nicht erlaubt.

Er ging durch die Straßen, vorbei an Untergebenen, die einen Bogen um ihn schlugen. Keine Stimmen, kein Flüstern, nur die Schritte von leisen Sohlen über Asphalt.

Sein Spaziergang führte ihn zum Wald, das Auto parkte und wartete auf Bos Rückkehr. Erste Knospen zeigten sich an den Bäumen, die Luft roch nach Harz und Moos. Er wählte einen Weg, den er zuletzt in seiner Kindheit eingeschlagen hatte, um all die wunderbaren Wörter aufzusagen und Geschichten zu schreiben. Was damals ein Verbrechen gewesen war und ihm Schläge eingebracht hatte, war heute für ihn die normalste Sache der Welt. Mit dem Unterschied, dass ihm die Freude an der Sprache vergangen war. Der Eingang der Bärenhöhle lag versteckt hinter einem Gebüsch.

Er bückte sich, um die Höhle zu betreten. Innen konnte er aufrecht stehen, stieß sich aber zweimal den Kopf. In seiner Erinnerung war die Höhle höher und größer. Hinter der nächsten Ecke lag der Platz, an dem er selbstausgesprochene Worte jungfräulich in seinen Ohren vernommen hatte, nie so laut, dass sie von den Wänden zurückhallten.

Der Platz war besetzt.

Im Schein von zwei Taschenlampen, auf dem Stein, der auch Bo als Stuhl gedient hatte, saß ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. In den Händen hielt sie ein Buch, Bos Geschichtensammlung, die er zurückgelassen hatte, nachdem ein Erzieher ihn aus der Höhle gezogen und bestraft hatte. Sie las laut. Ihre Stimme zitterte leicht, klang hell und klar.

Es war einmal ein junger Mann, der in einem Land lebte, ähnlich dem unseren. Es war das Land der Dichter und Denker, der Schriftsteller und Redner.


Die Menschen lauschten den Geschichten und Gedichten, sie sprachen miteinander in respektvollem Ton und spürten eine innige Verbundenheit, die durch Worte verstärkt wurde. Sprache vermittelte Güte und Vertrauen.

Der Junge mit dem Namen Bo, der in diesem Land lebte, liebte den Klang der Worte. Er hegte den Wunsch, Schriftsteller zu werden, dafür las er viele Bücher, die ihn den Rhythmus der Sprache lehrten.

Bo lauschte dem Mädchen, sein Herz klopfte schneller. Er lächelte. Er war dieser Junge. Aber er hatte vergessen, was Worte in ihm auslösten. Glück. Er hatte sie die letzten Jahre falsch angewendet und nur Unglück damit bewirkt.

Sein rechtes Bein verkrampfte sich und er musste das Gewicht verlagern, dabei stieß er gegen ein paar Steine, die zur Seite kullerten. Das Mädchen drehte sich erschrocken zu ihm um und sprang auf, sie drückte das Buch an ihre Brust und schüttelte den Kopf.

Nimm es mir nicht weg, wollte sie damit sagen. Bitte, nicht auf die Treppe, flehten ihre Blicke.

»Es ist okay«, sagte Bo. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.« Er ahnte, wie verrückt das aus seinem Mund klingen musste.

Bo ging auf sie zu, setzte sich auf einen anderen Stein und hielt seine rechte Hand hin, sie gab ihm das Buch.

Er schlug die ersten Seiten auf und lachte. Seine Handschrift war miserabel. Heute brauchte er nicht mehr schreiben, er diktierte.

Das Mädchen starrte ihn ängstlich an.

»Wie heißt du?«

Sie antwortete nicht. Natürlich nicht. Er war ein Machtvoller, der Oberste.

»Ich bin Bo.«

Ihre Augen weiteten sich.

Er nickte. »Ja, der Bo aus dem Buch. Es ist mein Buch. Als ich so jung war wie du, kam ich auch hierher, bis ich …«

Bo verstummte.

Erwischt wurde, beendete er seinen Satz stumm.

Dieses Regime, das er selbst verkörperte, hatte ihm die Freude an der Sprache geraubt. Er hatte nicht geahnt, welches Verbrechen er damit an den Kindern, der Menschheit und sich selbst verübt hatte. Bo hatte die Gesetze nie infrage gestellt. Er hatte es nicht besser gewusst.

Nach diesem Tag trafen sie sich einmal in der Woche, den gesamten Sommer lang. Mias Phantasie brachte Bo zum Staunen. Sie schrieben zusammen Geschichten und lasen sich gegenseitig vor – Bo, der das Glück fand, und Mia, die es ihm mit ihren Ideen schenkte. Wie Vater und Tochter, Lehrer und Schülerin. Ein stummes Vertrauen, das sie durch Worte und Taten aufbauten.

Jedes Mal verließ Bo das geheime Versteck mit einem Glücksgefühl, das mit jedem Schritt in Richtung Wagen verschwand. Sobald er saß, war nichts davon übrig. Dann war er wieder der erbarmungslose Bo – der Oberste, der das Reden nur den Machtvollen erlaubte. Er verdrängte den Gesetzesbruch, spürte kein schlechtes Gewissen. Nur jeden Mittwoch, wenn er in den Wald ging, fühlte er, wie sich tief in seinem Inneren Widerstand regte.

Eines Tages, die Blätter an den Bäumen färbten sich bunt, verspätete sich Bo. Unter seinem Mantel versteckte er ein Buch, das er aus der geheimen Bibliothek gestohlen hatte. Nur der Oberste und zwei seiner Untergebenen wussten von der Bibliothek. Ihr Zugang führte unter das Rathaus. Bo hatte sie das erste Mal betreten, nachdem er Mia kennengelernt hatte. Vorher hatte er dazu keinen Anlass gesehen. Eine Mitnahme der Bücher war nicht erlaubt. An den Tagen, an denen er Mia traf, widersetzte er sich dem Gesetz, das er sein Leben lang mit Überzeugung vertreten hatte. Das Mädchen hatte ihn verändert.

Das Buch war sehr alt und enthielt Märchen der Gebrüder Grimm. Er freute sich darauf, mit Mia in die Geschichten aus der uralten Zeit abzutauchen. Er eilte über den von Laub bedeckten Boden. Aus der Ferne erkannte er, dass die Lesestunde ausfiel. Er stoppte kurz, versteckte das Buch unter einem umgestürzten Baum. Dann rannte er weiter. Mia lehnte an dem Stamm einer Buche, ein Erzieher hob die Hand mit einem Stock. Bos Herz zerbrach in dem Moment, als der Erzieher den Stock auf Mias schmalen Rücken sausen ließ. Nichts hatte ihm jemals solche Schmerzen zugefügt wie Mias stumme Schreie. »Stopp!« Bo war der Oberste, er stand über dem Erzieher, der sofort von Mia abließ und ein paar Schritte zurückging, den Kopf gesenkt.

»Ich kümmere mich persönlich darum.« Er nahm Mia bei der Hand, zog sie mit sich. Beim Vorübergehen bückte er sich und holte das Buch unter dem Baumstamm hervor, schob es unter den Mantel, in seinen Hosenbund. Gemeinsam verließen sie den Wald und stiegen in den Wagen, der am Rand auf ihn gewartet hatte.

Er legte einen Finger auf die Lippen. Kein Wort. Die Mikrofone im Auto nahmen jeden Ton auf. Außerhalb der Höhle galten Gesetze, die Bo vertrat und zu ihrem gemeinsamen Schutz aufrechterhalten musste.

In seiner Wohnung durfte Mia sprechen, doch das Kind war verschreckt, sie weinte leise. Bo wusste, wie sie sich fühlte. Aus seiner Hausapotheke holte er eine schmerzlindernde Salbe und bat Mia, ihr Shirt hochzuziehen. Ein rotblauer Striemen zeigte sich quer über dem Rücken.

»Ich bin vorsichtig, versprochen.« Sanft schmierte er die Salbe auf die Verletzung und dachte an die seinen. Die Schläge kamen im Sekundentakt, zehnmal. Danach hatte er geblutet und mehrere Wochen nicht auf dem Rücken liegen können. Die Narben waren noch heute sichtbar. Er schüttelte den Kopf, wie hatte er das unterstützen können, all die Jahre? Wie viele Kinder mochten diesen Schmerzen ausgesetzt gewesen sein?

Das musste enden! Aber wie sollte er ein hundert Jahre altes Gesetz kippen? Allein?

Bo richtete Mia ein kleines Zimmer ein, in das sie sich zurückziehen und für sich sein konnte. Er freute sich nach der Arbeit über ihre Gesellschaft. Jeden Tag brachte er ein neues Buch aus der geheimen Bibliothek mit. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr er schwebte und gleichzeitig, wie glücklich er mit der Veränderung in seinem Leben war. Wenn jemand herausbekam, dass er Mia bei sich versteckte, verlor er alles, wofür er in jungen Jahren geschwiegen hatte. Dann war er gezwungen, seinen Anzug gegen einen Overall zu tauschen, den er in den Fabriken tragen musste. Auto, Haus und alle Privilegien wären mit einem Schlag verschwunden. Verlustangst war ein vernichtendes Gefühl, mit dem das Regime die Machtvollen unter Druck setzte. Diese Erleuchtung brachte Helligkeit in seine Gedanken, die von Machtbesessenheit und Narzissmus gelenkt gewesen waren.

Bo wollte versuchen, die Untergebenen des Rathauses in eine neue politische Richtung einzuweisen. Es wurde Zeit für seine innere Stimme, die neu geborene Rebellion. Alle Untergebenen sollten spüren dürfen, welch fabelhaften Gefühle, Worte auszulösen vermochten.

Vorher musste er Mia an einen sicheren Ort bringen, den er in ihrer Herkunft zu finden glaubte. Er fuhr allein, an einem sonnigen Herbsttag. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras, am Wegesrand wuchsen wilde Blumen.

Mias Eltern wohnten am Rande der Stadt auf einem der Selbstversorgerhöfe, hielten ein paar Kühe und Schafe, bauten Gemüse und Obst selbst an. Als Mias Mutter Bo erkannte, nahm sie das letzte von fünf verbliebenen Kindern auf den Arm und rannte weg.

»Nein, warte. Ich komme von Mia.«

Die Frau blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Bo ging schnell auf sie zu. »Bitte, bleib. Ich weiß, wer ich bin und was ich getan habe. Mia lebt bei mir. Es geht ihr gut. Ich habe sie versteckt. Das klingt alles verwirrend aus meinem Mund. Ich kann sie zu dir bringen. Für immer. Aber wir müssen aufpassen. Wenn jemand herausbekommt, dass sie zu Hause ist, dass ich sie nicht in die Fabrik gegeben, sondern versteckt habe, sind wir alle verloren.«

Seine Offenheit könnte ihn ans Messer liefern. Doch in den Augen der Frau erkannte Bo den Schmerz einer Mutter, die ihre Kinder in die Obhut des Staates geben musste. Sie schwieg und weinte stille Tränen der Hoffnung.

»Ich bringe sie heute Nacht.«

Bo hielt Wort. Er brachte Mia zu seinen Eltern zurück. Den elften Geburtstag durfte sie wieder in ihrer Familie feiern. Mia ging ein bisschen schüchtern auf ihre Mutter zu, doch die lief ihr entgegen, fiel auf die Knie und drückte ihr verlorenes Kind an sich.

Bo wischte sich über die Augen. Wann hatte er das letzte Mal geweint? Er wandte sich ab, doch Mia rief ihn zurück. »Besuchst du mich? Wir müssen die Geschichte noch beenden.« Sie sah ihn mit großen, neugierigen Augen an. Ihre Zukunft war ungewiss. Er nickte, setzte sich auf das Fahrrad und fuhr los.

Nach wenigen Metern stoppte eine Gruppe Rebellen Bos Fahrt. Sein Herz schlug schneller.

Die Rebellen feierten am Randgebiet sprachfreudige Partys mit Musik aus alten Zeiten. Sie hielten sich nicht an das Gesetz. Viele von ihnen steckten in den Fabriken fest. Diese sechs Männer und vier Frauen hatten sich der Festnahme bisher widersetzt.

»Wir haben gesehen, was du gemacht hast.«

Ohne Furcht vor einer Strafe sprach der Anführer Bo an.

»Warum?«, fragte der Mann.

»Mir fehlt das Glück der Worte.«

In dieser Nacht fuhr Bo nicht nach Hause, er setzte sich mit den Männern und Frauen zusammen und hörte ihnen zu. Sie hatten keine Skrupel, offen mit ihm zu sprechen, was ihm auf der einen Seite imponierte, auf der anderen ärgerte. Bo hatte für den Erhalt und die exakte Verwendung der Sprache gelebt. Er war der Oberste, dafür hatte er viel gegeben. Und doch begrüßte er die offene Art der Rebellen, die mit ihm respektvoll, aber nicht verängstigt sprachen. Er steckte in einem verwirrenden Zwiespalt.

So viele Worte an einem Abend hatte Bo noch nie in seinem Leben gewechselt. Als die Sonne aufging, fühlte er sich worttrunken.

Am nächsten Tag teilte Bo den zehn Untergebenen mit, dass er an dem bevorstehenden Bewerbungsverfahren teilnehmen würde. Diese Ankündigung überraschte, Bo war seit seinem eigenen Einstellungsgespräch nicht mehr anwesend gewesen.

Die Machtvollen saßen auf ihren Plätzen, der Bewerber wartete, als Bo den Raum betrat.

»Guten Morgen!«, sagte Bo und schritt einmal quer durch den Raum, um sich einen Stuhl zu holen, der auf einem zusammengestellten Stapel am Rand stand. Bo setzte sich neben den Mann. Seine Untergebenen wechselten überraschte Blicke, sagten aber kein Wort.

Der Bewerber war nervös, seine Ohren glühten rot und er zitterte leicht.

»Wir können offen reden. Du bist Stan?«

Der Mann nickte.

»Ich meine das genauso. Ab jetzt darfst du sprechen. Ich erlaube es dir.«

Der älteste Machtvolle öffnete den Mund, doch Bo schnitt ihm mit einem Fingerzeig das Wort ab.

Nach dem Gespräch verabschiedete sich Stan mit einem Satz, den Bo nicht vergessen würde. »Danke, das Gespräch hat mich süchtig gemacht.«

»Wir sehen uns morgen«, sagte Bo.

Stan verließ den Saal, Bo blieb noch einen Moment sitzen und wandte sich an seine Untergebenen.

»Ich weiß, dass ihr mit diesem Vorgehen nicht einverstanden seid. Mein Auftreten hier hat mehrere Gründe.«

Bo fühlte sich schlecht. Er würde die gut behütete Sprache nun für eine Lüge verwenden müssen. Oder hatte er eine Wahl? Würden seine Untergebenen ihm die Wahrheit glauben und einsehen, dass der Weg, den sie gegangen waren, nicht der richtige war? Er verwarf seinen ersten Plan, der wertvolle Worte in Lügen verwandelt hätte und erzählte die Wahrheit.

Als er zu reden begann, sah Bo bewusst nur diejenigen an, die Kinder hatten. Das waren drei.

Bo erzählte seine Geschichte. Keine Regung in den Gesichtern. Damit hatte Bo gerechnet. Dann berichtete er von Mia, ohne ihren Namen zu nennen und die Höhle erneut zu erwähnen. Er sprach von den Stockhieben und den stummen Tränen.

»Wir müssen uns klarmachen, dass wir die Kinderseelen stark belasten, wenn wir sie mit drei Jahren von den Eltern wegzerren und sie für jedes Vergehen schlagen. Wir sind eine intelligente und weit entwickelte Gesellschaft, die jedoch zurück ins Mittelalter rutscht, wenn der Mensch keine Rechte mehr erhält.« Bo machte eine kurze Pause. »Bitte, ihr dürft sprechen.«

Silly stand auf. Sie hatte zwei Kinder, eins davon war erst vor wenigen Wochen abgeholt worden. »Danke, Oberster, dass du das ansprichst. Ich bin schon lange dafür, dass wir die Gesetze überdenken.« Sie ging auf Bo zu und stellte sich auf seine Seite.

Bos Herz hämmerte gegen seine Brust. Er hatte eine Verbündete in seinen Reihen. Blieben noch neun, die es zu überzeugen galt.

Am Ende der wortgewaltigen Debatte standen sechs Machtvolle auf seiner Seite, die übrigen vier stellten sich gegen eine politische Kehrtwende. Der Redensführer herrschte Bo in einem Ton an, den Bo vor einiger Zeit mit harten Sanktionen bestraft hätte. »Das werde ich nicht dulden. Ich sorge dafür, dass du abgesetzt wirst.«

»Für deinen Tonfall könnte ich dich in die Fabriken schicken, doch das möchte ich nicht mehr«, sagte Bo und ergänzte. »Die Wahlen in den Reihen der Machtvollen sind in zwei Monaten. Du weißt, dass es nicht möglich ist, mich abzusetzen.«

»Du kannst nicht alles über den Haufen werfen, wofür unsere Großväter gekämpft haben.«

»Ich muss die Gesetze überdenken, zum Wohle der Menschheit.«

»Nicht mit uns.« Pit stürmte aus dem Saal, gefolgt von dreien seiner Mitläufer.

Auf dem Flur polterte es, dann ertönte ein Schrei. Bo und seine Verbündeten eilten hinaus. Das F aus dem Wort Konferenzsaal war abgefallen und hatte Ty, der den Raum als Letzter verlassen hatte, erschlagen.

An diesem Abend lag er lange wach. Er hatte für das Regime gelebt und sein Ziel stets vor Augen gehabt. Nun war alles anders. Einem kleinen Mädchen war es gelungen, seine Meinung zu verändern und sein Ziel neu zu definieren. Bo war aufgeregt und er spürte noch etwas anderes: Glück.

Die nächsten Wochen bekam Bo wenig Schlaf. Er hatte acht Wochen Zeit, um die Untergebenen davon zu überzeugen, dass die Sprache zu verbieten und den Kindern das Schweigen zu lehren, nicht förderlich für die Entwicklung einer Gesellschaft war.

Er lud die Rebellen zu sich ein und setzte damit ein Zeichen bei den Untergebenen. Die Treppe blieb verwaist, stattdessen ließ er Bäume und Pflanzen links und rechts auf den Treppenabsätzen platzieren. Die Türe zum Rathaus stand offen. In der Fabrik wurde gegen Lohn gearbeitet, Aufstiegschancen inklusive.

Die Machtvollen spalteten sich in Anhänger und Gegner von Bos neuer Politik. Wenn Bo an seinem Weg zweifelte, besuchte er Mia, die ihn daran erinnerte, weshalb er von seinem Ursprungsglauben abwich. Er war jede Woche bei ihr.

Auch die Untergebenen, die er nun Mitmenschen nannte, hießen die Veränderung nicht alle willkommen.

Und doch einte sie eins: Die Menschen schauten nicht mehr ängstlich, sie lachten hörbar und unterhielten sich lautstark auf der Straße.

Die Kinder blieben bei ihren Familien, lautes Lesen und Schreiben wurde zur Pflicht.

In den acht Wochen bis zur Wahl erreichte Bo mehr als in seiner gesamten Amtszeit. Als Lohn wählten die Mitmenschen ihn wieder, trotz der Widerstandsbewegung. Noch nie war er so erleichtert, so glücklich über die Zustimmung der Wähler. Aber die Wahl endete mit einem knappen Ergebnis. Die Opposition würde ihm das Leben in der nächsten einjährigen Amtszeit zur Hölle machen. Da wusste er noch nicht, dass er viele Jahre der Oberste bleiben würde.

Die Sprache entwickelte sich zu einem allgemeinen Kulturgut, sie wurde gepflegt, gehegt und ausgebaut. Alle durften sie verwenden. Bücher und Zeitungen gab es frei verkäuflich im Laden, die Bibliothek im Rathaus war nicht mehr geheim, sondern öffentlich.

Die Menschen lernten, mit Worten umzugehen. Aus den anfänglichen schüchternen Sprachversuchen bildeten sie Sätze, die zu kunstvollen Werken zusammengesetzt, in den Ohren der Zuhörer und den Köpfen der Leser wie Musik klangen. Doch bei Diskussionen endete das Gesagte nicht selten in machtvollen Boshaftigkeiten. Worte klangen gut, klangen böse.

Bo blieb überzeugt davon, dass sich Sprache in seiner reinsten und schönsten Form zeigte, wenn sie aus tiefstem Herzen geboren wurde. Diese Wahrhaftigkeit versuchte er jeden Abend in seinen eigenen Roman zu transportieren, den er zu schreiben begonnen hatte. Er war überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Und doch keimten immer wieder Zweifel in ihm auf, denn Bo wusste, nicht alle Märchen endeten mit einem Happy End. Und jede Geschichte zeigte, der Mensch vergaß, was einst war, wiederholte sich. Dann stünde die Menschheit wieder vor den Scherben ihrer Sprachmacht. Die Staatsoberhäupter würden erneut Gesetze entwerfen und auf deren Einhaltung pochen, um die Mitmenschen vor Worten zu schützen.

Das Märchen von Mia und Bo

Es war einmal eine junge Frau, die in einem Land lebte, ähnlich dem unseren. In diesem Land herrschten die Mächtigen über die Menschheit. Sie verboten die Sprache und vernichteten Bücher und Zeitungen. Kommunikation wurde bestraft, Worte, ob geschrieben oder gesprochen, säten Zwietracht, die aus dem Land verbannt werden sollte.

Diese junge Frau, ihr Name war Mia, fand unter einem umgekippten Baumstamm ein altes Märchenbuch. Sie las die Geschichten in einem verbotenen Versteck und liebte die Worte, die rhythmisch zwischen ihren Lippen hüpften, ihren Kopf ausfüllten und sie worttrunken machte.

Und Mia fragte sich, ob die Sprache nicht auch Gutes bewirken und Liebe hervorbringen könnte …