Kitabı oku: «Die Rosa-Hellblau-Falle», sayfa 3

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Geschlechtsneutral oder geschlechtergerecht?

Aber was gehört zu einer geschlechtergerechten Erziehung, was bedeutet das im Detail? Wie können wir den allgemeinen Wunsch, unsere Kinder gleichberechtigt zu erziehen, konkret umsetzen? Denn rosa und hellblaue Fallen tun sich überall auf im Alltag mit Kindern. Die Zweiteilung ist uns so geläufig, dass wir die allgegenwärtige Zuordnung und die Betonung des Geschlechts gar nicht mehr wahrnehmen. Opa sagt zu Simon: »Toll, mit kurzen Haaren siehst du wieder aus wie ein richtiger Junge.« Natürlich möchte Simon »richtig« sein, er weiß jetzt: Lange Haare sind nichts für Jungen. In der Krabbelgruppe sagt eine Mutter mit Blick auf den halbjährigen Finn: »Ooch, guck, der flirtet schon mit mir, wie süß!«, und die vierjährige Svea soll nicht ohne Bikini-Oberteil ins Wasser. – Was bewegt uns dazu, Begriffe, Kleidung und Symbole von Erotik und Sexualität in die ersten Lebensjahre unserer Kinder vorzuverlegen, während Eltern in Deutschlands Südwesten gegen die angebliche »Frühsexualisierung« in Kitas demonstrieren und damit die Aufklärung über genau dieses Problem verhindern? (correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2017/05/25/fruehsexualisierung-die-angeblichebedrohung-der-kindheit/)? Es ist naheliegend, dass wir Rollenvorstellungen, mit denen wir selbst aufgewachsen sind, zunächst einmal an unsere Kinder weitergeben: Beim Familienausflug mit der Klasse spazieren 25 Kinder durch den Wald: »Annika, du machst deine Jacke schmutzig, wenn du so den Hang runterrutschst«; aber: »Los, Max, geh doch auch auf die Baumstämme hoch, du bist doch ein guter Kletterer!« Nacherzählt klingen solche Bemerkungen wie längst überholte Klischees, doch wer einmal darauf achtet, wird überrascht sein, wie viele davon unsere Kinder jeden Tag zu hören bekommen, beiläufig, unachtsam und ohne bösen Willen. Und wer einmal damit angefangen hat, die Zuschreibungen zu hinterfragen, merkt, dass ein »gleich behandeln« gar nicht möglich ist, obwohl viele Eltern ihr eigenes Erziehen genau so beschreiben. Da es aber keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, kann es auch keine geschlechtsneutrale Erziehung geben. Eine geschlechtergerechte5 oder geschlechtersensible dagegen schon. Dazu gehört, dass Erwachsene Unterschiede wahrnehmen und mehr noch, dass sie sich bewusst sind, selbst Unterschiede zu machen.*

Geschlechterrollen sind historisch gewachsen und daher veränderbar. Wer sich ein gerechtes Miteinander unabhängig vom Geschlecht wünscht, ist gefordert, sein eigenes Mitwirken an den Regeln unserer Welt aufzuspüren, eine Welt, die auf Zweigeschlechtlichkeit in allen Bereichen Wert legt und in der Heterosexualität als Norm gilt. Das bedeutet, einen Blick dafür zu entwickeln, ob im eigenen Alltag bestehende Verhältnisse stabilisiert werden oder ob eine kritische Auseinandersetzung und damit Veränderung möglich ist. Eine Erziehung, die Kindern unabhängig vom Geschlecht gleiche Chancen vermitteln möchte, ist untrennbar verknüpft mit unseren Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer in Zukunft zusammenleben sollen und was wir unseren Kindern dafür mit auf den Weg geben. Sie ist verknüpft mit Fragen zur Rollenverteilung in den Familien und der aktuellen Debatte über die Frauenquote und über die Benachteiligung von Jungen durch unser Bildungssystem. Mit der Diskussion über Pädophilie im Zuge der sexuellen Befreiung in den 70er-Jahren und dem heute selbstverständlichen Warenangebot von Push-up-BHs und Stringtangas in Größe 116. Mit der zunehmenden Unzufriedenheit kleiner Mädchen mit ihrem eigenen Körper und nicht zuletzt der #aufschrei-Debatte.

Die Rollenklischees der Kinderwelt infrage zu stellen, ist kein Nischenthema für überambitionierte Eltern, sondern die Voraussetzung für ein gleichwertiges Miteinander aller. Sie geht uns alle an, weil unsere Entscheidungen die Zukunft unserer Kinder mitbestimmen und weil die Entscheidungen, die wir im Alltag mit Kindern treffen, deren Weltbild mit prägen. Dabei ist es egal, ob es unsere eigenen Kinder sind oder die Kinder von Freund*innen, Nachbar*innen, die Kinder von Fremden, ob wir Kinder als unsere Kund*innen betrachten, als Zielgruppe oder als Publikum. Wir alle haben Einfluss darauf, weil wir als Erwachsene die Lebensumwelt der Kinder gestalten durch Werbung, Geschichten und Filme, durch Spielzeug- und Freizeitangebote, durch Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten, durch unser alltägliches Zusammen- und Vorleben.

Den Einstieg ins Thema beginnen wir deshalb mit zwei Beispielen, »Mädchen und Mathematik« – »Jungen und Einfühlungsvermögen«, da hier offensichtlich wird, wie klassische Vorstellungen die Wahlmöglichkeiten unserer Kinder einschränken und zugleich Einfluss haben auf unser Zusammenleben als Erwachsene. Dann blicken wir in verschiedene Themenbereiche, die im Aufwachsen eines Kindes eine Rolle spielen. In jedem dieser Bereiche begegnen Kinder Zuordnungen zum einen oder anderen Geschlecht, die sie in ihrer Wahlfreiheit einschränken. Das beginnt schon vor der Geburt: Als zukünftige Eltern beeinflussen wir die Welt unserer Söhne und Töchter durch unsere Haltung und unsere Vorstellungen vom ungeborenen Kind. Wird sie rosa oder hellblau? Warum nicht auch gelb oder regenbogenfarbig? Wir haben die Kita Sonnenblume in der Nähe von Köln besucht und uns mit Susanne Wunderer getroffen, die Fortbildungen zu gendersensibler Pädagogik in Kindertagesstätten durchführt.

Von Werbung und Marketing werden Mädchen und Jungen immer stärker in Klischees gepresst. Ein Besuch in der Spielzeugwelt von Kuschel-Einhorn, G-Force-Heroes und Prinzessinnen-Laptop soll Antworten daraufliefern, welchen Einfluss die hier vermittelten Bilder haben. Welche Rolle spielen Barbie, High Heels, Prinzessinnenkostüme? Und haben die Rollenklischees der Werbung Einfluss auf das Körperbild unserer Kinder? Mit Stevie Schmiedel vom Verein Pinkstinks haben wir über pinkfarbenes Spielzeug und sexualisierte Werbung gesprochen.

Männersenf und Frauenbier, Elfentrank und rosa Überraschungseier: Verändert Gendermarketing unsere Essgewohnheiten? Haben unterschiedliche Freizeit- und Bewegungsangebote für Mädchen und Jungen Einfluss auf den eigenen Körper? Und wie sieht es mit Filmen, Büchern und Computerspielen aus, die sich an Jungen und Mädchen richten? Frauen gehen zur Vorsorge, Männer zur Reparatur; Mädchen wollen Topmodel werden, Jungen träumen von sich als Spitzensportler. Welchen Einfluss hat die Schule auf die spätere Berufswahl unserer Kinder, was bringen der Girls’ und Boys’ Day, und welche Botschaft kommt bei Mädchen und Jungen durch monoedukativen Unterricht an? Welches Bild der Welt vermitteln wir Kindern über die Sprache? Wir haben uns mit Lann Hornscheidt, Professx für Gender Studies und Sprachanalyse, unterhalten, um mehr zu erfahren über Sprache und Macht. Nils Pickert, Journalist, Teilzeitrockträger und Vollzeitfeminist, hat uns erzählt, warum seiner Meinung nach in unserer Gesellschaft Individualität großgeschrieben wird und trotzdem nicht alle sein können, was und wie sie gerne möchten..

Es ist aber umständlich, jedes Mal die weibliche Form mit zu berücksichtigen, und ein rosa Kinderzimmer ist doch hübsch! Lasst doch die Kinder in Ruhe, die komplizierten Regeln des Erwachsenenlebens kommen früh genug – Einwände, das Thema in den ersten Jahren noch ruhen zu lassen, gibt es genug. Doch wer geschlechterstereotypen Vorstellungen nichts entgegenzusetzen hat, bringt sie zwangsläufig immer wieder neu hervor. Diesen Kreislauf gilt es im Interesse unserer Kinder zu durchbrechen. Denn am Ende des Tages lässt sich alles auf einzelne Ereignisse zurückführen, in denen wir und andere Menschen Entscheidungen treffen, Aussagen machen und handeln. Manchmal genügt es, den Blickwinkel ein klein wenig zu verschieben. Noch mal genauer zuzuhören beim nächsten Kindergeburtstag, etwas genauer nachzufragen, wenn wir unsere Kinder abholen in der Kindertagesstätte, und etwas länger zu zögern beim nächsten Einkauf in Rosa oder Hellblau. Und plötzlich wird klar, dass wir Einfluss haben; wir können uns und unser Umfeld verändern. In den kleinen Augenblicken des Alltags haben wir die Entscheidungsfreiheit, da ergeben sich Handlungsspielräume, in denen wir selbstbewusst agieren können.

* In all diesen Formulierungen zeigt sich ein Grundproblem, das sich auch durch dieses Buch zieht: es werden Frauen und Männer adressiert in Gesetzestexten, vor allem aber in Werbung und Marketing, in Büchern und Berichten in den Medien, im alltäglichen Sprechen. Das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. Oktober 2017, gesetzlich umgesetzt zum 1. Januar 2019 hat deutlich gemacht, dass diese binäre Teilung den medizinischen und psychologischen, den gesellschaftlichen und individuellen Verhältnissen nicht gerecht wird. Wir alle sind gefordert, die reale Diversität sichtbar zu machen und zu normalisieren.

* Weil der Gender Care Gap als Ursache für den Gender Pay Gap zum Zeitpunkt unserer Recherchen für die Erstauflage der Rosa-Hellblau-Falle nur wenig bekannt war, wenig diskutiert und bis dahin auch nicht berechnet worden war, haben wir 2016 den »Equal Care Day« ins Leben gerufen. Einen bundesweiten Aktionstag für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Care-Arbeit. Weil Care-Arbeit als »unsichtbare Arbeit« zu wenig Berücksichtigung erfährt im aktuellen Wirtschaftsstystem, haben wir den Equal Care Day auf den unsichtbaren Tag im Jahr gelegt, den 29. Februar, der nur alle vier Jahre begangen wird. Mehr dazu unter equalcareday.de

1MATHE IST KEIN BAUCHGEFÜHL

Warum Klischees so beharrlich sind

Luca, unsere Jüngste, sitzt über ihren Mathehausaufgaben und kritzelt schlampig über die Kästchen auf dem Arbeitsblatt. Acht sollen blau werden, fünf bekommen noch etwas Rot ab, da wirft sie ihre Buntstifte hin: »Dreizehn! Das ist doch voll baby!« Arbeitsblätter mit roten und blauen Kästchen begleiten sie durchs erste Schuljahr, und wir begleiten eine genervte Erstklässlerin durch ihre ersten Matheerfahrungen. Anfangs hatte sich Luca mit einer Begeisterung in die Welt der Zahlen gestürzt, die uns Eltern und ihre älteren Geschwister fast überforderte. Kein Spaziergang, kein Mittagessen, kein Einschlafen ohne neue Aufgaben, plus und minus, mehrteilig und gemischt; wer gerade in Reichweite war, von dem wollte sie neues Rechenfutter. Als Hausaufgaben bekam sie weiterhin Blätter mit Kästchen zum Ausmalen und mit Äpfeln und Birnen zum Einkreisen, alles im Zahlenraum bis 20. Zu Hause fing sie inzwischen an, mit Kay das kleine Einmaleins zu lernen. Für sie ein Riesenspaß, für Kay, den Drittklässler, für den das regulärer Unterrichtsstoff war, eher frustrierend. Deshalb wollten wir uns beim Elternsprechtag mit der Lehrerin darüber austauschen in der Hoffnung, dass sie Luca mit neuen Herausforderungen den Spaß an der Mathematik bewahren und ihr die Langeweile nehmen würde. Leider klärte sie uns stattdessen über ihre Erfahrungen mit Hochbegabten auf, und Luca, das sei sicher, ist ja nicht hochbegabt. Gut, das war zwar nicht unser Anliegen, aber offenbar waren wir durch unsere leise Kritik an den Kästchen direkt in die Kategorie ›überambitionierte Eltern‹ gerutscht, sodass sie meinte, uns erst einmal den Wind aus den Segeln nehmen zu müssen. Außerdem, gab sie uns noch mit auf den Weg, müssten Kinder in einer heterogenen Klasse lernen, dass sich nicht alles immer nach ihnen richtet. Warten zu können sei auch eine Tugend.

Ja, natürlich, man könnte das als Luxusproblem überambitionierter Eltern abtun: Mensch, seid doch zufrieden! Ist doch prima, dass sie in Mathe keine Probleme hat, ist ja nicht selbstverständlich … für ein Mädchen – oder wie? Wahrscheinlich sah die Lehrerin in uns Exemplare der aktuell kritisierten »Helikoptereltern«. »Zu viel Kontrolle« steht derzeit nämlich ganz oben auf der Liste der elterlichen Verfehlungen. Unlängst haben wir unsere Kinder zu Tyrannen erzogen, weil wir keine Grenzen setzten, jetzt droht die Überbehütung. Im vorliegenden Fall wäre die entsprechende Empfehlung also: abhaken, laufen lassen. Langweilt sie sich eben in Mathe, sie wird bestimmt bald etwas anderes finden, das sie ausfüllt. Deutsch oder Englisch vielleicht? Fachbereiche also, in denen sie vielleicht mehr Zuspruch bekommt? Weil Mädchen doch so gerne lesen und Sprachen überhaupt …? Wir waren jedenfalls überrascht, dass in Zeiten, in denen sich alle Welt mehr weibliche Begeisterung für die naturwissenschaftlichen Fächer wünscht, für Mathematik und Informatik, keine positivere Rückmeldung kam. Stattdessen lautete die Lösung der Lehrerin: Luca solle sich eben schneller durchs Mathebuch arbeiten mit der zweifelhaften Belohnung, im zweiten Band weitermachen zu können, sobald sie fertig wäre. Jetzt, ein Jahr später, findet Luca Mathe so blöd wie ihre Schulfreundinnen auch. Ihre Begeisterung ist erstickt im hundert Seiten dicken Mathebuch und in vielen Kommentaren von Großeltern und Eltern von Freund*innen: »Das kannst du schon rechnen? So ein kleines Mädchen, das ist aber toll!« Oder: »Interessant, dass sie sich so für Zahlen interessiert, ist ja sonst nicht so ’n Mädchending.« Im Einzelnen ist nichts davon schlimm und schon gar nicht böse gemeint, in der Summe aber hat es seine Wirkung nicht verfehlt.

Mit Kays Klassenlehrerin hatten wir ein ähnliches Gespräch, allerdings ging da die Initiative von ihr aus. Sie hätte manchmal den Eindruck, er sei vielleicht unterfordert in der Schule, wie wir das denn sehen würden. Und obwohl wir uns darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatten und auch keinen Handlungsbedarf sahen, versprach sie, in Zukunft genauer darauf zu achten, dass er im Unterricht und in den Hausaufgaben genügend Herausforderungen findet. Zwei verschiedene Grundschullehrerinnen, zwei gegensätzliche Erlebnisse – es mag sein, dass das Thema Geschlecht nur zufällig dazukam. Für uns lag allerdings der Gedanke nahe, dass diese Neigung vieler Lehrer*innen und Eltern eine Rolle spielte, Jungen ganz allgemein für intelligenter zu halten, insbesondere in Mathematik1. Viel lieber hätten wir unser persönliches kleines Luxusproblem damit, aber unsere Tochter ist kein Einzelfall. Die Erwartungshaltung geht eben nicht davon aus, dass sich Mädchen für Mathematik und Physik interessieren, allgemeiner Konsens ist noch immer das Gegenteil. Und diese gesellschaftliche Übereinkunft hat direkte Auswirkungen auf das Selbstbild unserer Kinder. Sie führt dazu, dass Mädchen insgesamt ihre Matheleistungen geringer einschätzen als Jungen, selbst wenn sie gleich gute oder sogar bessere Noten in der Schule haben. Ein Satz wie »Das kann ich sowieso nicht!« kommt bei Mädchen viel früher, und das Blatt mit einer kniffligen Matheaufgabe wird oft schon zerknüllt, noch bevor eine wirklich zu rechnen begonnen hat. Und da wir das irgendwie ja auch erwarten, wird es allzu schnell entschuldigt – liegt ihr eben nicht. Jungen dagegen lernen schon bald, dass man mit einem selbstverständlichen Grundoptimismus weit kommen kann: »Passt schon!« ist die Haltung, mit der sich ein Matheaufgabenblatt leichter und schneller bearbeiten lässt. Die positive Selbsteinschätzung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich nimmt bei Jungen mit zunehmendem Alter immer weiter zu, während die der Mädchen abnimmt2. Und auch die Pisa-Studie von 2013 ergab erneut: »Selbst da, wo Jungen und Mädchen gleiche Ergebnisse haben, sind Mädchen der Mathematik gegenüber negativer eingestellt. Ihr Vertrauen in die eigenen mathematischen Fähigkeiten ist geringer.«3 Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung also: »Jungs sind gut in Mathe. Und weil ich ein Junge bin, gehöre ich dazu.« Auf der anderen Seite: »Mädchen sind schlecht in Mathe. Weil ich ein Mädchen bin, kann ich so gut also gar nicht sein.« Warum sind Schulen, obwohl das Problem seit Jahrzehnten diskutiert wird, hier noch nicht weitergekommen? Wie kann sich ein für alle frustrierendes Klischee bloß so lange halten?

Die Macht der Rollenklischees

Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen, die den Einfluss stereotyper Ansichten auf das Selbstbild und auf die Leistungen von Erwachsenen nachweisen. Claude M. Steele von der Stanford University, Kalifornien, nutzte den Begriff ›Stereotype Threat‹ zum ersten Mal, als er 1995 in mehreren Experimenten nachweisen konnte, dass Schwarze College-Studierende in Tests schlechter abschnitten, wenn sie zuvor auf ihre Hautfarbe hingewiesen wurden4. Fiel dieser Hinweis weg, schnitten sie gleich gut und besser ab als die übrigen Teilnehmenden. Später teilte er Testpersonen in zwei Gruppen auf, die in ihren mathematischen Leistungen vergleichbar waren. Der einen Gruppe wurde gesagt, dass Männer und Frauen bei diesem Mathetest bisher immer sehr unterschiedlich abgeschnitten hätten, bei der anderen Gruppe gab es keinen Hinweis zum Geschlecht. In der ersten Gruppe fiel das Ergebnis der Frauen deutlich schlechter aus als in der Kontrollgruppe. Und eine Folgestudie5 zeigte, dass dieser Effekt noch zunimmt, je größer die mathematischen Kenntnisse der Teilnehmenden sind und je wichtiger sie ihre Fähigkeiten und damit auch die Testergebnisse nehmen. Die Aufgaben dieses Mathetests stammten aus dem Graduate Record Examination Test, den US-amerikanische Student*innen absolvieren müssen, wenn sie an einer Universität Naturwissenschaften studieren wollen. Die Stereotypbedrohung wirkte in diesem Experiment gleich in zweierlei Hinsicht. Das negative Vorurteil beeinflusst die Teilnehmerinnen in ihren Leistungen, denn ein Teil ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit ist permanent damit beschäftigt, die negativen und störenden Gedanken zu unterdrücken. Hinzu kam in diesem Fall die Angst, durch das eigene Scheitern die negativen Vorurteile zu bestätigen oder gar zu verstärken. Weil die getesteten Frauen sich in ihrem Selbstverständnis als lebenden Gegenbeweis für dieses Stereotyp fühlten, waren ihre Versagensängste entsprechend größer. Beide Faktoren sind nicht gerade geeignet, gute Leistungen bei einem Mathetest zu erzielen. Trotzdem schnitten die beteiligten Frauen unter Stereotypbedrohung nicht schlechter ab als die übrigen Teilnehmenden. Das überraschende Ergebnis war, dass die Frauen in der Gruppe ohne die Bedrohung durch Stereotype signifikant besser waren als alle anderen Teilnehmenden. Das führte die Forscher*innen zu der Schlussfolgerung, dass der Graduate Record Examination Test, wie auch viele andere Prüfungen, üblicherweise in einem Szenario stattfinden, das die eigentlichen Fähigkeiten der Studentinnen unterdrückt. In diesem Zusammenhang betrachtet, bekommt der subjektive Eindruck vieler Frauen, in vergleichbaren Situationen mehr leisten zu müssen als ein Mann, um die gleiche Anerkennung zu bekommen, eine ganz neue Bedeutung.

Trotz einer Fülle von Studien zur Wirkung von negativen Vorurteilen und Stereotypien und obwohl deren Ergebnisse seit Mitte der 1990er-Jahre regelmäßig veröffentlicht werden, haben sie wenig Einfluss auf unser Urteilen im Alltag, auf unsere Einschätzung von weiblichen und männlichen Misserfolgen im mathematischen beziehungsweise sprachlichen Bereich und darüber hinaus. In Online-Diskussionen melden sich Skeptiker*innen in der Regel mit persönlichen Anekdoten zu Wort, um damit die Ergebnisse von Studien zu widerlegen. Und selbst im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wischt Bettina Weiguny die Forschung von mehreren Jahrzehnten mit einem Satz vom Tisch: »Ich hab da so meine Zweifel. Mein Mann rechnet nämlich auch lieber als ich.« Und fügt hinzu, ihre älteste Tochter komme ganz nach ihr: »Wahrscheinlichkeitsrechnung ist bei uns ein Bauchgefühl.«6 Ein Bauchgefühl, das weitervererbt wird? Solche Alltagstheorien, die wir aus unseren persönlichen Erfahrungen heraus entwickeln, reichen oft schon aus, uns davon zu überzeugen, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen relativ sind, fehlerhaft, ja geradezu manipulierend. Und da wir in der Regel selbst keine Statistiken erstellen, glauben wir dann gar keiner mehr, sondern vertrauen ganz auf unseren persönlichen Erfahrungsschatz.

Diese Alltagstheorien werden gestützt durch den sogenannten ›confirmation bias‹. Dieser ›Bestätigungsfehler‹ bezeichnet in der Psychologie die menschliche Tendenz, Informationen bevorzugt dann wahrzunehmen und zu erinnern, wenn sie unsere eigene Meinung bestätigen. Informationen, die ihr widersprechen, vergessen wir schneller wieder oder nehmen sie gar nicht erst als relevant wahr. »Es hört doch jeder nur, was er versteht«, befand Johann Wolfgang von Goethe, und bis heute leuchten uns besonders die Beispiele ein, die unser eigenes Weltbild untermauern. So fallen uns immer wieder Beispiele ein, in denen Männer bei handwerklich-technischen Arbeiten irgendwie doch geschickter sind oder bei einer mathematischen Herausforderung schneller zum Ergebnis kommen. Die Beispiele scheinen unsere Ansicht zu bestätigen und liefern immer wieder netten Gesprächsstoff unter Freund*innen. Ob sie sich nun statistisch belegen oder mit Studien widerlegen lassen, spielt dann keine Rolle mehr. Der ›Bestätigungsfehler‹ wirkt umso stärker, je unangenehmer es uns ist, das eigene Selbstverständnis, die eigenen Erfahrungen und die eigenen Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Es ist eben beunruhigend, wenn das eigene Weltbild ins Wanken gerät. Und ein bisschen Traditionsbewusstsein kann doch nicht schaden, zumal es das Leben entschieden einfacher macht. Für wen eigentlich? Für Frauen, die sich für Maschinenbau interessieren? Für Männer, die in Grundschulen arbeiten? Für Jungen, die sich ein Puppenhaus wünschen, und Mädchen, die gerne mit lautem Motorengeräusch durch den Kindergarten brausen?

Botschaften zwischen den Zeilen, unterschwellige Bilder, die Frauen auf ihre geschlechtliche Zugehörigkeit hinweisen und klischeehaftes Verhalten damit verknüpfen, können schon ausreichen, um als psychische Bremse zu wirken auf Frauen, die sich in einem Feld behaupten wollen, das typischerweise Männern zugeschrieben wird. Das kann zum Beispiel eines der zahlreichen Plakate sein, die einem auf dem Weg zur Arbeit einen Bikini oder eine Versicherung verkaufen wollen, oder ein Spot auf dem Infoscreen am Bahnhof, in dem eine total gut gelaunte Langhaarige vor Freude über das tolle neue Deo auf ihrem Bett auf und ab hüpft. Wer auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch oder Vertragsverhandlungen ist, wird dadurch in seiner Selbsteinschätzung beeinflusst. Und je stärker Rollenklischees auf Plakaten oder in Werbespots bedient werden, desto schlechter schneiden Frauen ab, wenn sie im Anschluss ihre mathematischen Fähigkeiten in einem Test beweisen sollen7.

Eine Forschungsarbeit der Harvard Universität8 belegte die unterschiedlichen Wirkungsweisen des ›Stereotype Threat‹ anhand von zwei auch in den USA verbreiteten Vorurteilen, dass nämlich erstens Frauen schlechter sind in Mathematik als Männer und zweitens Menschen asiatischer Herkunft über besonders gute mathematische Fähigkeiten verfügen. In diesem Test schnitten Studentinnen asiatischer Herkunft besser ab als die Kontrollgruppe, wenn sie im Vorfeld auf ihre ethnische Herkunft hingewiesen wurden. Das in diesem Fall positive Vorurteil wirkte also beflügelnd. Wurden die Studentinnen allerdings auf ihr Geschlecht aufmerksam gemacht, waren ihre Ergebnisse deutlich schlechter. In den USA fordern Wissenschaftler*innen deshalb, das Kreuzchen für männlich und weiblich oder auch Angaben zum ethnischen Hintergrund erst im Anschluss an einen Test abzufragen, um einer Stereotypbedrohung vorzubeugen.

Mit dem Geschlecht verknüpfte Vorurteile führen also dazu, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Studien oft größer ausfallen, als sie eigentlich sind, weil eine Gruppe möglicherweise durch das in ihrem Fall positive Vorurteil motiviert wird, während die andere Gruppe gegen die negativen Vorurteile ankämpfen muss und damit weniger kognitive Kapazitäten für die eigentlichen Aufgaben frei hat. Ein Problem, das jeden Menschen betrifft. Schließlich lernen wir von Anfang an, in Kategorien zu denken, und nutzen sie als Abkürzungen und Entscheidungshilfen. Aussagen, die wir häufig hören, können wir zuverlässiger wieder abrufen. Und die Assoziationen, die wir mit bestimmten sozialen Gruppen verknüpfen – Alte, Reiche, Blauäugige, Blondinen –, beinhalten ein spezifisches Wissen über die Machtverhältnisse in unserer Kultur und Gesellschaft. Über die Richtigkeit dieser Assoziationen ist damit allerdings noch nichts gesagt, betont der Sozialpsychologe Jens Förster in seinem Buch »Kleine Einführung in das Schubladendenken«: »Wenn mir bei ›alt‹ das Wort ›vergesslich‹ und nicht ›schlau‹ einfällt, dann hängt das vor allem damit zusammen, was mich unsere Gesellschaft über die Gruppe der älteren Menschen lehrt.«9 In China dagegen haben die Menschen großen Respekt vor dem Alter, sie assoziieren damit die Begriffe ›aktiv‹, ›weise‹ und ›wichtig‹. Und wie bei den oben genannten Beispielen zur Stereotypbedrohung hat auch hier die Erwartungshaltung der Umwelt Einfluss auf die Leistung des Einzelnen: »Alte Amerikaner schneiden in Gedächtnistests weitaus schlechter ab als junge Amerikaner. Alte Chinesen hingegen nicht. Die Gedächtnisleistungen von jungen und alten Chinesen unterscheiden sich in diesen Studien tatsächlich kaum!«10

Wenn eine Gesellschaft verinnerlicht hat, bei Jungen und Männern eher an mathematische Fähigkeiten zu denken als an Sprachbegabung, dann ist dem also nur schwer zu entkommen. Das beobachteten auch die Psycholog*innen Beate Seibt und Jens Förster11, als sie innerhalb einer Untersuchung vorgaben, die Sprachfähigkeit der Teilnehmenden zu testen. Der identische Test wurde für die eine Gruppe auf dem Deckblatt als Aufgabe beschrieben, »die sprachlichen Fähigkeiten von Männern und Frauen« zu testen, in der anderen Gruppe fehlte diese Zusatzangabe. Die männlichen Teilnehmenden der ersten Gruppe brauchten für den Test deutlich länger, die Frauen waren entsprechend schneller. Die stereotypbedrohten Männer wollten die Aufgabe nicht nur gut und schnell lösen, sie wollten vor allem keine Fehler machen und brauchten deshalb entsprechend mehr Zeit. Dieser Fehlervermeidungsmodus ist eine weitere Auswirkung der Stereotypbedrohung mit weitreichenden Folgen, besonders wenn es darum geht, kreative Lösungen zu finden. Mit dem »Ziegelsteinexperiment« konnten die beiden Forscher*innen zeigen, dass Menschen unter Stereotypbedrohung kaum in der Lage sind, kreative Ideen zu entwickeln. Die Teilnehmenden sollten alle denkbaren Ideen sammeln, wie sie einen Ziegelstein verwenden würden. In stereotypbedrohten Gruppen kamen dann Antworten wie: »Dinge bauen, werfen«, während in der nicht bedrohten Gruppe Überlegungen entstanden wie: »um zu zeigen, dass ich auch nur einer von vielen Ziegelsteinen in der Mauer bin«12.

Wer sich gegen negative Vorurteile behaupten muss, hat es im entsprechenden Bereich schwerer. Handwerkliche, mathematische und technische Interessen sind für Mädchen immer noch mit dem Stempel ›Ausnahme‹ verbunden. Sich in einem solchen Bereich dennoch durchzusetzen, bedeutet für ein Mädchen oder eine Frau, sich selbst und den anderen jeden Tag aufs Neue beweisen müssen, dass sie es dennoch kann, dass die Klischees nicht zutreffen, die Schublade klemmt. Die gute Nachricht ist, dass wir der Wirkung von Stereotypbedrohungen nicht vollkommen ausgeliefert sind: Sie verschwindet, wenn die Betroffenen überzeugt sind, dass die Vorurteile gar nicht zutreffen. Und genau darin liegt die Chance, diesen Kreislauf zu durchbrechen, den wir bislang mit traditionellen Rollenbildern in Gang halten, eine Chance für uns Eltern, für die Kinder, für unsere Gesellschaft. Denn schließlich bedeutet die negative Verknüpfung von Frauen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Interessen nicht nur eine Einschränkung für jede einzelne Betroffene, sondern schadet unserer gesamten Wirtschaft. Politik und Medien haben dieses Problem längst erkannt, doch statt das enge Korsett der Rollenstereotype aufzulösen, werden sie in vielen Kampagnen immer wieder neu hergestellt. Der poppige Spot zum Beispiel, mit dem die EU–Kommission im Jahr 2012 Mädchen für naturwissenschaftliche Berufe begeistern wollte, tritt genau in diese Falle: »Science: It’s a Girl Thing«13, behaupten die Macher*innen, um dann drei topgestylte, schlanke Mädchen im Mini und auf High Heels zwischen Reagenzgläsern und Bunsenbrennern posen zu lassen. Im Chemielabor der EU wird mit Puder und Nagellack experimentiert, begleitet von Mädchenkichern und dem prüfenden Blick eines Mannes im Weißkittel. Hier werden Klischees aufgefahren, die im Ergebnis das Gegenteil dessen bewirken, was eigentlich Sinn und Zweck der Kampagne war, nämlich junge Frauen für die Naturwissenschaften zu begeistern.

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