Kitabı oku: «Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage)», sayfa 3
Schulische Behinderung ist anforderungsbasiert, kategorial und fluid
Systemspezifität von schulischen Behinderungsstatus
Schulsysteme weisen spezifische Anforderungsstrukturen, spezifische Hierarchien von Fähigkeiten und damit spezifische Person-Umwelt-Verhältnisse auf. Die Anforderungsstrukturen, Ziele und Förderstrategien von Pflichtschulsystemen sind im Kern auf schulisch relevante Formen der «Performanz» (ICF) hin orientiert. Aus diesem Grund haben moderne Pflichtschulsysteme spezifische Behinderungsstatus hervorgebracht. «Sonderpädagogischer Förderbedarf» oder «individuelle Lernziele» können Menschen nur in ihrer Rolle als Schülerin und Schüler zugeschrieben werden – nicht aber Verkehrsteilnehmenden, Frührentnerinnen oder Personen, die ein barrierefreies Hotelzimmer buchen möchten. Umgekehrt gelten viele junge Menschen als «Menschen mit Behinderung» im Sinne des Sozial- oder Antidiskriminierungsrechts, ohne jemals in Schulsystemen als sonderpädagogisch förderbedürftig klassifiziert zu werden. Die verbreitete Annahme, es existiere eine stabile, klar identifizierbare Gruppe von Menschen mit Behinderung und diese Menschen würden in Schulsystemen eben sonderpädagogisch gefördert oder hätten allesamt einen schulischen Behinderungsstatus, ist unzutreffend.
Elemente der Institution «schulische Behinderung»
Um die Besonderheiten des Verhältnisses von Schulsystemen und Behinderung verstehen zu können, ist es vielmehr notwendig, mit Powell (2013) von einer eigenständigen – was nicht bedeutet: von anderen Systemen völlig losgelösten – Institution schulischer Behinderung auszugehen. Die Institution der schulischen Behinderung ist gekennzeichnet und getragen durch spezifische politische Diskurse. Hieraus entstanden Rechtsetzungen wie Lehrpläne, Bedarfsfeststellungs- und Zuweisungsreglemente oder Promotionsverordnungen, durch spezifische Professionen und deren Interessen, spezifische Begrifflichkeiten, Überzeugungen, Organisationsformen, Maßnahmentypen, implizite und explizite Normalitätsvorstellungen, Klassifizierungssysteme und Kategorisierungsprozesse.
Im nachfolgenden Beitrag legt Hollenweger dar, dass die ICF Behinderung und Funktionsfähigkeit als situiertes Kontinuum versteht, und sie zeigt auf, wie Professionelle ein kontinuierliches Verständnis von Behinderung pädagogisch fruchtbar machen können. Ähnlich argumentiert Weisser (2010, S. 6, Hervorh. im Orig.), wenn er festhält, es handle sich im Falle von Situationen der Behinderung «um Fähigkeitskonflikte als Konflikte zwischen dem, was (für jemanden) gerade möglich [ist], und dem, was gerade gefordert wird». Mit anderen Worten: Fähigkeitskonflikte sind nicht durch Behinderungen (mit-)determiniert, sie sind Behinderung.
Realität schulischer Anforderungsstrukturen
Die Frage, wo genau denn nun Funktionsfähigkeit endet und Behinderung beginnt, lässt sich mithin nur vor dem Hintergrund je gegebener Umwelten beantworten. Deren implizite und explizite Anforderungsstrukturen, so der Soziologe Kastl (2010, S. 126), «müssen und können […] auf ihre soziale Bedeutung und Änderbarkeit hin befragt werden», sind jedoch «so real wie Kaffeemaschinen» (ebd.). Wer sich vergewissern möchte, wie real allein die expliziten Anforderungsstrukturen von Bildungssystemen sind, wird in der baulichen Struktur und der Infrastruktur von Schulgebäuden ebenso fündig wie in Lehrplänen, Lehrmitteln, Testverfahren, in Beschreibungen von Performanz- oder Kompetenzstandards für fachliche und überfachliche Fähigkeiten, in Beobachtungsinstrumenten zuhanden von Lehrpersonen oder in Schul- und Klassenregeln.
So wird zum Beispiel eine psychodiagnostische Kategorie wie «Lese-/Rechtschreibstörung» nur im Kontext eines Schulsystems relevant, das spezifische Anforderungen an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens richtet und Ressourcen für deren Diagnose und Förderung zur Verfügung stellt. Diese Anforderungen sind in Lehrplänen recht genau festgeschrieben, werden regelmäßig erfasst und bewertet und können auch mittels Tests diagnostisch überprüft werden. Weicht die Performanz einer Schülerin in einem definierten Ausmaß von diesen Anforderungen ab, können Angehörige einer hierzu ermächtigten Profession (Schulpsychologie, Logopädie, Medizin oder Heil-/Sonderpädagogik) möglicherweise eine Lese-/Rechtschreibstörung diagnostizieren, einen entsprechenden besonderen Förderbedarf feststellen und damit bewirken, dass die Schülerin oder der Schüler von Fachpersonen gefördert wird. Verlässt die Schülerin aber das Schulzimmer und spielt mit Freunden im Wald, dann ist sie dabei in keiner Weise eingeschränkt oder behindert. Und wenn ihre schulische Performanz nicht mehr von Mindestanforderungen abweicht, dann endet grundsätzlich auch ihre besondere pädagogische Förderung in einem (hypothetischen) «Förderschwerpunkt Lesen und Schreiben».
Kategoriale Organisation von schulischen Behinderungsstatus
Das Beispiel zeigt noch ein weiteres Charakteristikum schulischer Behinderungsstatus auf: Sie sind fast immer kategorial organisiert. Selbst wenn Lehrpersonen Behinderung und Performanz als etwas Situiertes und Kontinuierliches verstehen, so erfordert die administrative Logik für die Feststellung besonderer Bedarfe doch in der Regel eine Transformation in eine Ja-nein-Entscheidung. Eine Schülerin «hat» nach einer vorgegebenen Bedarfsfeststellungsprozedur einen formellen Förderstatus oder Nachteilsausgleich – oder sie «hat» ihn eben nicht. Ist ihre Performanz im Lesen und Schreiben zwar deutlich beeinträchtigt, weicht aber gerade nicht so weit von Mindeststandards ab, wie dies für die Erlangung eines schulischen Behinderungsstatus erforderlich ist, dann bleibt es bei der «normalen» Förderung, es wird kein Nachteilsausgleich gewährt und so weiter.
Probleme von kategorialen Status
Kategoriale Behinderungsstatus sind Grundlage für die Sicherung individueller Anspruchsberechtigungen auf Unterstützung, Förderung oder Nachteilsausgleich und die damit verbundene Zuweisung von Ressourcen. Sie haben aber auch zahlreiche problematische Nebenwirkungen: Sie können zu einer Stigmatisierung gewisser Kinder und Jugendlicher führen, Erwartungen an deren Performanz absenken, eine Exklusionsdrift in Richtung segregierter Förderorte bewirken oder, wie das vorangehende Beispiel zeigt, auch dazu führen, dass durchaus sinnvolle und notwendige Förderungsmaßnahmen nicht gewährt werden.
Status auch innerhalb des Systems nicht permanent
Doch auch für kategorial verfasste schulische Behinderungsstatus trifft zu, was Barnartt (2010) als «Fluidität von Behinderung» kennzeichnet. Selbst wenn man in Rechnung stellt, Behinderung sei ein zwar relationaler, aber letztlich an Personen innerhalb ihrer jeweiligen Umwelt gebundener Status – die Rede von «Menschen mit Behinderung» legt dies ebenso nahe wie fast alle schulisch-administrativen Behinderungskategorien –, so wäre es doch irreführend, solche Status als grundsätzlich permanente zu verstehen, erst recht innerhalb einer Umwelt, wie sie die Schulsysteme darstellen. Es gehört zum Kernprogramm der Schule, menschliche Fähigkeiten und Performanz als fluid und veränderbar zu betrachten und so umfassend wie möglich zu fördern, wenn nötig auch durch kompensatorische Maßnahmen, Hilfsmittel oder die Variation von Anforderungen. → Siehe Beitrag von Luder und Kunz. Verbessert sich die schulspezifische «Performanz» (ICF) von Schülerinnen und Schülern, weil barrieren- oder individuell-funktionsbezogene Interventionen, auch und gerade jene, die durch kategoriale Bedarfsstatus ausgelöst werden, genau das bewirken, was sie ihrem Anspruch nach bewirken sollen, dann kann die Grundlage für die Zuschreibung schulischer Behinderungsstatus entfallen. Treten Jugendliche mit dem Ende des Pflichtschulalters aus dem Schulsystem aus, dann enden schulspezifische Behinderungsstatus ohnehin.
Schulische Behinderung kann nach wie vor Exklusion legitimieren
Auf schulische Anforderungsstrukturen und deren hohes Maß an öffentlicher und politischer Legitimität ist ein Phänomen zurückzuführen, das gleichsam auf die Schattenseite der Institution der schulischen Behinderung verweist: anhaltende Exklusion. Denn nicht nur Anforderungsstrukturen, Ziele und Förderstrategien von Pflichtschulsystemen sind im Kern performanz- und fähigkeitsbasiert, sondern auch die formalen In- und Exklusionsregeln ihrer Organisationen.
UN-BRK: «Gleichberechtigt mit anderen»
Behinderung ist in allen gängigen, rechtlich relevanten Listen von Diskriminierungsmerkmalen aufgeführt, mittels deren Diskriminierung in Bildungssystemen reduziert werden soll. So hat die Schweiz 2014 das Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: UN-BRK) ratifiziert, einen verbindlichen Völkerrechtspakt, dessen Vertragsstaaten mit der Ratifizierung konkrete Verpflichtungen eingegangen sind (ausführlich: Bielefeldt, 2011; Degener, 2009; Kälin et al., 2008). Zu diesen Verpflichtungen gehören die in Pädagogik und Bildungspolitik intensiv diskutierten Verpflichtungen in Artikel 24, ein «inclusive education system at all levels» ebenso sicherzustellen wie den Zugang aller Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zu «inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live» – gleichberechtigt mit anderen, in der Gemeinde, in der sie leben.
Für Schulsysteme, die auf das Vorliegen eines schulischen Behinderungsstatus über Jahrzehnte fast automatisch mit Exklusion in Sonderschulen und Sonderklassen reagiert hatten, brachte die UN-BRK einen deutlichen Veränderungsdruck. Sonderschulen, erwartete die Juristin Degener im Jahr 2009, würden «durch die BRK zwar nicht kategorisch verboten, die systematische Aussonderung behinderter Personen aus dem allgemeinen Bildungssystem stellt allerdings eine Vertragsverletzung dar» (Degener, 2009, S. 216 f.).
Sonderstellung der Differenzdimension «schulische Behinderung »
Doch kommt trotz der UN-BRK auch in Staaten wie der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und Österreich Kategorien schulischer Behinderung nach wie vor eine einzigartige Stellung zu. Obgleich eine nahezu automatische Exklusion allein wegen des Vorliegens eines schulischen Behinderungsstatus der Vergangenheit angehört, kann Kindern und Jugendlichen nach wie vor ausschließlich unter Rückgriff auf a) spezifische diagnostizierte Performanzdefizite oder b) spezifische Bedürfnisse und Bedarfe, von denen angenommen wird, dass ihnen nur an besonderen Förderorten entsprochen werden kann, der Zugang zu öffentlichen Regelschulen und Regelklassen verwehrt werden. Dies auch dann, wenn an Förderorten Kinder mit externalisierend-aggressivem Verhalten zusammengeführt werden; möglicherweise wird dann eine ungünstigere Entwicklung der Fähigkeiten und Lebenschancen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen in Kauf genommen.
Verlagerung von Exklusionsbegründungen auf Performanzdefizite und Fördersemantik
Unter explizitem Rückgriff auf ein Merkmal wie die soziale Herkunft eines Kindes oder Jugendlichen wäre die Begründung eines solchen Ausschlusses offen diskriminierend und damit eindeutig rechtswidrig. Pfahl konstatiert daher eine Verlagerungstendenz: Ehemals ständisch organisierte Bildungssysteme nehmen heute oftmals den Umweg über die Zuschreibung von Performanz- beziehungsweise Kompetenzdefiziten und das Versprechen einer «individuellen Förderung», um Formen der Segregation von Kindern und Jugendlichen entlang sozialer Herkunft zu legitimieren (Pfahl, 2010, S. 1 f.).
Literatur
Barnartt, S. (2010). Disability as a fluid state: Introduction. In Barnartt, S. (Hrsg.), Disability as a fluid state. Research in Social Science and Disability, Volume 5 (S. 1–22). Emerald.
Bielefeldt, H. (2011). Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention. In Moser, V. & Horster, D. (Hrsg.), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung – eine Grundlegung (S. 149–166). Kohlhammer.
Degener, T. (2009). Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor. Recht der Jugend und des Bildungswesens, (2), 200–219.
Kälin, W., Künzli, J., Wyttenbach, J., Schneider, A. & Akagündüz, S. (2008). Mögliche Konsequenzen einer Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz. Gutachten zuhanden des Generalsekretariats GS-EDI/Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB. Institut für öffentliches Recht der Universität Bern.
Kastl, J. M. (2010). Einführung in die Soziologie der Behinderung. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Pfahl, L. (2010). Sonderschulen, Arbeitsmärkte, behindernde Subjektivierung. In Soeffner, H.-G. (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 43. Kongresses der DGS. Band 2 (CDROM). Campus.
Powell, J. J. W. (2013). Kulturen der sonderpädagogischen Förderung und «schulische Behinderung»: Ein deutsch-amerikanischer Vergleich. In Hummrich, M. & Rademacher, S. (Hrsg.), Kulturvergleich in der qualitativen Forschung. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und Analysen (S. 139–154). Springer VS.
Tomlinson, S. (2017). A sociology of special and inclusive education. Exploring the manufacture of inability. Routledge.
UN (2014). Convention on the rights of persons with disabilities. www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml.
Weisser, J. (2010). Sozialraumorientierung und Situationen der Behinderung. Über die sozialräumliche Strukturierung von Abhängigkeitsbeziehungen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, (1), 4–10. doi:10.2378/vhn2010.art01d.
ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage
Judith Hollenweger
Von einer Behinderung betroffene Kinder und Jugendliche erfahren in der Schule oft eine fehlende Passung zwischen Anforderungen und ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten. Behinderung bedeutet immer sowohl «behindert sein» als auch «behindert werden». Traditionelle Behinderungskategorien suggerieren hingegen unveränderliche Eigenschaften und entziehen sich somit einer situativen Analyse. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) bietet die Grundlage für ein neues, adäquateres Verständnis. Die ICF und die Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) basieren auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis: sie analysieren Behinderungen also nicht nur als Probleme des Körpers, sondern auch als Probleme der Aktivitäten einer Person und des Einbezogenseins in Lebenssituationen. Die ICF sieht diese drei Aspekte der Funktionsfähigkeit in Abhängigkeit von Umweltfaktoren und von personbezogenen Faktoren. Das Modell und die Klassifikation der ICF sollen im Folgenden vorgestellt und anhand von Beispielen ausgeführt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei einem besseren Verständnis des Zusammenwirkens dieser Komponenten in spezifischen Situationen gegeben. Auf dieser Grundlage gelingt es besser, die Lebenssituation der betroffenen Kinder oder Jugendlichen zu verstehen und die schulischen Anforderungssituationen anzupassen. Dies ist Voraussetzung dafür, dass Kinder mit Behinderungen am Lernen und Zusammenleben in der Schule partizipieren können.
«Behinderung» neu denken
Unterricht ist dann gut, wenn alle daran beteiligten Kinder für ihre Entwicklung und Bildung optimal profitieren können. Eine Schule für alle ist eine Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam leben und lernen. Dabei sind der Lehrplan, die Lehrmittel, Aufgaben und Unterrichtsmaterialien wichtige Orientierungspunkte. Bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen können hier allerdings Schwierigkeiten auftreten, weil sie erwartete Voraussetzungen nicht mitbringen oder unerwartete Bedürfnisse beim Lernen und Interagieren haben. Wie können Lehrerinnen und Lehrer Unterrichtssituationen planen und gestalten, Hilfen bereitstellen, Ziele festlegen und überprüfen, sodass alle Schülerinnen und Schüler angesprochen und herausgefordert sind und von den geschaffenen Lerngelegenheiten profitieren können? Dies erfordert hohe Professionalität, deren Grundlagen im Studium erworben werden und die sich im Verlaufe der beruflichen Tätigkeit weiterentwickelt. Erforderlich ist auch ein tragendes Netzwerk verschiedener Fachleute, auf das sich Regellehrpersonen abstützen können.
Traditionelle Behinderungsbegriffe sind wenig hilfreich
Was können Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit? Was nehmen sie mit an Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen, wie viel Selbstvertrauen und Freude am Lernen oder Interesse an Neuem haben sie? Damit Lehrpersonen allen Schülerinnen und Schülern ein adäquates Lernangebot machen können, schätzen sie laufend die Voraussetzungen, die gegenwärtige Situation sowie das Potenzial der einzelnen Kinder und Jugendlichen ein. Doch was ist, wenn ein Kind eine Behinderung hat? Behinderungen schaffen Unsicherheit für alle direkt oder indirekt Betroffenen, weil damit andere Lernvoraussetzungen, besondere Anforderungen an Lernsettings, ungewohnte Interaktionsformen sowie Ungewissheit des Bildungserfolgs verbunden sind. Diese Unsicherheit kann nur reduziert werden, wenn Lehrpersonen ein besseres Verständnis der Situation des Kindes gewinnen – als Grundlage für ihr eigenes Handeln. Traditionelle Behinderungsbegriffe wie geistige Behinderung, Lernbehinderung, Körperbehinderung oder ähnliche Konzepte sind wenig hilfreich, denn sie fokussieren nur auf das, was eine Lehrperson meist nicht ändern kann. Doch auch im schulischen Kontext verwenden immer noch viele Fachpersonen ausschließlich Begriffe wie Down-Syndrom, geistige Behinderung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Verhaltensstörung, Lernbehinderung oder Autismus, wenn es darum geht, Schwierigkeiten zu erklären. Mit der Bestimmung einer Störung glaubt man zu wissen, was das Kind hat, was dem Kind fehlt und wie man ihm helfen kann. Oft bewirken solche Feststellungen genau das Gegenteil: Lehrpersonen fühlen sich hilflos, weil sie aus solchen Diagnosen keine Informationen ziehen können, die ihnen neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Komplexe Schwierigkeiten werden auf eine oft nicht einmal klar definierbare Eigenschaft des Kindes reduziert; problematische Situationen und Probleme zwischen Menschen werden zu einem Problem des Kindes gemacht.
Wichtige Informationen für Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht
Alle wirklich wichtigen Informationen betreffend Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht sind in diesen Begriffen nicht mehr sichtbar: Welche Aufgaben kann das Kind bewältigen, respektive wie müssen diese angepasst werden, damit das Kind sie bewältigen kann? Mit welchen Lehr-Lern-Settings kann es sich am besten am Unterricht beteiligen? Wie lassen sich Ziele setzen und deren Erreichung beurteilen, respektive wie können Rückmeldungen zu Lernen, Leistungen und Entwicklung gegeben werden? Was kann beispielsweise Sarah besonders gut? Wie kann Tobias motiviert werden? Wo brauchen die von einer Behinderung betroffenen Kinder Unterstützung, und wo müssen sie herausgefordert werden? Wann lernen sie besser allein als mit der Hilfe von Klassenkameraden? Wie erklärt die Lehrerin der Klasse, weshalb Ivana beim Schreiben einer Prüfung mehr Zeit erhält? Hinter Diagnosen verschwindet fast alles, was Lehrpersonen über Kinder mit Behinderungen wissen müssen.
Damit Lehrpersonen sich gegenüber Kindern mit Behinderungen als wirksam erleben, müssen sie einen neuen Zugang zum Verstehen der Situation betroffener Kinder entwickeln. Krankheiten und Störungen (Diabetes, Autismus, Down-Syndrom) zu heilen oder zu behandeln, gehört nicht zum Berufsauftrag von Lehrpersonen. In manchen Fällen ist es zwar wichtig zu wissen, dass eine Krankheit vorliegt, weil bestimmte Verhaltensweisen oder Bedürfnisse damit zusammenhängen können. Wichtig ist insbesondere ein gutes Verständnis dessen, wie sich eine Schädigung oder Krankheit auf die Beteiligung am Unterricht und am Schulleben auswirkt. Für die Handlungsfähigkeit von Lehrpersonen ist es indessen vor allem wichtig zu verstehen, was an Behinderungen tatsächlich nicht beeinflusst und was durch Lehr-Lern-Prozesse verändert werden kann.
Wie können Lehrpersonen Behinderungen so verstehen, dass sich Handlungsmöglichkeiten eröffnen statt verschließen? Wie Behinderung in diesem Sinne neu gedacht werden kann und was das für Lehrpersonen und ihre Arbeit bedeutet, ist Gegenstand dieses Beitrags. Behinderungen sind Einschränkungen oder Besonderheiten, die beim Ausführen von Handlungen, beim Bewältigen von Situationen oder beim Problemlösen und Lernen wirksam werden. Behinderungen sind keine fixen Eigenschaften von Personen, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Charakteristiken einer Person und ihrer Umwelt. Behinderungen sind situativ zu verstehen; sie werden immer in ganz bestimmten Situationen sichtbar, wenn etwa bestimmte Anforderungen an das betroffene Kind gestellt werden. Das Planen und das Gestalten von Situationen sind Kernaufgaben von Lehrpersonen, und sehr oft sind sie auch direkt an Lernsituationen mitbeteiligt. Genau hier müssen die Informationen zu allfälligen Behinderungen einfließen können.
ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health Behinderung
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2001 zur besseren Erfassung von Behinderungen eine neue Klassifikation verabschiedet und allen ihren Mitgliedsländern zur Anwendung empfohlen. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) und deren Version für Kinder und Jugendliche (Children and Youth Version, ICF-CY, WHO, 2011) bauen auf einem neuen Verständnis von Behinderung auf. Die ICF bringt Ordnung in die bisherigen Behinderungsbegriffe und ermöglicht, für alle Fachpersonen und Betroffenen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Sie trennt Krankheiten und andere Gesundheitsprobleme von den Komponenten der Funktionsfähigkeit. Gesundheitsprobleme werden mit der «Internationalen Klassifikation der Krankheiten» (International Classification of Diseases, ICD) separat erfasst, wobei die ICD vor allem in medizinischen Arbeitskontexten verwendet wird. Mit der ICF können Probleme auf der Ebene des Körpers, der Handlungsfähigkeit der Person und der Beteiligung an Situationen unterschieden werden. Immer mitgedacht werden die Kontextfaktoren, sowohl seitens der Umwelt (Umweltfaktoren) als auch seitens der beteiligten Personen (personbezogene Faktoren). Damit liegen die Grundlagen vor für ein besseres Verständnis der Situation eines Kindes mit Behinderungen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Eigenschaften der ICF, ihre Bedeutung für ein neues Verständnis von Behinderungen in der Schule und für die Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen dargestellt werden.