Kitabı oku: «Natürlich heilen mit Bakterien - eBook», sayfa 4

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Die persönliche Verminderung von Vielfalt und Fülle im Mikrobiom der einzelnen Menschen summiert sich in den von dieser Entwicklung betroffenen Gesellschaften auf einen allgemeinen Bakterienmangel, der inzwischen dahin geführt hat, dass Menschen in industrialisierten Ländern erheblich weniger Bakterienarten im Körper haben als in naturnah lebenden Kulturen. Forscher verglichen die »zivilisierte« Bakterienbesiedelung mit jeweils der von Hadza-Jägern im Inneren von Tansania,62 von Ureinwohnern in Papua-Neuguinea63 und in Burkina Faso64 und von erst im Jahr 2009 kontaktierten Dorfeinwohnern des Jäger-und-Sammler-Volksstammes der Yanomami im Urwald von Venezuela.65 Letzterer lebt seit 11 000 Jahren dort, ohne von der antimikrobiellen Zivilisation berührt worden zu sein. Bei allen ermittelte man in Stuhlproben, Nasenabstrichen und Haut ein viel größeres Bakterienspektrum als bei uns. Bei den Yanomami fand man die höchste je bei Menschen gemessene Artenvielfalt überhaupt, um 40 Prozent mehr als beim durchschnittlichen US-Amerikaner. Fast ungläubig äußern die Forscher in den Studien die Vermutung, die größere Vielfalt und Fülle als bei uns hänge wohl mit dem von der Natur entfremdeten Lebensstil der Menschen in Industrienationen zusammen, der sie ihrer ursprünglichen Bakterienbesiedelung beraubt habe. Schon werden Überlegungen angestellt, ob diese Vielfalt bakterienreicher Völker nicht zu therapeutischen Zwecken für die Menschen in der westlich zivilisiertenWelt genutzt werden könne. Derweil schickt die Regierung Venezuelas fürsorglich zweimal jährlich per Helikopter medizinische Versorgung zu den Yanomami und behandelt sie – unter anderem mit: Antibiotika!

Wir leiden also aufgrund unserer desinfektiösen Lebensweise in unserer Zivilisation an persönlichem Bakterienchaos im Körper und an kollektivem Mikrobenmangel im ganzen Volk. Und wo die natürliche Vielfalt in einer großen Gemeinschaft verloren ist, kann sie selbst bei innigstem Körperkontakt nicht mehr ausgetauscht, nicht mehr von Mutter zum Kind weitergegeben und ohne Hilfe nicht mehr wiederhergestellt werden. Das ist erschütternd. Wir haben ungewollt die Grenzen unserer Mikrobiomtoleranz längst weit überschritten und bekommen nun die Folgen überall zu spüren.

Bakterielle Resistenzen

Neben Bakterienmangel ist eine logische Folge von Antibiose die Veränderung der übrig bleibenden Bakterien und die Ausbildung von Resistenz. Resistenz bezeichnet die Fähigkeit von Einzellern, Pflanzen, Tieren oder Menschen, gegenüber lebensbedrohenden Giften aus der Umgebung zwecks Überleben unempfindlich geworden zu sein. Sind Bakterien gegenüber einem Antibiotikum resistent, wirkt das Mittel nicht mehr gegen sie. Das heißt, dass sie sich trotz der Anwendung bakterienhemmender Mittel weiter vermehren oder trotz bakterientötender Mittel weiter leben können.

Wie kommt solch eine Resistenz zustande?

Gesunderweise leben Bakterien wie alle Wesen immer und überall in Verständigung miteinander und mit der Umgebung. Sie haben feine Wahrnehmungsorgane in Form bestimmter Oberflächengebilde auf ihrer Hülle, die nach Kontakt von außen im Zellinneren eine passende Reaktion bewirken, damit sie die der Umwelt angemessene Aktivität entfalten. Das ist die Voraussetzung für ein Miteinander des Mikrobioms mit Körperzellen. Sie lesen dadurch die Umgebung beständig ab und sind fähig, auf veränderte Bedingungen jederzeit angemessen zu reagieren. Indem sie ihr ganzes Leben beständig fein den Gegebenheiten anpassen, können sie den jeweils wechselnden Umständen, wie sie beispielsweise durch das Essen im Darm entstehen, stets gerecht werden und ihre jeweiligen Aufgaben vor Ort unentwegt gemeinschaftlich erfüllen.

Der Information der Einzeller untereinander und auch mit den Körperzellen von Pflanze, Tier und Mensch dient der Austausch kleinerSignalbotenstoffe. Antibiotika sind nun, wie wir gesehen haben, isolierte und verdichtete, also zur Verstärkung kräftig angereicherte Formen solcher Signalstoffe. Es sind Botschaften, die zum Beispiel Schimmel- oder Bodenpilze natürlicherweise gegenüber Bakterien in kleinen Mengen abgeben, um sich über Aktivitäten in der Umgebung zu verständigen. Diese Verständigung erfolgt gemäß einer jahrmilliardenalten Entwicklung zu höherem Leben und dient den Mikroben zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben.

Die zu Antibiotika erklärten Substanzen bedienen diese Kommunikation, allerdings nun künstlich verstärkt und mit der Absicht, Bakterien zu töten. Sie sind quasi eine von Menschen nachgemachte und gewaltig übersteigerte Nutzung ihrer naturgegebenen Verständigungsweise, eigentlich ihr Missbrauch. Bildlich gesprochen, ist es, als würde man das Sprechen und Hören von Menschen gegen sie nutzen, indem man ihnen Sprache per Megaphon so laut ins Ohr plärrt, dass sie vor Schreck erstarren oder tot umfallen. In diesem Bild bestünde eine mögliche Resistenz darin, sich Ohrstöpsel oder Kopfhörer auf die Ohren zu setzen, den Lautsprecher zu zerlegen oder den Strom abzudrehen, damit man wieder normal weiterleben, sich in Ruhe unterhalten und seiner Tätigkeit nachgehen kann.

Bakterien reagieren auf einen Angriff von Antibiotika, deren Ausmaß sie bedroht, wie alle Lebewesen mit einer Art SOS-Reaktion. Sie können je nach Bedarf Enzyme aktivieren, die die antibiotische Substanz spalten oder verändern, sie können die Molekülanordnung in sich selbst verwandeln, ihre Zellwand verdicken, Pumpen zum Ausschleusen der Substanz in Gang setzen und anderes mehr. Es sind also zuvor angelegte Möglichkeiten, die nun durch Antibiotika aktiviert werden.

Als man das Prinzip der Resistenz gegenüber Antibiotika anfangs beobachtete, meinte man, die Bakterien reagierten mit einer Art Neuentwicklung von Eigenschaften. Man glaubte, sie wehrten sich gegen den Menschen. Mittlerweile fand man jedoch, dass die Information für Antibiotikaresistenzen bereits in den Genen von Bakterien prähistorischer Funde liegt. Die Möglichkeit zur Neutralisierung von Signalbotenstoffen, also auch der Antibiotika, gehört nämlich zum natürlichen Repertoire der Bakterien. Die Information dazu befindet sich meist auf kleinen Genstücken gespeichert, die man »Plasmide« nennt und die frei im Zellinneren liegen. Anders als das Chromosom der Bakterien können diese Plasmide beliebig untereinander ausgetauscht und auch einfach in die Umgebung abgegeben werden. Es gibt Resistenzplasmide für Enzyme, die bereits mehr als zwei Millionen Jahre alt sind66 und seit Millionen von Jahren unter Bakterien ausgetauscht werden. AndereResistenzgene fand man in rund 30 000 Jahre alten Sedimenten im Permafrost des Beringmeeres.67 Auch Ötzi, die 5000 Jahre alte Gletscherleiche, trug bakterielle Resistenzgene im Darm.

Was wir also Resistenz nennen, ist in Wirklichkeit keine Neuerrungenschaft, vielmehr die natürliche Fähigkeit von Einzellern, ihre Kommunikation fein zu regulieren. Nur, dass nun auf zu viele Botenstoffe eine entsprechend große Regulation erfolgt. Es ist nachvollziehbar, dass ein Botenstoff, nachdem er seine Wirkung gezeigt hat, ja irgendwie neutralisiert werden muss. Dass das unserer Absicht zuwiderläuft, Bakterien zu behindern, und dass wir es folglich »Resistenz« nennen, ist bloß die einseitige Sicht der menschlichen Idee von Bekämpfung und Widerstand.

Solange Antibiotika noch natürlichen Ursprungs waren, wurde vorhandene Resistenzfähigkeit in Bakterien einfach aktiviert. Durch die Entwicklung künstlicher Antibiotika entstanden dann zusätzliche Mechanismen. Damit begegnen die Bakterien den Angriffen so, dass das Leben auf der Ebene der Kleinstlebewesen möglichst trotzdem bestehen bleiben kann. Nach obigem Bild des Megaphons schützen sich die Mikroben vor dem Übermaß an Lautstärke und machen die »Ohren« dicht – mit der Folge, dass sie dann untereinander und mit Körperzellen natürlich auch nicht mehr wie zuvor »reden« können. So führen Antibiotika über die aktivierten Resistenzen zu neuen Problemen. Das Übermaß an Resistenzen, das auf der Erde jetzt die Politiker alarmiert, ist der verzweifelte Versuch der Bakterien, auf unsere unmäßige Verwendung ihrer Signalbotenstoffe ausgleichend zugunsten der Rettung der Erde zu reagieren. Je mehr Antibiotika eingesetzt werden, desto mehr Resistenzaktivität wird es folglich geben. Jedenfalls, solange es Bakterien gibt.

Seit Beginn der Antibiotika-Verwendung wurden Zigtausende Tonnen künstlich produziert und auf der Erde verteilt. Allein in den Jahren 2000 bis 2010 stieg der weltweite Antibiotikaverbrauch um 30 Prozent.68 Dabei wirkt beispielsweise Penicillin gegen Staphylokokken bereits in einer Verdünnung von 1 zu 84 Millionen!69 Über Mensch und Tier und Produkte werden 30 bis 90 Prozent der Wirkstoffe unverändert ausgeschieden,70 gelangen ins Abwasser und reichern sich in allen Lebensräumen an. Man hat Erdboden von heute mit archiviertem Boden vom Jahr 1940 verglichen und eine um mehr als 15 Prozent höhere Menge von Resistenzgenen im Vergleich zu früher gefunden. Wir haben die Erde in eine Resistenzhyperaktivität getrieben.71

Am stärksten entwickeln sich Resistenzen dort, wo die meisten Antibiotika eingesetzt werden und wo am wenigsten gesunde Bakteriensind. Länder mit hohem Antibiotikaumsatz verzeichnen hohe Resistenzraten.72 Die Massentierhaltung mit Antibiotika führt zur massiven Resistenzgenentwicklung und zum Resistenzgenaustausch. In konventionellen Schweinemastställen fand man in Nasenabstrichen bei 92 Prozent der Tiere resistente Bakterien.73 Sie leben im Stallstaub, in der Nase der Landwirte, fliegen in die Umgebung und bleiben im verkauften Fleisch. Im Extremfall verschwinden normale, nicht resistente Bakterien völlig.74

Beim einzelnen Menschen können sich diese Folgen antibiotikaresistent gewordener Bakterien auf vielfältige Weise äußern: Sei es in einer Schwächung des Immunsystems, in Verdauungs- oder Wundheilungsstörungen, in Erbrechen und Durchfällen bis zur Austrocknung, in Atemwegserkrankungen, Organversagen, massiven Entzündungen bis hin zur Blutvergiftung und zum Tod.

»Krankenhauskeime«

In Krankenhäusern entstehen mehr Resistenzen als außerhalb von ihnen, was zur Bezeichnung »Krankenhauskeime« für resistente Bakterien dort geführt hat. Hunderttausende von Menschen jährlich werden in Deutschland damit neu besiedelt. Zehntausende sterben daran. Natürlich bleiben die Bakterien aber nie an einem Ort. Durch die Dichte antibiotikabehandelter Menschen und die vielen desinfizierenden Maßnahmen entwickeln sich allerdings in Krankenhäusern oft gleich mehrere Resistenzaktivitäten gleichzeitig. Weist ein Bakterium drei oder mehr davon auf, spricht man von »Multiresistenz«. Diese versucht man durch sogenannte »Reserveantibiotika« weiter zu bekämpfen. Wenn auch diese keine Wirkung mehr zeigen, weil die Bakterien entsprechend reagieren, ist die moderne akademische Medizin gegenüber Erkrankten buchstäblich hilflos.

Ein großer Prozentsatz auch der gesunden Bevölkerung trägt die veränderten Resistenzgene unbemerkt in sich und überträgt sie durch Körperkontakt überallhin. Wird ein solcher Mensch krank, kann es sein, dass er nur viel mühsamer gesundet als jemand ohne sie.

Bakterienmangel, Verlust an Bakterienvielfalt, Verzerrung der Mikrobiom-Gemeinschaft und Resistenzaktivierungen – die Folgen der Antibiotikaverwendung sind horrend. Die Zusatzkosten allein bei einem Kranken mit Antibiotikaresistenz beziffert man mit etwa 8850 bis 35 390 Euro pro Person. Dies summiert sich in den 43 OECD-Ländern bis zum Jahr 2050 auf geschätzte 2,5 Billionen Euro.75

Bisher werden die Folgen der Resistenzaktivierung weltweit zwar als »Bedrohung« erkannt. Eine Mitteilung der britischen Regierung 2014 rechnet vor, dass bis zum Jahr 2050 jährlich weltweit zehn Millionen Menschen mehr als heute an resistenzaktivierten Bakterien sterben werden. Allein die rechnerische Verringerung des Bruttosozialproduktes durch das Vorhandensein von Resistenzen im Menschen würde dann mit fast 90 Billionen Euro mehr Geld kosten als das gesamte derzeitige Weltwirtschaftsvolumen.76

In ihren Vorschlägen zur Verbesserung dieser Perspektive fehlt jedoch ausnahmslos allen – auch noch so ausführlichen – Strategiepapieren, Konzepten und Managementprogrammen, sei es der Regierungen, Gesundheitsorganisationen, Krankenkassen, Ärzteverbände oder anderen Initiativen, der wahre Weitblick. Denn um diese Spirale zu beenden, hilft nur eins: die Kommunikation zwischen Mensch und Mikrobe ab sofort wieder von jeglichen Tötungsabsichten vollständig zu befreien.

Für eine wahre Heilung in dieser das Leben auf der Erde existenziell gefährdenden Situation nutzt es nämlich nichts, die Folgen der Ursache immer noch weiter zu bekämpfen. Das sagt schlichtweg der gesunde Menschenverstand: Wenn auf eine Aktion eine Reaktion folgt, und man reagiert darauf, indem man die Aktion verstärkt, wird darauf logischerweise eine stärkere Reaktion folgen. Zu hoffen, man könne die Aktion fortführen, ohne die Reaktion zu bewirken, ist illusorisch. Zu glauben, die Aktion müsse nur so stark werden, dass die Reaktion verschwindet, ist geradezu naiv. Die Ansicht, die Menschheit könne durch »verstärkte Anstrengung« das Problem bakterieller Resistenzen »in den Griff bekommen«, ist tatsächlich eine Anmaßung gegenüber dem Leben. Auf diese Weise können die Folgen mit Sicherheit nur noch dramatischer werden.

Bereits vor vierzehn Jahren forderte die Weltgesundheitsorganisation WHO: »Mittlerweile hat das Problem überall auf der Welt ein kritisches Niveau erreicht. Es muss dringend etwas passieren.«77 Dieser Ruf ertönt derweil von den höchsten Stellen allüberall. Doch er verhallt in der Verharrung, denn das, was wirklich geschehen muss, wird immer noch nicht gesehen: Der einzige Ausweg aus all diesen existenzbedrohenden Problemen ist die Änderung der bisherigen Absicht von Bekämpfung durch den Menschen und stattdessen die Hinwendung zu einem friedlichen Miteinander mit den natürlichen Lebensgemeinschaften und Eigenschaften der Bakterien auf der Erde.

[1] Spiralförmige Mikroorganismen, deren bekannteste derzeit die Borrelien sind.

[2] Ab 1935 als »Prontosil« im Handel.

[3] Vom griechischen antagōnisma für »Widerstreit«. Eine bei Mikroben irreführende Bezeichnung für ihre Kommunikation untereinander.

[4] Vom griechischen symbíōsis für »Zusammenleben«.

[5] Als »Parasit« galt damals ein Lebewesen an oder in einem Organismus, der ihm Nahrung gibt, also auch Bakterien im Körper (vom griechischen parásitos für »Tischgenosse«).

[6] »Chloramphenicol«.

[7] »Bacitracin«, nach der Patientin namens Tracy benannt.

[8] »Cephalosporin«.

[9] Man unterscheidet die gegen Pilze gerichtete »antimykotische«, gegen Würmer gerichtete »antihelminthische«, gegen Viren gerichtete »antivirale« sowie eine gegen Protozoen gerichtete Therapie. Der übergeordnete Begriff ist »antimikrobiell«.

[10] Vom griechischen statós für »stillstehend«.

[11] Vom lateinischen caedere für »töten, fällen, ermorden, schlachten«.

Probiotika

Von Darmdesinfektion zu bulgarischen Bazillen

Was wir heute »Probiotika« nennen, übersetzt »für das Leben«, entspringt einer Entwicklung, die bereits lange vor der Erfindung der Antibiotika begann. Es war ja eine Zeitlang ungewiss, was Bakterien im Menschen denn wirklich zu suchen hatten.

Ab 1890 war die Idee des Tötens von Bakterien zur Beseitigung von Krankheiten zwar insgesamt vorherrschend, jedoch widmeten viele Forscher bis zum Beginn der Sulfonamidtherapie 1935 ihre Arbeit weiterhin den allgemeinen Fragen zum Bakterienleben. Etliche von ihnen beschäftigten sich mit ihrer Wirkung als »Autovaccine«, die das Immunsystem gegen Krankheiten stärken sollten (siehe Seite 186ff.). Man sammelte viele Erkenntnisse über das Mikrobiom, die dann über die Antibiotika-Ära wieder in Vergessenheit gerieten.

Am einfachsten waren beim Menschen dabei Versuche mit Bakterien aus dem Darm, weil man sie aus Stuhl bequem gewinnen konnte. Bis heute wird bevorzugt an Stuhlproben geforscht, obwohl diese in Wirklichkeit bloß einen Teil der Darmbakterien erfassen. Vielleicht auch, weil sich im Darm die größte bislang gefundene Bakteriendichte im Menschen versammelt findet.

Man stellte sich damals eine »Darmintoxikation« vor, eine Vergiftung, die aus dem Darminneren sich in den ganzen Körper auswirkte. Dafür machte man »Fäulnisbakterien« verantwortlich. Dass eine solche Vorstellung nicht ganz unberechtigt war, erweist sich heute, allerdings genau andersherum: nicht wegen der Bakterien, sondern bei ihrem Mangel. Bei Mikrobiomstörungen mit einer zu großen Durchlässigkeit der Darmschleimhaut (Leaky Gut, siehe Seite 119f.) gelangen Stoffe ungefiltert direkt in Blut und Leber und »vergiften« von da aus tatsächlich den restlichen Organismus.

Als der bulgarische Medizinstudent Stamen Grigorow (1878–1945) Sauermilch zum Studium mit an die Universität nach Genf nahm, ahnte er nicht, dass er damit Geschichte schreiben würde. Er mikroskopierte sie und entdeckte im Jahr 1905 Bakterien darin, die später Bacillus bulgaricus genannt wurden, heute Lactobacillus delbrueckii subspecies bulgaricus. Davon schrieb sein Institutsleiter Dr. Massot dem Nachfolger von Louis Pasteur an dessen berühmtem Institut in Paris, Elias Metschnikow (1845–1916).78 Metschnikow hatte jahrzehntelang versucht,den Darm beim lebenden Menschen zu desinfizieren, um ihn völlig von diesen Bakterien zu befreien, die offensichtlich bloß das Leben verkürzten.79 Nun hatte eine Umfrage durch ihn ergeben, dass in Bulgarien die meisten Hundertjährigen Europas lebten.80 Als er nun von den bulgarischen Bakterien hörte, führte Metschnikow das hohe Alter der Bulgaren auf ihren regelmäßigen Verzehr der dortigen Sauermilch zurück. Zwar aß man damals dort natürlich genauso milchsauer fermentierte Gemüse und lebte vielleicht auch ansonsten gesund, doch darüber sprach man gerade nicht. Jedenfalls vollzog Metschnikow eine gedankliche Kehrtwende und empfahl fortan »Joghurt« zur Förderung der Gesundheit und Verlängerung des Lebens. Da er just im Jahr der Nobelpreisverleihung für seine Entdeckung von Fress-Immunzellen (Phagozyten), 1908, seine Gedanken über gesunde Lebensweise veröffentlichte, fanden sie große Verbreitung. Und Bulgarien wurde um ein nationales Wahrzeichen reicher.

Der im nördlichen Europa bis dato unbekannte »Joghurt« mit Lactobacillus bulgaricus wurde ab 1919 als Heilmittel für kindliche Durchfälle in Apotheken – zunächst in Spanien – vertrieben, und sein guter Ruf als förderliche Bakterienkur für den Darm nahm seinen Lauf. Da Joghurt jedoch nicht als Medikament, sondern als Lebensmittel galt, wurde seine Wirkung als Heilmittel gleicherweise angezweifelt. Ernährung und Heilmittel wurden spätestens seit damals als zweierlei verschiedene Dinge angesehen, was es absurderweise bis heute möglich macht, sich ungesund zu ernähren und dann Medikamente für die Gesundheit zu schlucken.

Sicherlich ist der Zweifel bei der modernen industriellen Herstellung von Joghurt, der womöglich mit gentechnisch manipulierten Bakterien kultiviert wurde, vollkommen berechtigt. Wissenschaftliche Studien bestätigen jedoch grundsätzlich, dass sein Verzehr das bakterielle Leben im Darm unterstützt. Er senkte zum Beispiel das Durchfallrisiko bei Patienten, die Antibiotika schluckten, um 57 Prozent.81

Ging es Elias Metschnikow überwiegend um die Verlängerung des Lebens, erforschten damals andere Wissenschaftler die »Antagonismen«, also die Wechselwirkungen zwischen den Bakterien oder ihre Wirkung auf den Körper. Sie erkannten deren Bedeutung für die Gesundheit. Es wurden auch viele erfolgreiche Heilungswege mit Bakterien entwickelt (siehe Seite 172ff.), die aber bald durch die Dominanz der Antibiotika verdrängt wurden.

Escherichia coli

Der Freiburger Hygienearzt Alfred Nißle (1874–1965), ab 1912 Privatdozent und später Professor am Institut für Hygiene der Universität Freiburg im Breisgau, entdeckte, als er bei den Vorbereitungen mikrobiologischer Kurse E.-coli-Bakterien mit Typhusbakterien mischte, dass sie unterschiedliche Wechselwirkungen zeigten, je nachdem, von wessen Stuhl sie stammten. Manche Coli-Bakterien konnten die Typhusbakterien auf der angelegten Nährbodenkulturplatte einfach verdrängen.82 Er entwickelte Reinkulturen daraus und erstellte einen »Coli-Index« aus dem Verhältnis der beiden Bakterienstämme, der diese Fähigkeit widerspiegelte. Menschen, die solche Coli-Bakterien im Darm trugen, waren nach seinen Beobachtungen gegenüber Darmerkrankungen geschützt. Aus den Coli, die auf dem Index den stärksten »antagonistischen Wert« hatten, entwickelte er schließlich ein Medikament[1], mit dem er 1917 die »antagonistische Coli-Therapie« als neues Heilprinzip in die Medizin einführte (siehe Seite 193).83 Er gab die E. coli aus besagtem Stuhl Kranken in Kapseln zu schlucken. Viele Patienten, die zum Teil bereits jahrelang Durchfälle hatten, auch akut schwer erkrankte, wurden damit kuriert.

Der Stamm E. coli Nißle 1917 ist seither weltberühmt. Er ist in der Deutschen Sammlung für Mikroorganismen in Braunschweig für den allgemeinen Gebrauch hinterlegt, wird beständig weitervermehrt und ist in etlichen modernen probiotischen Mitteln enthalten. Er ist ein treuer Begleiter der Menschen geworden.

Bereits damals bemerkte man, dass das Schlucken der Bakterienkapseln nicht nur Darmerkrankungen zu heilen imstande war, sondern zugleich Krankheiten kurierte wie Leber- und Gallenleiden, »ungenügende Nahrungsausnutzung«, Allergien, Hautausschläge, Frauenleiden, Migräne, Neurodermitis, Blutarmut, Gelenk-, Magen-, Blasenentzündungen, Gicht, Depressionen und mehr. Sogar Heilungen bei Krebs werden berichtet. Warum, konnte man damals nicht erklären, doch vermutete man, dass das Fehlen »wertvoller« Bakterien zur Ansiedelung solcher führt, die sich unpassend vermehren und zu einer ungesunden Gesamtheit führen. Nißle nannte dies »Dysbakterie«[2] und vermutete darin die Hauptursache für Krankheitszustände.84

Im Grunde genommen spricht Nißle unbemerkt in seinen damaligen Veröffentlichungen bereits das nötige Gleichgewicht in der Bakterienbesiedelungan, das die Mikrobiomforschung jetzt wieder als lebensnotwendig entdeckt. Er schrieb damals, dass es auf die Stärke der eigenen »persönlichen« Coli-Bakterien »gegenüber Infektionserregern« ankomme.85 Allerdings hielt er seine Coli für die einzigen Bakterien, die sich im Darm ansiedelten, während geschluckte Milchsäurebakterien dies dort den Stuhluntersuchungen nach nicht taten. Er begrenzte seinen Blick damals auf diese einzelne Bakterienart, und so fehlte ihm die Einsicht in die größere bakterielle Vielfalt.

Nißle war Stabsarzt, hatte also eine militärische Ausbildung, und als Lösung sah er standesgemäß die »Bekämpfung« der Situation. Auch er war in seinem Denken gefangen, hatte allerdings bereits ein anderes Menschenbild als das auf Seite 21ff. geschilderte.86 Während man sich zuvor den Menschen als bakterienfrei vorstellte und alle Bakterien als äußere Feinde betrachtete, die ihn bedrohen, entwickelte man nun das Bild, es gebe im Menschen gleichzeitig gesunde und krank machende Bakterien. Diese befänden sich beständig in Konkurrenz gegeneinander und bekämpften sich innerhalb des Organismus. Der Kampf wurde quasi ins Innere des Menschen verlagert. Daraus entwickelte sich die Vorstellung, es gebe »gute« und »schlechte« oder gar »böse« Bakterien, und die guten seien zu fördern und die schlechten auszurotten. Für die guten nimmt man folglich Probiotika, gegen die schlechten Antibiotika. So buk die heute zu Bahlsen gehörende sächsische Wurzener Biscuitfabrik in den dreißiger Jahren »Krietsch Yoghurt-Kekse«, deren »Gesundheitsbakterien« »Körper und Geist vor den verderblichsten Feinden«, den »giftigen Bakterien«, »sichern« sollten.

Diese Vorstellung ist heute noch weit verbreitet,[3] obwohl sie ebenfalls längst überholt ist. Sie deckte sich natürlich leicht mit einem Denken zu Kriegszeiten, in denen die Welt in »Freund« und »Feind« aufgeteilt wird, was eine häufige Projektion des Menschen ist, nicht nur auf die Einzeller. Mit deren Dasein und der Lebenswirklichkeit auf der Erde hat es jedenfalls nichts zu tun. Diese ist nachweislich überall auf Miteinander ausgelegt, mit beständiger Kommunikation zugunsten höheren Lebens.

Alfred Nißle gilt als der Begründer der probiotischen Therapie, auch wenn es diesen Begriff erst später gab. Er hatte gezeigt, dass Bakterien Krankheiten heilen. Tragischerweise entwickelte sich sein Therapieansatz in einer Zeit, die politisch anders ausgerichtet war und in der bald darauf der »Siegeszug« der Antibiotika begann.

Belächelt von Vertretern der »offiziellen« Medizin, lebte die Darmbehandlung mit Bakterien daraufhin erfolgreich ein bescheidenes Schattendasein in der »Alternativmedizin«, bis die Mikrobiom-Forschungswelle sie jetzt wiederbelebte. Im Jahr 2015 nennt Die Rote Liste, das Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, 19 370 Medikamente in 5503 Präparate-Einträgen.87 Darunter sind nur 446 pflanzliche und bloß 46 mit Mikroorganismen.

In gewisser Hinsicht wird die alte Coli-Therapie neuerdings sogar wieder aufgegriffen, denn in der modernen »Stuhltransplantation« mit dem Schlucken von Kapseln mit Stuhl einer anderen Person (siehe Seite 206) kehrt man, ohne bewusst darauf zurückzugreifen, nach hundert Jahren in die Anfänge der Darmbakterientherapie zurück.

Heilen mit Bakterien wurde in dem Jahrhundert ihres Bestehens immer wieder diskutiert, und die positiven Wirkungen bei Mensch und Tier wurden in wissenschaftlichen Studien vielfach nachgewiesen.88 Solange man die Therapie jedoch auf nur einen Einzelstamm beschränkt, bleibt sie unvollständig. Sie wurde daher nicht allgemein anerkannt.

Milchsäurebakterien

In den Jahren nach Nißle entwickelten zahlreiche Forscher mit den offenbar sympathischeren Milchsäurebakterienstämmen ebenfalls Heilkonzepte. Während die Coli-Präparate zu Medikamenten wurden, wurden aus Milchsäurebakterien eher »Probiotika«. Einen kläglichen Versuch, den bekannt werdenden Antibiotikaresistenzen im Körper etwas Schützendes entgegenzusetzen, gab es dazwischen in den sechziger Jahren mit dem »Antibiophilus«, einem Medikament mit »antibiotikaresistentem Lactobacterium acidophilum«[4]: 10 Gramm für 9,05 (!) DM, Dosierung: 3 bis 4 halbe Kaffeelöffel täglich.

Albert Döderlein (1860–1941) hatte im Jahr 1890 die Milchsäurebakterien als gesunde Besiedelung der Vagina entdeckt. Der Kinderarzt Ernst Moro (1874–1951) kultivierte sie in saurer Bierwürzebrühe und nannte sie acidophilus, »säureliebend«. Henri Tissier (1866–1926), Kinderarzt im Institut Pasteur in Paris, isolierte 1899 aus dem Stuhl gestillter Babys das milchsäurebildende Bifidobakterium, das durchfallkranken und flaschenmilchgefütterten Kindern mangelte. Seinen Namen bifidus, lateinisch für »in zwei Teile gespalten«, erhielt es 1924wegen seiner Y-ähnlichen Form. Lactobacillus und Bifidobacterium sind bis heute zwei der gängigsten Probiotika-Gattungen. Sie können für ein Gleichgewicht im Mikrobiom sorgen.89

Man versuchte, besonders geeignete Stämme zu vermehren, um sie mit fermentierten Lebensmitteln für die Gesundheit einzusetzen, stieß jedoch auf verschiedene Schwierigkeiten, etwa dass sie ihren Stoffwechsel änderten,90 im gewünschten Lebensmittel nicht ausreichend überlebten, es nicht möglich war, sie präzise zu identifizieren und zu benennen. Außerdem wusste man nicht, welche Wirkung sie im Körper überhaupt entfalteten.

Der Kopenhagener Milchforscher Sigurd Orla-Jensen (1870–1949) versuchte 1912, den traditionellen Lactobacillus bulgaricus bei der Joghurtherstellung durch Lactobacillus acidophilus zu ersetzen, weil er ihn wegen seines Vorkommens im Menschen für diesen für verträglicher hielt. Man suchte nämlich Stämme, die angeblich besser die »Magen-Dünndarm-Passage« überlebten, mit dem Wunsch, bestimmte Bakterien im Dickdarm anzusiedeln. Daraus entstand die sogenannte »Azidophilus-Milch« und 1934 ein »Reformjoghurt«,91 der auf die Arbeiten von Gärungsforscher Wilhelm Henneberg (1871–1936) in Kiel zurückging. Da damit jedoch keine gewinnbringende Herstellung mehr gelang, begnügte man sich schließlich damit, ihn den beiden üblichen Joghurt-Stämmen Lactobacillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus hinzuzugeben.

Die europäische mikrobiologische Forschungswelle zu gesundheitsfördernden Mikrobenkulturen hatte weltweit Interesse ausgelöst. In Japan isolierte im Jahr 1930 Minoru Shirota (1899–1982) Lactobazillen aus dem Darm eines Kindes und brachte sie 1935 als gezuckerten Azidophilus-Joghurt-Drink in hübschen handlichen Fläschchen als »Yacult« in den Handel. 1974 stellte sich zwar heraus, dass andere Lactobazillen darin waren als deklariert, nämlich Lactobacillus casei. Das Produkt gelangte dennoch, künstlich vitaminisiert, gezuckert, aromatisiert oder mit Süßstoff versetzt, nach Europa und wurde 1995 auch in Deutschland eingeführt.

Der Zweite Weltkrieg verschob die Perspektive der Bakteriologen in Richtung Antibiotika, sodass der Gedanke an Ernährung und Medizin mit heilenden Bakterien weitgehend verdrängt wurde.

Einige Ärzte, die früh vor dem Gebrauch und den Folgen der Antibiotika warnten, widmeten sich dennoch dem praktischen Einsatz von Bakterien für die Heilung. Ihr Arbeiten war nicht immer leicht. Arthur Becker (1893–1952), Facharzt für innere Medizin und Bakteriologie, war der damalige Pionier der Heilanwendung von Bakterien. Er arbeiteteals Arzt, derweil er über mikrobiologische Therapie forschte, war aber Repressionen ausgesetzt und musste in den dreißiger Jahren mehrfach in die Schweiz flüchten, weil man ihm ein Berufsverbot auferlegte und die jeweiligen Forschungslabore schloss. Erst nachdem wieder Frieden eingekehrt war und sich die Lebensbedingungen nach 1945 wieder normalisierten, konnte er weiterforschen. Mit ihm arbeiteten Kollegen zusammen, sie trafen sich, tauschten ihre guten Erfahrungen mit der Bakterientherapie untereinander aus, entwickelten sie weiter und begründeten im Jahr 1954 in Hessen den »Arbeitskreis Mikrobiologische Therapie«, den es seither gibt (siehe Seite 190).

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