Kitabı oku: «Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen», sayfa 5

Yazı tipi:

Wie es ihrem Mann ergangen war, erfuhr sie auf schockierende Weise schon im März auf dem Transport über Bautzen nach Hoheneck. Was sie dabei zu hören bekam, konnte ihr das Herz nur noch schwerer machen:

„Wir waren einige Frauen und einige Männer auf dem LKW. Sprechen durften wir zwar nicht. Aber vorsichtig, fast ohne die Lippen zu bewegen, hat mir dann doch einer zugeraunt: ‚Ach, Sie sind Frau Kösel? Na, ihr Mann, als der aus dem Karzer kam, kam er zu uns. Wir wußten nicht, ist das ein Mensch oder ist das ein Tier? So war er zugerichtet.’ –

Er hatte dreiundzwanzig Tage im Karzer gesessen, war bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen worden und wurde dann mit Wasser übergossen, damit er wieder zu sich kam. Am Tage dann in die überheizte Zelle zum Verhör. So ging das dreiundzwanzig Tage lang. Als er aus dem Karzer kam, hatte er eine Lungenentzündung. Diese Lungenerkrankung hat dann mit den weiteren Folgen der Haft nach neun Jahren in der Freiheit zu seinem frühen Tod geführt. Da war er erst fünfundfünfzig. Als jungen, gesunden Mann von einundvierzig hatten sie ihn verhaftet.“

Mit der Verhaftung waren die Kösels für ihre Umwelt spurlos verschwunden, genau so wie Tausende vor ihnen schon in der Besatzungszone der Sowjets. Die Gründung der DDR, die ja inzwischen erfolgt war, hatte daran vorerst gar nichts geändert. Allerdings – für Thea dauerte es nur ein knappes Jahr, bis sie ihr erstes Lebenszeichen nach draußen senden durfte. Seit dem Sommer 1950 durften in Hoheneck jeden Monat 15 Zeilen geschrieben und empfangen werden. Da endlich erhielt Frau Kösel die Antwort auf die Frage, die ihr auf der Seele brannte: Wer hatte sich ihrer kleinen Tochter Christina angenommen? Wo lebte sie, wie erging es ihr?

„Die Nachbarn hatten Christina zu sich genommen und dann durch Bekannte meine Tante in Westberlin verständigt. Die hat sich zuerst auch nicht hingetraut. Mit einer Nachbarin ist sie aber dann gekommen und hat Christina geholt. Wenig später war der Russe da und wollte sie selber holen …“

Der in der Haft geborenen kleinen Schwester Susanne war das Glück versagt geblieben, in der eigenen Familie aufzuwachsen. Auch Frau Kösels Verwandte bemühten sich vergeblich:

„Einmal – ich kann heute nicht mehr sagen, in welchem Jahr – haben wir Bilder bekommen. Da konnte Susanne schon gehen. Sie stand in einem Kinderbettchen. Aber alle Bemühungen meiner Verwandten in Westdeutschland und auch in Leipzig, Susanne zu sich zu nehmen, waren vergebens. Das Kind blieb – unter Polizeiaufsicht! – im Kinderheim der Volkspolizei und wurde niemandem ausgehändigt. Selbst Besuche von Angehörigen wurden verweigert. Begründung: Es handele sich um Politische, und da habe niemand Zugang. Aber was hatte das kleine Kind wohl mit Politik zu tun?!

Auf Susannes Geburtsurkunde steht ‚Geboren in Hoheneck / Stollberg.’ Nicht etwa Zuchthaus oder Gefängnis oder so, gar nichts. Wer da nicht Bescheid weiß, denkt, es war eben im Erzgebirge. So hat ja auch die Behörde in Westdeutschland ihr gesagt: Sie sei doch im Kinderheim gewesen und sei gar nicht festgehalten worden … Aber was für ein Kinderheim! Das haben wir am Schluß noch selber erfahren. Wir sind mit dem VP-Wachtmeister Hammer aus Hoheneck hingefahren, mit dem Bus. Wenn der nicht dabei gewesen wäre, hätten wir sie nicht rausgekriegt. Die wollten sie uns zuerst wirklich nicht rausgeben. Es war ein Polizeikinderheim. Unsere kleinen Kinder standen regelrecht unter Polizeiaufsicht. Es waren ja noch mehr Kinder da von unseren – von anderen Müttern gar keine.“

Ihrem jeweiligen Alter entsprechend wurden die Gefangenenkinder offenbar durch verschiedene Kinderbewahranstalten der Volkspolizei geschleust. Erst heute, nachdem die Akten zugänglich sind, ist ihr Leidensweg zu verfolgen. Das gestörte Verhalten aller Kinder, die in solchen Einrichtungen gehalten worden waren, sprach aber schon damals eine deutliche Sprache. Dass aber nicht nur die Kinder von Ängsten gebeutelt waren, zeigen Berichte wie dieser von Thea Kösel:

„Susanne hat ins Bett gemacht – vor Angst – und vor allem Möglichen! Ich durfte kein Licht ausmachen – ‚Nicht dunkel, nicht dunkel!’ hat sie immer geschrieen. Und Tante und Onkel hat sie gesagt zu uns … Sie hat sehr lange unter solchen Ängsten gelitten. Dann hat sie – noch mit vier Jahren – eine Hilusdrüsen-TB gehabt.

Aber wir waren ja selber so angeschlagen! Wenn ich mich daran erinnere … Wir hatten ja solche Angst, dass sie uns wieder rüber holen – aus dem Westen wieder zurück! Genug Beispiele für Entführungen gab es ja. Niemand von uns hat groß ein Wort darüber gesprochen, wo wir hergekommen sind, weil die Angst so in einem steckte. Ja, auch in Westberlin.

Wir – meine Mutter, die ja mit mir in Hoheneck eingesperrt war, und ich – wir sind in Leipzig in den Zug gestiegen – und Susanne hat geschrien, geschrien! Die wollte nicht in den Zug, weil dieser große Zug – nein, ich weiß auch nicht, warum. Sie hat eine Angst gehabt, unbeschreiblich. Dann fiel uns ein Mann auf … Als wir dann nach Westberlin kamen, hat man uns beruhigt. Aber da waren wir schon so verängstigt durch alles, dass wir kaum wagten, uns zu unterhalten. Denselben Mann habe ich nachher in West-Berlin ein paar Mal gesehen – auch als wir dann im Auffanglager mal beim Amerikaner waren, wo wir diese ganzen Fragebogen ausfüllen mußten . Ich war wie versteinert. Ich habe mich nicht getraut, damals zu sagen, das ist der Mann. Ob das nun ein Spitzel oder sonstwas war? Ich weiß es nicht. Es steckte einem ja immer noch diese unsagbare Angst im Rücken. Es hat Jahre gedauert, bis ich die halbwegs überwunden hatte.“

„Halbwegs überwunden“, sagt Thea Kösel heute. Wenigstens ihre Lebensführung, ihre Alltagsentscheidungen sind nicht mehr von irrationaler Angst bestimmt. Zwangsträume, wiederkehrende Angstzustände ohne nennbaren und erkennbaren Grund aber machen ihr bis heute das Leben schwer – wie vielen, allzu vielen Menschen, die damals dem NKWD in die Hände fielen. Aber für immer bleibt ihr, bleibt allen gefangenen Frauen jenes Glück der Mutterschaft verwehrt, das durch die Jahrzehnte leuchtet und die Herzen ein Leben lang wärmt: den neuen kleinen Erdenbürger bei seinen ersten Schritten ins Leben zärtlich zu leiten.

Auch wer Kinder draußen zurücklassen mußte, trägt für immer die schmerzende Narbe eines großen Verlustes im Herzen. Selbst wer hoffen durfte, sie seien gut und behütet aufgehoben, durfte sie ja nicht heranwachsen sehen.

Kindertränen

Haben die Mütter noch Worte für ihre Schmerzen, so fehlt den in Haft geborenen Kindern die eigene klare Erinnerung daran, was ihnen angetan wurde. Ihnen blieb nur ein dunkles Gefühl der Qual zurück. Erst jetzt, nachdem die Akten offen liegen und Nachforschungen möglich sind, beginnt sich der Nebel zu lichten.

Unter sowjetischem Regime wurden die Neugeborenen in der Regel nicht von den Müttern getrennt. Mehr als 29 Babys und Kleinkinder waren so schließlich in Sachsenhausen zusammengekommen. Die Baracke, in der die Mütter mit ihren Kleinen hausten, war das gleiche Elendsquartier wie alle anderen Hütten des ehemaligen Nazi-KZs. Auch die Ernährung der Kinder war knapp und mangelhaft. Doch so schlecht auch die äußeren Umstände waren, von der Liebe und Zuwendung ihrer Mütter wurden die Kleinen nicht getrennt. Auch kein Russe in Sachsenhausen hätte ihnen je Böses getan oder Grausames gegen sie ersonnen. Das sollte sich ändern, als im Frühjahr 1950 alle SMTer „zur weiteren Verbüßung ihrer gerechten Strafe“ an die DDR übergeben worden waren.

Zwei der in den späten 40er Jahren im Gefängnis Geborenen, Tina Semmler und Edeltraud Thoma, haben sich über der Suche nach den Spuren ihrer Kinderzeit wiedergefunden. Doch die Klärung der eigenen Erinnerung reicht nicht aus, die Vergangenheit zu überwinden. Was damals staatlich angeordnet und von willigen Helferinnen in Taten umgesetzt wurde, muß heute – endlich – offen beim Namen genannt werden. Den Betroffenen fällt es nicht leicht, davon zu sprechen.

Wie schwer, verrät Edeltraud Thomas Miene. Nur scheinbar kühl und gefaßt entnimmt sie ihren Unterlagen Stück um Stück die Belege über ihr Leben. Langsam steigt ihr, je länger sie spricht, eine fiebrige Röte in Stirn und Wangen. Mit nervösem Hüsteln unterbricht sie sich immer wieder:

„Dass ich ein Zuchthauskind bin, im Roten Ochsen in Halle zur Welt gekommen, davon habe ich jahrelang nichts geahnt. Auch an meine frühe Kinderzeit – vor der Schulzeit – habe ich keine Erinnerungen. Wenn Schuloder Arbeitskameradinnen von ihren Kindheitserlebnissen erzählten, war ich immer still. Ich hatte ja nichts, was ich hätte erzählen können. Wenn ich zurückzudenken versuchte, war da nur so etwas Kaltes, Dunkles, so, als ob ich immer weinen müßte, ohne doch recht zu wissen, warum.

Das einzige Bild, an das ich mich deutlich erinnerte – ich sehe es bis heute noch vor mir – nein, davon mochte ich den anderen, Glücklicheren nun auch nicht erzählen: Wie ich mit anderen kleinen Kindern wartend auf dem Leipziger Hauptbahnhof stehe. Viele Leute liefen da herum, Frauen mit Hüten und schönen Kleidern, ganz fein angezogen. Ich habe die Augen zugemacht und mir ganz fest gewünscht, dass jetzt eine von diesen schönen Frauen auf mich zukommen, mich an der Hand nehmen und mit mir fortgehen würde. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die zu mir sagte: ‚Du bist Edeltraud, meine Tochter!‘ – Ich fühl ’s noch wie heute – vor Enttäuschung bin ich ganz steif und stumm geworden. Es war keine von den Schönen, die mich angesprochen hatte! Ach, sie war ja eine so magere, abgehärmte Frau! Dass sie gerade aus dem Zuchthaus Hoheneck entlassen worden war, wußte ich ja nicht – und ich hätte mir darunter auch gar nichts vorstellen können.

Auch vom Schicksal meiner Mutter habe ich jahrelang nichts gewußt. Als ich es erfuhr, war ich schon längst erwachsen! Es war so: Wir hatten eine Fahrt nach Buchenwald gemacht. Wie grausam die Nazis mit Menschen umgegangen waren, hatte ich natürlich in der Schule schon gehört. Aber richtig vorstellen kann ein junger Mensch sich das vom bloßen Erzählen wohl nicht. Jetzt kam ich voller Entsetzen nach Hause und mußte einfach davon erzählen – da fing meine Mutter bitterlich zu weinen an.“

Es war nicht viel, was die Mutter über Vergangenes je erzählte. Im August 1948 war sie verhaftet worden. Im Trubel eines großen Volksfests hatten die deutschen Büttel zugegriffen, die Verhaftete dann – unverzüglich – der sowjetischen Besatzungsmacht überstellt. Damals war die junge Frau schon im achten Monat schwanger.

Wie weiter? Einzelhaft, Hunger, Ungeziefer, keinerlei ärztliche oder andere Betreuung, kein menschliches Wesen außer den groben und zynischen Vernehmern. Als die Wehen kamen, beschrie die junge Erstgebärende in ihrer schmerzgeschüttelten Hilflosigkeit die Wände ihrer Einzelzelle. Da endlich wurde eine andere Gefangene zu ihr geschlossen, schließlich auch ein Arzt, Untersuchungshäftling wie alle Deutschen dort.

So verlief die Geburt: Auf rostigem Eisenbett, der schmutzige Strohsack dünn vor Häcksel, ohne Kissen und Laken – die Gebärende unter abgenutzter, stinkender Pferdedecke – der Geburtshelfer ohne alle Mittel außer seinen Händen, einer rostigen Schere zum Durchtrennen der Nabelschnur und ein paar Lumpen, das Neugeborene darin einzuhüllen. Gleich nach der Geburt nahm man der Mutter den Säugling weg: er sei zu schwach zum Leben gewesen, sei gestorben. Später flüsterte der Mutter eine Frauenstimme durch die Zellentür zu, das kleine Mädchen sei am Leben und werde auch gut betreut.

Nach der Verurteilung, auf dem Transport nach Sachsenhausen, legte man der Mutter das kleine Bündel noch einmal in den Arm. Da sah sie, der Säugling war wirklich sehr zart und schwächlich. Edeltraud dazu:

„Eine Kameradin meiner Mutter von dem gleichen Transport hat mir erzählt, wie es war: Die Quarantäne-Station in Sachsenhausen war ungeheizt – und das bei zwanzig Grad Minus Außentemperatur! Alle froren Stein und Bein, die meisten waren ja auch bloß in Sommersachen – so, wie sie verhaftet worden waren. Meine Mutter sei schier verzweifelt, weil sie gar nicht mehr wußte, wie sie mich warm halten sollte. Und wäre ich nicht in die Krankenstation gekommen, hätte ich es wohl nicht überlebt. Aber von meiner Mutter blieb ich dadurch die ganze Zeit in Sachsenhausen getrennt, und nur in Hoheneck war ich ganz kurze Zeit, vielleicht zwei, drei Monate lang, noch einmal mit ihr zusammen. Bis sie im Frühjahr 1950 alle Kinder heimlich von Hoheneck weggebracht haben. Da war ich dann auch dabei.

Meine Mutter hätte mich zu ihren Eltern geben wollen. Doch das wurde nicht erlaubt. Später wurde ihr gesagt, das Heim, in dem ich untergebracht sei, sei nicht billig, und sie müsse durch ihre Arbeit zu meinem Unterhalt beitragen. Alles ging immer ans Kinderheim, hat sie mir erzählt. Ich höre sie noch sagen, denn das hat mir tiefen Eindruck gemacht: ‚Ich habe bis zur Erschöpfung gearbeitet. Dann konnte ich wenigstens schlafen. Mich interessierte gar nichts mehr. Mit dem Leben hatte ich völlig abgeschlossen.’“

Die meisten Informationen darüber, wie es ihrer Mutter ergangen war, fragte sich Edeltraud Thoma bei deren Hohenecker Haftkameradinnen zusammen – nach dem Zusammenbruch der DDR, als sie in den Westen reisen konnte und auch in ihrer Heimat darüber gesprochen werden durfte. Die Mutter erlebte das nicht mehr. Sie hatte auch in der Familie kaum über die Vergangenheit reden mögen.

„Was meine Mutter mir selber erzählte? Das war wenig. Sie wollte sich nicht erinnern und nicht erinnert werden. ‚Wegen deines Vaters mußte ich sitzen’, hat sie manchmal gesagt, ‚wegen angeblicher Spionage. Dafür haben sie mir zehn Jahre Zwangsarbeit gegeben.’ Aber sie hätte in Wirklichkeit niemals irgend etwas mit Spionage oder mit Spionen zu tun gehabt hat, hat sie mir gesagt.

Als alle SMTer 1950 von den Sowjets an die Deutschen übergeben wurden, ging für jede Person ein Bogen mit Personalangaben mit. Auf dem Papier meiner Mutter war geschrieben ‚Verbreitung antisowjetischer Flugblätter’. So steht es noch heute klipp und klar auf ihrer Karte in der Hohenecker Gefangenenkartei.

Meine Mutter ist schon vor Jahren gestorben, und so kann ich sie nicht mehr fragen. Aber ich bin auch so ganz sicher, dass sie weder das eine noch das andere getan hat. Vielleicht hatte sie aber eines dieser Spottgedichte in der Tasche – auf die Russen und die SED, wie sie damals umgingen unter den Leuten. Das galt als antisowjetische Flugblatthetze. Dafür sind seinerzeit harmlose Zeitgenossen sogar zu zwanzig und fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden.“

Nachdem Frau Thomas Mutter 1954 im Zuge der sowjetischen Frühjahrsamnestie aus Hoheneck entlassen worden war, ging sie mit Edeltraud in ihr Elternhaus zurück. Doch mit der Haftzeit war längst nicht alles vorbei. Bis in die späten 60er Jahre verdunkelte die Vergangenheit der jungen Mutter das Leben. Erst dann wurde eine diskriminierende Arbeitsplatzbindung aufgehoben. Und endlich wurde sie damals auch wieder zu einem „vollwertigen Bürger der DDR“ erklärt, wie die Tochter berichtet. Das entsprechende Schreiben, wie es auch andere Ehemalige erhielten, wäre bei Stellung des Rentenantrags abzugeben gewesen. Doch so weit schaffte es Edeltrauds Mutter nicht mehr. Eine Nierenerkrankung machte ihr seit 1973 zu schaffen. Doch eine Dialyse-Behandlung wurde ihr nicht gewährt. Die Geräte brauche man für jüngere Menschen und Mütter mit vielen Kindern, sagte man der Kranken. Sie war damals – Jahrgang 1925 – achtundvierzig Jahre alt. Zwei Jahre später – mit fünfzig – starb sie an Nierentuberkulose. Es blieb ungeklärt, ob die Krankheit eine Folge der Haftzeit war.

Wenn Edeltraud Thoma heute auf ihr Leben zurückblickt, wird deutlich, wie sehr es vom Schicksal der Mutter geprägt worden ist:

„Ich war meiner Mutter wohl immer ein Stachel im Fleisch. Sie wollte die Zeit in den Lagern vergessen, und ich habe ihr das unmöglich gemacht. Das hat sie mich spüren lassen – bewußt oder unbewußt.

Zwiespältig war das – auf der einen Seite hat sie mich mit Arbeit schwer herangenommen. Schon als Elfjährige mußte ich Kohlen ausfahren und schon vor der zehnten Klasse aus der Schule als Putzfrau arbeiten. Von den zwanzig Mark, die ich damit verdiente, mußte ich den größten Teil zu Hause abliefern. Klar, das Geld wurde dort als Wirtschaftsgeld dringend gebraucht, aber einen Beruf zu erlernen, wo ich mehr verdiente, hat sie mir auch nicht erlaubt. Freizeit? Das war ein Fremdwort für mich. Mit anderen jungen Leuten zusammen sein, irgend etwas unternehmen? Wann hätte ich das denn tun können? Denn das war die andere Seite: So hart meine Mutter auch mit mir umging – sie verlangte kategorisch, dass ich jeden Abend bei ihr saß. Ob mir der Sinn danach stand oder nicht – stundenlang mußte ich mit ihr spielen – Halma, Dame und was es sonst so an Brettspielen gibt.“

Erst 1965 – da war Frau Thoma schon einundzwanzig – rang sie der Mutter die Erlaubnis zu einer beruflichen Ausbildung ab. Sie holte die zehnte Klasse der Schule nach, machte eine Lehre, erwarb einen Facharbeiterbrief, heiratete und begründete damit einen eigenen Hausstand. So hatte sie sich aus der Abhängigkeit von der Mutter gelöst. Doch von dem schwer lastenden Gefühl der Verantwortlichkeit für das Leben der Mutter befreite auch eine äußere Trennung nicht. Die bittere Klage „Für deinen Vater mußte ich sitzen!“, gar die absurde Idee „Wäre ich nicht mit dir schwanger gewesen, hätte ich flüchten können!“ – das alles hatte sich längst viel zu tief in das Bewußtsein der Tochter gegraben. Frau Thoma heute:

„Eines ist ganz sicher: Meinetwegen war ihre Gefangenschaft besonders schwer. Deshalb war ich immer bemüht, das wieder gutzumachen. Ich habe oft nicht verstanden, warum sie mich so zurückstieß. Aber bis zu ihrem Tode habe ich darum gekämpft, von ihr geliebt und anerkannt zu werden. Und sie hat das gewußt, aber sie konnte wohl nicht anders. Erst als sie im Sterben lag, hat sie mir endlich gesagt: ‚Oh Edeltraud – wie habe ich Dich behandelt! Und Du warst mir doch die Liebste!‘“

Den Schmerz der Tochter um die Mutter linderte die Zeit. Aber seit Frau Thoma nach dem Schicksal der „Verbrecherkinder“ forscht, zu denen sie selbst einst gehörte, verfolgen schlimme Bilder sie bis in den Schlaf. Das Kinderheim in Naunhof, das bis 1960 bestand, hatte fünfundzwanzig Plätze. Die dort untergebrachten Kinder waren in vier Gruppen zusammengefaßt. Neben den Kindern von SMT-erinnen gab es die, deren Mütter sogenannte „deutschverurteilte“ politische Gefangene waren, die allerdings in der DDR nicht als „Politische“ galten. Denn „Politische Gefangene“ gab es nicht in der DDR, nur „bestrafte Verbrecher“. Eine dritte Gruppe bildeten die Abkömmlinge hochstrafiger wirklicher Krimineller. Schließlich waren noch Kinder da, die – aus welchen Gründen auch immer ihren Eltern oder Verwandten weggenommen worden waren. Allen Gruppen gemeinsam war, dass ihr Aufenthalt unter strengster Geheimhaltung stand. Niemand durfte erfahren, wo die Kinder waren.

Nach außen machte das Heim in der August-Bebel-Straße 28 in Naunhof einen bescheidenen, aber ordentlichen Eindruck. Da es organisatorisch dem naheliegenden Kinderkrankenhaus angegliedert war, trugen die Betreuerinnen Schwesterntracht, auch wenn sie keine ausgebildeten Kinderschwestern waren. Der Name der damaligen Leiterin ist bekannt.

Körperliche Betreuung und Pflege war das offizielle Programm. Pädagogische Förderung war nicht vorgesehen. Auch für Spielflächen war kein Platz. Wickelkommoden und Kinderbettchen standen dafür viel zu eng, die Bettchen Gitter an Gitter wie im Zoo die Käfige für kleine Tiere. Doch es gibt auch andere Fotografien. Solche von lächelnden Betreuerinnen zum Beispiel, die sich liebevoll über Drei- oder Vierjährige beugen, oder ein Bild, auf dem sich Kinder um einen Kinderstuhl mit Teddybär gruppieren. Gesunder „Freiluftschlaf der Jüngsten“ wird durch eine Reihe von Kinderwagen im Grünen hinter dem Haus bezeugt. So weit, so gut?

„Wir haben bei dem Jugendamt, das auch damals schon regional zuständig war, einiges in Erfahrung bringen können. Gerne hat man uns allerdings nicht Auskunft gegeben. Da gab es zum Beispiel den folgenden Bericht:

In ein Laufgitter, zwei mal zwei Meter groß, wurden immer zehn bis zwölf Kinder gesteckt. Die brabbelten vor sich hin: ‚Hä-hä-hä‘ und wackelten dabei hin und her. Dann fiel eins nach dem anderen um. Dieses Hin und Her von einem Bein auf das andere auf der Stelle – manchmal hat man das schon von Elefanten gesehen, im Zoo. Tierschützer laufen Sturm, wenn sie solche durch die Gefangenschaft geschädigten Tiere entdecken. Der Arzt, der manchmal ins Kinderheim kam, sagte nur: Da ist nichts dabei. Die sind alle gesund und in Ordnung. Kinder machen einfach so!

Einmal hat allerdings der Arzt der Leiterin nahegelegt, die Stelle zu wechseln. Da hatte er bei einigen Kindern schwere Blutergüsse entdeckt, die offensichtlich von Mißhandlungen herrühren mußten.

Wie man die Kinder dressiert hat, dass sie sich still verhielten, geht auch daraus hervor: Die Anlieger wußten nicht, sie haben es nie bemerkt, dass neben ihnen ein Kinderheim war.

Seitdem wir uns wiedertreffen, einige, die damals zusammen waren, kommen auch manche Erinnerungen wieder. Tina Semmler weiß noch, dass man ihr einmal Erbrochenes wieder in den Mund gestopft hat – als Strafe, als hätte sie sich aus Bosheit übergeben. Eine andere Strafe war, dass man mit einer Wolldecke über dem Kopf im Bett stehen mußte, bis man umfiel. Oder dass sie einen im Keller mit einem kalten Wasserstrahl abgespritzt haben. Der Strahl war so stark, dass es einen wegschob oder man hinfiel. Oder man wurde in eine dunkle Besenkammer gesperrt. Tina meint sich zu erinnern, dass man sie einmal einen ganzen Tag in der Kammer gelassen hat. Sehr lang, unmenschlich lang für ein kleines Kind muß es jedenfalls gewesen sein.

Ach, im Strafen waren sie erfinderisch! Zum Beispiel konnte man dazu verdonnert werden, dabeizusitzen – ohne sich zu mucksen natürlich – und hungrig zuzugucken, wie die anderen aßen.

An etwas erinnere ich mich noch besonders: Alle Wände waren voller Bilder – Politiker, Staatsmänner und Soldaten, die das System damals ehrte. Die Namen kriegten wir eingepaukt und meisten einen kurzen Vers dazu – vier Zeilen oder so. Und wehe, wenn wir das nicht hersagen konnten aus dem Effeff – dann gab es wieder Strafen!

Belobigungen gab es wohl auch. Doch bisher haben wir ehemaligen Heimkinder alle zusammen da nur eines herausgebracht: Wer ‚brav‘ gewesen war, durfte, wenn es draußen sehr heiß war, auf der Bank sitzen und die Beine im kalten Wasser baumeln lassen.

Wir suchen noch weiter und haben auch noch Akten angefordert. Aber ob wir die je erhalten werden? In den Ämtern sitzen doch häufig noch die alten Leute von der SED, die das mit zu verantworten hatten. Und wenn nicht sie selbst, dann ihre Gesinnungsgenossen von damals!

Nur eines muß ich noch sagen: Mit meiner Gesundheit war es nie weit her, solange ich denken kann. Seitdem mir das alles wieder gegenwärtig ist aber, kann ich kaum noch schlafen.“

Seit der Öffnung der Nazi-KZs ist bekannt und erforscht, welche bleibenden Schäden politischer Terror sogar Erwachsenen setzte. Wie mußte das aber Kleinkinder treffen! Sie kannten ja kein anderes Leben. So mußten sie wohl für normal halten, was mit ihnen geschah. Was für ein Bild vom eigenen Wert als Mensch, als Person wurde jedem dieser hilflosen Kinder so in die Seele geprägt? War es ein Wunder, dass sie auch körperlich Schaden nahmen?

Macht Wissen jedoch nicht alles noch schlimmer, wenn es sogar den Schlaf raubt? Nein, Verdrängen macht krank! Das sagen die, die es wissen müssen, Ärzte und Psychologen. Der einzige Weg, der Hoffnung auf Heilung gibt, verläuft umgekehrt. Nur was das wache Bewußtsein benennen kann, das kann auch – bis in die Tiefenschichten der Seele hinein – ein einstmals Gequälter zu überwinden versuchen. Nicht die geringste Bedeutung dafür hat die Möglichkeit, Taten und Täter endlich öffentlich nennen zu können.

Sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen – das ist auch dann der einzige Weg zur inneren Befreiung, wenn es besonders weh tut, weil in der eigenen Familie die Wunden geschlagen wurden, die heute noch schwären. Eines der kleinen Mädchen von damals, das nach der Verhaftung seiner Mutter beim Vater im Westen lebte, ist Monika Kerner. Jetzt, fünf Jahrzehnte später, zog auch sie Bilanz:

„Was ich von meiner frühen Kinderzeit weiß, hat mir sehr viel später meine Mutter erzählt. Denn ich habe sie erst kennengelernt, als ich schon fünfzehn war.“

Im Mai 1948 – wenige Tage vor Pfingsten – hatten sich aufgrund einer haltlosen Denunziation die Zuchthaustore hinter der Verhafteten geschlossen. Später Herbst war es, als sie 1959 nach fast zwölf Jahren zu ihrer Familie hätte zurückkehren können. Aber auch für sie gab es keine Familie mehr. Bis die Entlassene die Möglichkeit fand, wenigstens ihre Tochter zu sich nehmen, brauchte es wiederum mehr als ein Jahr.

All die mutterlosen Jahre hatte das Kind, das junge Mädchen, ein wahres Aschenputtel-Schicksal durchlitten. Nur kommt in der Wirklichkeit keine gute Fee und kein Prinz verlassenen Kinder zu Hilfe. Über allen Erinnerungen der heute Fünfzigjährigen liegen die Schatten der Angst:

„Meine erste eigene Erinnerung: ein Himmel voller Sterne zur Nachtzeit. Ein Erwachsener führt mich an der Hand. Das mag in Würzburg gewesen sein, bei Onkel und Tante meiner Mutter.

Noch etwas anderes erinnere ich: Ich stehe in einem Gitterbett und sehe in einen entfernten Garten hinaus, wo eine schwarze Frau bügelt. Ich ängstige mich sehr. Vielleicht war die dunkle Frau eine Ordensschwester im Habit in dem Krankenhaus nahe bei Würzburg, in das meine Mutter mich Anfang 1948 hatte bringen lassen? In der ‚Ostzone’, wie man damals sagte, war es offenbar um die medizinische Betreuung der Kinder nicht gut bestellt. Ich sei gesund, beharrten alle befragten Ärzte in Halle. So blieb schließlich nur die Reise gen West und da stellte man wirklich fest, dass ich an einer schweren Hilusdrüsen-Tb litt. Ich war also wirklich sehr krank gewesen, wie meine Mutter so fest behauptet hatte.

Als Zweijährige hatte ich also um meiner Heilung willen die erste Trennung meines Lebens hinter mich bringen müssen. Sie muß sehr schmerzhaft gewesen sein. Meine Mutter erzählt, am Bahnhof hätte mein Vater mich mit Gewalt aus ihren Armen und aus denen meiner Kinderschwester wegreißen müssen, und sie beide seien tief bekümmert nach Hause gegangen – mit einem schlechten Gewissen, als hätten sie eben eine Gewalttat begangen.“

Der Ehemann und Vater Monika Kerners lebte damals schon im Westen. Er war Pilot gewesen, später Flug-Ausbilder. Militärische Routine hatte den Abiturienten in der Länge des Krieges zum Offizier werden lassen. Deshalb war er nach anfänglicher Zulassung wieder von der Universität Halle verwiesen worden.

Doch das war nicht der Grund für seine Flucht in den Westen gewesen. Nächtlicherweile holten die Sowjets damals immer wieder Menschen ab, deren militärische Kenntnisse ihnen als möglicherweise nützlich erschienen. Als seine Frau, LDP-Journalistin, vom kommunistischen Polizeipräsidenten von Halle vertraulich erfuhr, dass auch Piloten mit besonderen Qualifikationen zu den Begehrten zählten, bat sie ihren Mann, sich vorsorglich im Westen in Sicherheit zu bringen. All das hörte Monika Kerner erst sehr viel später von ihrer Mutter: So sah es damals das Kind:

„Als ich aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, hatten sich die Familienverhältnisse grundlegend geändert. Statt uns in den Westen zu folgen, wie es geplant gewesen war, war meine Mutter von den Russen verhaftet und zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden.

Mein Vater hatte eine Beschäftigung im Ruhrgebiet gefunden, wo seine verheiratete Schwester lebte. Sie und meine Cousine, fast im gleichen Alter wie ich, waren lieb und herzlich. Doch bis heute erinnere ich mich mit Schrekken furchtbarer Prügelattacken ihres Mannes, meines Onkels, die aus mir unerfindlichen Gründen immer wieder über mich hereinbrachen. Mein Vater war entweder nicht da, wenn das geschah – oder er war nicht stark genug, dem entgegenzutreten. Ich weiß es nicht. Ich sah mich gestraft und als ‚verkehrt‘ verurteilt, ohne verstehen zu können, warum. Seit damals verließ es mich nie mehr, dieses Gefühl, eben nicht ‚in Ordnung‘ zu sein.

Als ich viereinhalb war, trat eine Frau in mein Leben, die ich Tante Pia nennen mußte. Als ich ins zweite Schuljahr kam, zogen wir mit dieser Tante in eine gemeinsame Wohnung. Tante Pia kümmerte sich zwar um alles, was mich betraf, aber mit großer Distanz und Kühle. Ich erinnere mich nicht, dass sie mich jemals in die Arme genommen hat. Ihre Schwester, bei der ich die Sommerferien verbringen durfte, war der einzige Mensch, der mir Herzlichkeit und Wärme zeigte, bis ich 1960 meine Mutter wiedersah. Mein Vater hat es nie gewagt, vor Tante Pia seine Gefühle für mich offen zu zeigen. Denn dass er mich liebte – das glaube ich doch.

Allmählich ging Tante Pia dazu über, mir fast täglich laut ins Gesicht zu sagen, was sie über mich und meine Mutter dachte. ‚Wer eingesperrt wird, hat auch etwas getan!’, war die ständige Litanei. Die Frau, die mein Vater geheiratet hatte, meine Mutter also, war ohne Zweifel überaus herrschsüchtig, geltungsbedürftig, ehrgeizig, kaltschnäuzig – und noch dazu unsauber! – gewesen. So das Urteil der Tante Pia, die meine Mutter nie gesehen hatte. Die hätte sich auch nur für ihre Karriere als Journalistin interessiert, die sie nun schließlich auch ins Zuchthaus gebracht hätte: ein Schicksal, das eine solche Frau nur zu Recht getroffen habe! Auch ‚Politik’ hätte diese Person ja nur gemacht, um besser ihren Liebschaften nachgehen zu können. So Tante Pia wieder und immer wieder. Offensichtlich hätte meine Mutter meinen Vater ja auch nie geliebt, wäre ihm nicht treu gewesen, und das einzige Kind hätte sie ja nur gewollt, um nicht in der Rüstungsindustrie arbeiten zu müssen.

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