Kitabı oku: «Der NSU Prozess», sayfa 3

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Verschwörungstheorien

Aus dem Versagen staatlicher Behörden ist geradezu ein Wald an Verschwörungstheorien gewachsen. Mit jedem neuen Kriminalroman, mit jedem neuen Film, der sich an den NSU-Komplex anlehnt, wächst dieser Wald weiter. Da taucht in vorgeblich authentischen Fernsehfilmen ein V-Mann auf, der berichten kann, wie alles im Innersten zusammenhing – und kurz, bevor er sein Wissen der Polizei preisgeben will, als er mit dem Auto schon auf dem Weg zum Revier ist, jagt jemand den Wagen in die Luft. So einen Vorfall hat es nie gegeben, dennoch ist er bis heute Gegenstand wilder Spekulationen, und das nicht nur auf einschlägigen Internetseiten. In den Geschichten über den NSU wimmelt es von Dunkelmännern, die an Beate Zschäpe nur wie an der Marionette einer Staatsverschwörung ziehen. Gerade Rechtsextremisten versuchen, die gesamte Schuld auf die Behörden abzuwälzen und den NSU als bloße Erfindung des Staates darzustellen. Und ständig wird vom unheimlichen Zeugensterben im Fall NSU geraunt. Dabei haben nachträgliche Ermittlungen sehr viele dieser Verschwörungstheorien widerlegt.

Exemplarisch dafür steht der Fall Florian H. Der 21-Jährige verbrannte 2013 in seinem Auto in Stuttgart. Er wollte schon vor dem Auffliegen des NSU etwas über eine Neonazi-Organisation mit dem Namen NSU gehört haben. Er wurde vernommen, es wurde ermittelt, danach glaubte man ihm nicht mehr: Er nannte den NSU eine der größten Neonazi-Vereinigungen in Deutschland und konnte auch den Ort in seiner kleinen Gemeinde nicht mehr wiederfinden, wo er den NSU angeblich getroffen hatte. Dennoch sollte der Zeuge erneut vernommen werden, doch am Morgen der Vernehmung verbrannte er in seinem Auto. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Am Tatort gab es Zeugen, die niemanden sahen außer Florian H. Der hatte sich kurz zuvor an der Tankstelle Benzin gekauft, das er dann entzündete. Der NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg hat sich intensiv mit dem Fall beschäftigt und kam zu dem Ergebnis, dass es keine Anhaltspunkte für einen Mord gibt. Dennoch lebt diese Theorie hartnäckig weiter.

Die Ignoranz, die Schlamperei und die Abschottung der Geheimdienste haben den Argwohn wachsen lassen. Manche Bürger trauen den Sicherheitsbehörden mittlerweile alles zu. Sie haben den Eindruck gewonnen, staatliche Stellen hätten den Terror bewusst und vorsätzlich gedeckt oder sogar gefördert. Solide Belege dafür fehlen. Gut belegt ist aber, dass sich der Staat mit dubiosen Spitzeln aus der rechtsextremen Szene eingelassen hat, die er oft nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und dass er bei der Besetzung von Führungspositionen in den Sicherheitsbehörden geradezu fahrlässig vorging. So galt der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes Helmut Roewer im Kreis seiner Kollegen im Bund und in den Ländern schon lange als Skandalfigur. Als der NSU aufflog, war er schon im Ruhestand, die Versäumnisse seines Amtes in Sachen NSU fielen in seine Zeit.

Der Versuch, die Untergetauchten zu finden, indem man die rechte Szene mit Spitzeln durchdringt, ist im NSU-Fall gescheitert. Rund um den NSU hatte der Verfassungsschutz etliche V-Leute platziert, die angeblich alle nicht genau gewusst haben wollen, wo sich das untergetauchte Trio aufhielt und was es tat. Einige V-Männer, wie Tino Brandt, waren den Gesuchten dicht auf der Spur, zugleich beteiligten sie sich an Hilfsaktionen für das Trio und spendeten sogar Geld – Geld des Steuerzahlers.

Vor Gericht sind einige dieser Spitzel als Zeugen aufgetreten, aber längst nicht alle, die sich rund um den NSU bewegt hatten. Einige V-Männer hielt das Gericht für die strafrechtliche Aufklärung nicht für wichtig genug, so auch den Neonazi mit dem Decknamen »Primus«, der jahrelang in Zwickau gelebt hatte und nachweislich den Angeklagten André Eminger kannte. Es gibt Zeugen, die bekunden, Uwe Mundlos habe nach dem Untertauchen für eine Baufirma dieses V-Mannes gearbeitet – und Beate Zschäpe womöglich in einem von dessen Läden. Erwiesen ist das nicht, vom Gericht aufgeklärt allerdings auch nicht. Die Richter hielten es für die Schuldfrage für irrelevant.

Viele Vertreter der Nebenkläger haben im Prozess immer wieder versucht, mehr Licht in die Aktionen der Behörden und das Treiben der V-Leute zu bringen. Manchmal führte dies zu ungewöhnlichen Koalitionen, denn auch einige Verteidiger drängten zur Aufklärung der Rolle des Staates – um ihre Mandanten zu entlasten. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft war die Aufklärung der Staatsverwicklung jedoch die Aufgabe der Untersuchungsausschüsse und nicht des Strafverfahrens in München. Bundesanwalt Herbert Diemer hat solche Anträge fast immer blockiert. Und auch die rechtsradikale Gesinnung von Zeugen tat für ihn nicht wirklich etwas zur Sache. Legendär ist sein Satz: »Wir sind nicht das Jüngste Gericht.«

Ein wunder Punkt bei der Aufklärung ist der Mord an Halit Yozgat in Kassel. Als der 21-Jährige im April 2006 in seinem Internetcafé erschossen wurde, waren mehrere Kunden in dem Laden. Einer von ihnen war Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Er geriet damals unter Mordverdacht, weil er sich nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Ermittlungen gegen ihn wurden jedoch eingestellt. Nach dem Auffliegen des NSU wurde er erneut überprüft. Temme beteuerte stets, vom Mord nichts mitbekommen und auch die Leiche in dem engen Laden nicht gesehen zu haben. Das klingt selbst für einige Polizisten, die in diesem Fall ermittelten, unglaubhaft. Manche Kritiker der Ermittlungen haben sogar über eine Komplizenschaft des Beamten mit den Tätern spekuliert oder suggeriert, er sei selbst der Mörder gewesen. Temme wurde gleich sechs Mal im NSU-Prozess gehört. Am Ende glaubte ihm das Gericht. Die Familie Yozgat sieht es anders und hat das vor Gericht wiederholt geäußert. Und der detaillierte Nachbau des Internetcafés durch ein britisches Expertenteam der Gruppe »Forensic Architecture« auf der Documenta in Kassel hat ergeben, dass Temme den Schuss gehört und die Leiche gesehen haben muss – bis auf ein sehr unwahrscheinliches Zeitfenster von circa 40 Sekunden, in dem er schon weg gewesen sein könnte und die Mörder noch nicht da. Dass er aber Kontakte zum NSU gehabt hat, das konnten auch diese Experten nicht belegen.

Rund um den NSU ranken noch viele Gerüchte. So sollen Zschäpe, Mundlos oder Böhnhardt selbst V-Leute des Geheimdiensts gewesen sein – Belege dafür existieren nicht. Mundlos und Böhnhardt sollen sich nicht selbst im Wohnmobil getötet haben, sondern von einem geheimnisvollen Dritten exekutiert worden sein – auch dafür fehlen Belege. Erleichtert werden die Spekulationen aber dadurch, dass die Behörden bei der Spurensicherung geschlampt haben. So ist das Wohnmobil, in dem die Leichen von Mundlos und Böhnhardt gefunden wurden, frühzeitig vom Tatort weggeschleppt und erst danach durchsucht worden. Dadurch könnten die Spuren im Inneren des Wohnmobils verändert worden sein.

Verschwörungstheorien ranken sich auch um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn getötet wurde. Als Schützen gelten Mundlos und Böhnhardt, das Blut von Kiesewetter wurde an einer Hose von Mundlos im Katzenzimmer in Zwickau gefunden. Auch Zschäpe hat erklärt, ihre Gefährten seien die Täter gewesen. Doch noch immer wird von der Verwicklung eines amerikanischen Geheimdienstes geraunt. Das lässt sich bisher allerdings in keiner Weise belegen. Der einzige Bezugspunkt zum NSU ist, dass die getötete Polizistin wie Mundlos und Böhnhardt aus Thüringen stammte. Belastbare Hinweise, dass sie sich kannten, gibt es nicht.

Manchmal führen spektakuläre neue Spuren nur in die Irre. So wurde im Herbst 2016 plötzlich eine DNA-Spur entdeckt, die Uwe Böhnhardt mit dem Mord an der neunjährigen Peggy aus Oberfranken in Verbindung brachte. Das Kind war im Jahr 2001 spurlos verschwunden, seine Überreste im Sommer 2016 gefunden worden. Direkt am Fundort der Leiche wurde DNA von Uwe Böhnhardt gefunden. Erst Monate später stellte sich heraus, dass die Thüringer Polizei das identische Gerät am Fundort von Peggy und bei der Bergung der Leiche von Böhnhardt eingesetzt – und offenbar DNA übertragen hatte. Es war nur einer von vielen Fehlern, die den Behörden unterliefen – so wie bei der Phantomspur in Heilbronn, als verunreinigte Wattestäbchen die Polizei nach dem Mord an Michèle Kiesewetter auf eine falsche Fährte führten.

Auch nach dem Urteil im NSU-Prozess quält viele die Unsicherheit, ob entscheidende Zusammenhänge noch gar nicht erkannt worden sind. So ist die Herkunft der vielen Waffen des NSU immer noch weitgehend ungeklärt. Und auch die Frage, ob es Komplizen, Mitwisser oder Mittäter gab, die bisher nicht bekannt sind, ist unbeantwortet. Es bleibt nach fünf Jahren NSU-Prozess die Erkenntnis: Auch juristische Wahrheit kann immer nur eine Annäherung an die Wahrheit sein.

Das Gericht jedoch hat die Strafverfolgung weiterer Verdächtiger durch sein Urteil zumindest erschwert. Denn es hat André Eminger geglaubt, dem engsten Vertrauten des NSU, wonach er trotz seiner Nähe nicht wusste, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Morde begingen. Deswegen wurde er auch von der Beihilfe zum versuchten Mord freigesprochen. Nun ist aber auch den anderen Beschuldigten, die nah am NSU dran waren, aber nicht so nah wie Eminger, nur noch schwer der Prozess zu machen. Gerade bei Emingers Frau Susann, der ehemals besten Freundin von Beate Zschäpe, hatten sich die Ermittler zuvor noch einen Erfolg versprochen.

Die Protokolle

Gerade um die Transparenz in diesem Mammut-Verfahren zu gewährleisten, sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass der Prozess per Video oder mit Tonband aufgenommen oder zumindest mitstenografiert wird – so wie das auch bei Debatten im Bundestag geschieht, die man dann auf der Homepage des Bundestags nachlesen kann. Oder wie am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, in dem zusätzlich zum Protokollanten sogar acht Kameras das Prozessgeschehen aufnehmen. Doch eine solche Dokumentation über den NSU-Prozess existiert nicht. Es gibt kein offizielles Protokoll dieses Prozesses, ein Umstand, der selbst vielen interessierten Beobachtern des Verfahrens nicht bewusst war und immer wieder ungläubiges Kopfschütteln erregte.

Es ist in Deutschland – ganz anders als in den USA – bisher verboten, Gerichtsverhandlungen in Ton oder Film aufzunehmen. Und der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat gleich zu Beginn einen entsprechenden Antrag der Verteidigung abgelehnt – damit, wie er sagte, die Zeugen nicht beeinflusst werden und frei aussagen könnten.

Im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts München saßen zwar Protokollanten, aber sie schrieben nur auf, ob Zeugen erschienen und Angaben zur Sache machten. Was die Zeugen aussagten, lässt sich offiziell nirgendwo nachlesen – deswegen kam es bei der Bewertung von Zeugenaussagen schon während des Prozesses wiederholt zu Diskussionen. Verteidiger, Ankläger, auch die Richter schrieben zwar eifrig für sich mit, aber alle nur das, was für ihre eigenen Bedürfnisse wichtig erschien. Und jeder erinnerte sich anders. Schon im Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, wurde beklagt, dass es kein offizielles Protokoll gab. Das Gericht selbst hat dann »zur Stützung des Gedächtnisses« Tonaufnahmen fertigen lassen. Zunächst sollten sie vernichtet werden, erst auf Protest jüdischer KZ-Opfer wurden sie aufbewahrt und später für die Wissenschaft freigegeben, mittlerweile hat sie die UNESCO als Quelle von welthistorischem Rang anerkannt. Aus dieser Erfahrung haben die deutschen Gerichte jedoch bisher kaum Lehren gezogen.

Wer sich später exakt erinnern will, was im wichtigsten Prozess der vergangenen Jahrzehnte wirklich passiert ist, welcher Zeuge gelogen und wer die Wahrheit gesagt hat, der musste sich die Mühe machen, Tag für Tag persönlich im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts an der Nymphenburger Straße in München zu erscheinen und per Hand oder auf dem Laptop mitzuschreiben. Doch schon der Zugang zum Gericht war beschränkt: Die 50 Plätze für Journalisten wurden unter vielen Interessenten verlost. Dem Magazin der Süddeutschen Zeitung ist es gelungen, einen Platz zu erhalten. Daraufhin haben die Autoren Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz und Rainer Stadler die Protokolle Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit dem Laptop auf den Knien tagsüber mitgeschrieben und anschließend an langen Abenden sortiert, geglättet und verdichtet. Das Team hat keinen einzigen der Prozesstage versäumt, vom Beginn am 6. Mai 2013 bis zum Ende am 11. Juli 2018. So sind die NSU-Protokolle entstanden – eine Sammlung von Original-Zitaten und Dialogen als Dokumentation eines in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Prozesses.

Die Protokolle sind nicht durch die interessengeleitete Sichtweise von Anklägern, Verteidigern oder Nebenklägern bestimmt, sie zeigen – soweit das möglich ist – ein unparteiisches, authentisches, weitgehend unkommentiertes Gesamtbild des Prozesses, die Essenz von Hunderten Verhandlungstagen. Redundantes wurde weggelassen, juristische Feinheiten auf das zum Verständnis unbedingt Nötige reduziert, stundenlange Befragungen von wortkargen Zeugen, die alle im Gerichtssaal als quälend empfunden haben, sind auf zentrale Aussagen und Dialoge reduziert. Wegen der historischen Bedeutung des Prozesses war den Autoren von Anfang an bewusst, dass sich die Protokolle nicht nur ans Fachpublikum wenden, sondern auch interessierten Laien zugänglich sein sollten. Allein deshalb erwies sich eine gewisse Straffung der Mitschriften als unumgänglich. Gleichzeitig war es natürlich das Ziel, alle für das Verständnis und die Bewertung des Verfahrens relevanten Inhalte zu dokumentieren, So wurde ein Umfang von knapp 2000 Seiten erreicht. Mehr wären nicht mehr lesbar gewesen, weniger hätten zu viele Lücken gelassen.

Wegen der Persönlichkeitsrechte mussten manche Namen von Zeugen abgekürzt werden, ihre Aussagen, auch ihr Sprachduktus aber blieben unverändert. Aus den Protokollen ertönt ein Chor unterschiedlichster Stimmen: Der Brandsachverständige redet nicht von Ruß, sondern von »thermischer Beaufschlagung«. Die Polizistin sagt, das Opfer sei »ex« gewesen, wenn sie erklären will, dass der Mensch schon tot war, als sie kam. Neonazis sprechen von »national« oder »normal«, wenn sie rechtsradikal meinen. Alle diese Facetten bilden die Protokolle ab. Diese Protokolle sind im wahrsten Sinne Mit-Schriften. Das Gericht hat den Audio-Mitschnitt des Verfahrens verboten. Die Inhalte der Protokolle wurden nach journalistischen Kriterien ausgewählt, nicht nach juristischen. Deswegen ist nicht jeder einzelne Antrag, der für Juristen interessant sein könnte, mit aufgenommen, dafür aber finden sich darin Dialoge, die die Dynamik der Beziehungen unter den Prozessbeteiligten zeigen.

Besonders wichtig war dem Autorenteam, die lebhafte Auseinandersetzung in diesem Prozess zu zeigen: die Wortwechsel zwischen Richter und Verteidigung, die Originaltöne der Zeugen, die beklemmenden Auftritte der Eltern von Opfern und Tätern, kurz: die akribische Suche nach der Wahrheit. So ist dieses Werk entstanden, das gewährleisten will, was eigentlich Aufgabe des Rechtsstaats wäre: jeder interessierten Leserin, jedem interessierten Leser die Möglichkeit zu geben, die Geschehnisse dieses fünf Jahre dauernden Verfahrens nachzulesen und sich anhand dessen ein eigenes Urteil zu bilden.

Die Lehren aus dem Prozess

Der NSU-Prozess hat gezeigt, dass Hass und Gewalt nicht auf die Terrorzelle aus Zwickau beschränkt sind. Wer den NSU-Prozess verfolgt hat, der wundert sich nicht mehr darüber, wie viele »besorgte Bürger« während der Flüchtlingskrise in Clausnitz, Freital und Dresden aufmarschierten, randalierten, einen Bus mit Flüchtlingen umstellten und in Dresden bei der Einheitsfeier den Bundespräsidenten niedergrölten oder kleine Galgen für Kanzlerin Merkel herumtrugen. Der Hass, aus dem die NSU-Morde verübt wurden, ist eingedrungen in die Gesellschaft.

Als der NSU nach zehn Morden, drei Sprengstoffattentaten und 15 Raubüberfällen im November 2011 aufgeflogen war, beschwichtigten etliche Sicherheitsverantwortliche: So eine Terrorserie könne sich in Deutschland nicht wiederholen. Nach diesem Prozess ist klar: Dafür gibt es keine Garantie.

Längst sind neue rechtsradikale Täter aufgetreten. Egal, ob in Salzhemmendorf bei Hannover bis dahin unbescholtene Bürger eine Whatsapp-Gruppe namens »Garage Hakenkreuz« gründeten und dann Molotowcocktails in das Kinderzimmer einer Flüchtlingsfamilie warfen. Egal, ob in Freital in Sachsen sich Busfahrer und Handwerker zu einer Kampfgruppe gegen linke Politiker, Bürgerrechtlerinnen und Flüchtlinge zusammenrotteten – direkt gegenüber der Polizeiwache. Egal, ob Rechtsradikale in einer »Oldschool Society« genannten Terrortruppe Attentate planten. Überall sind ähnliche Denkmuster, Strukturen, Unterstützernetzwerke zu finden wie man sie beim NSU beobachten konnte.

Im NSU-Prozess war die Ursuppe all dieser Ressentiments, dieser Geheimbündelei, dieser sich gegenseitig aufhetzenden Rassisten zu finden – genauso wie die Prototypen der wegschauenden, versagenden Staatsvertreter. In den Protokollen kann nun jede und jeder nachlesen, wie der O-Ton Rechts sich anhört. Mit welchen Worten, welchen Argumenten sich Staatsschützer herauswinden und Terror-Helfer und -Unterstützerinnen abwiegeln. Auch diesen Blick auf die Realität will dieses Werk bieten.

Der Prozess hat gezeigt, dass es eben nicht gereicht hat, wegzusehen, damit rechte Umtriebe verschwinden. Sondern, dass Rechtsradikale durch Verharmlosung stark gemacht wurden und sich sogar stillschweigend unterstützt fühlten, weil ihnen niemand entschlossen entgegentrat. Aus dieser Erkenntnis kann die Gesellschaft Lehren ziehen – für die Gegenwart und für die Zukunft.

ANNETTE RAMELSBERGER

WIEBKE RAMM

TANJEV SCHULTZ

RAINER STADLER

DER NSU-PROZESS

DAS PROTOKOLL

BEWEISAUFNAHME

TAG 1–374

Tag 1

6. Mai 2013

Manfred Götzl, 59, Richter. Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl, Verteidiger von Beate Zschäpe.

(Alle Plätze im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München sind belegt, die ersten Besucher standen um zwei Uhr morgens an. Beate Zschäpe wird um 9.56 Uhr in den Saal geführt. Sie steht zwischen ihren Anwälten und dreht den Kameras der Fotografen und Fernsehleute, die bis kurz vor Prozessbeginn Aufnahmen im Gerichtssaal machen dürfen, den Rücken zu. Die anderen Angeklagten sitzen in ihren Bänken, neben ihren Anwälten. Der Angeklagte Carsten Schultze, der im Zeugen schutzprogramm ist, versteckt sein Gesicht unter einem Kapuzenpulli. Nur Ralf Wohl leben und Beate Zschäpe sind in Haft, die anderen drei Angeklagten sind auf freiem Fuß. Kurz vor 10.30 Uhr treten die drei Richter ein, Manfred Götzl, Peter Lang, Konstantin Kuchenbauer, sowie die Richterinnen Michaela Odersky und Renate Fischer, begleitet von drei Ergänzungsrichtern, Gabriele Feistkorn, Peter Prechsl, Axel Kramer. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl ergreift das Wort.)

Götzl (zu den Angeklagten und deren Verteidigern) Guten Morgen! (zu den Vertretern der Bundesanwaltschaft) Guten Morgen! (zu den Nebenklägern) Guten Morgen! (zur Besuchertribüne) Guten Morgen! Bitte nehmen Sie Platz! Ich eröffne die Sitzung des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München. Es kommt zum Aufruf das Verfahren gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze. Ich stelle zunächst die Präsenz fest: die Angeklagte Zschäpe mit ihren Verteidigern Herrn Heer, Herrn Stahl und Frau Sturm. Der Angeklagte Eminger mit seinen Verteidigern Herrn Kaiser und Herrn Hedrich, der Angeklagte Wohlleben mit seinen Verteidigern Frau Schneiders und Herrn Klemke, der Angeklagte Carsten Schultze mit seinen Verteidigern Herrn Hösl und Herrn Pausch, der Angeklagte Gerlach mit seinen Verteidigern Herrn Hachmeister und Herrn Rokni-Yazdi. Die Vertreter der Bundesanwaltschaft Herr Diemer, Frau Greger, Herr Weingarten, Herr Schmidt.

(Dann nennt Götzl die Namen der rund 60 Nebenklagevertreter mit ihren Mandanten. Die meisten Angehörigen der Opfer sind im Saal vertreten, unter anderem die Familie Yozgat aus Kassel, Semiya Şimşek, deren Vater in Nürnberg ermordet wurde, Gamze Kubaşık aus Dortmund, Mustafa Turgut, dessen Bruder Mehmet in Rostock erschossen wurde. Auch Yvonne Boulgarides, die Witwe des einzigen griechischstämmigen Mordopfers. Sie werden mit ihren Anwälten auf zwei großen Leinwänden im Saal gezeigt. Götzl begrüßt den psychiatrischen Sachverständigen Henning Saß von der Universität Aachen. Dann vereidigt der Richter drei Dolmetscher, die ins Türkische übersetzen sollen.

Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl ergreift das Wort. Er will wissen, was aus dem Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Götzl geworden ist, den die Zschäpe-Verteidigung zwei Tage zuvor, am Samstagabend, an das Gericht gefaxt hat. Götzl sieht keine Dringlichkeit, Stahl fordert eine Unterbrechung. Danach einigen sie sich darauf, dass Stahl den 16 Seiten langen Befangenheitsantrag vorliest. Es geht darum, dass Götzl angeordnet hat, dass die Verteidiger beim Betreten des Gerichtssaals durchsucht werden, die Vertreter des Generalbundesanwalts aber nicht.)

Verteidiger Stahl Mit sitzungspolizeilicher Anordnung vom 4.3.2013 hat der abgelehnte Vorsitzende zur störungsfreien Abwicklung der Hauptverhandlung sowie zur Sicherheit der Angeklagten und der übrigen Prozessbeteiligten angeordnet, dass sich sowohl Verteidiger als auch Nebenklagevertreter einer Zugangskontrolle zu unterziehen haben. Das Vorliegen einer allgemeinen Gefährdungslage wird selbstverständlich nicht verkannt. Angesichts der Tatsache, dass Vertreter des Gerichts, der Bundesanwaltschaft, der Polizei und der Justizbeamten nicht durchsucht werden, ist die angeordnete Durchsuchung der Rechtsanwälte aus sich heraus nicht nachvollziehbar. Das Gericht argumentiert, den Verteidigern könnten wegen ihres »besonderen Näheverhältnisses« zur Mandantin unerlaubte Dinge zugesteckt werden. Aber auch andere Prozessbeteiligte sind nicht immun dagegen, unter Druck gesetzt zu werden.

Warum werden die Verteidiger durchsucht, nicht aber die Staatsanwälte, die Richter, die Polizisten? Wenn schon, dann sollten alle durchsucht werden. Sonst ist das diskriminierend gegenüber den Verteidigern. Das Gericht hält die Verteidiger offenbar für zu dumm, als dass sie erkennen könnten, wenn ihnen jemand unerlaubte Dinge zusteckt.

Die angeordnete Durchsuchung stellt einen nicht unerheblichen Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen der betroffenen Rechtsanwälte dar. Das Gericht zeigt eine diskriminierende Haltung gegenüber den Verteidigern. Animositäten zwischen Richtern und Verteidigung sind geeignet, bei unserer Mandantin Misstrauen zu säen, ob die Verteidigung sachgerecht erfolgen kann. Deswegen lehnt unsere Mandantin den Vorsitzenden Richter ab.

(Der Senat beschließt, die Verhandlung dennoch zunächst fortzusetzen. Dann stellt auch Ralf Wohlleben über seine Verteidiger einen umfangreichen Befangenheitsantrag gegen das Gericht.)

Götzl Gibt es noch unaufschiebbare Anträge?

Verteidiger Heer Nicht unaufschiebbar, aber vordringlicher als andere Anträge. (Heer kündigt nun einen Antrag auf Aussetzung der Verhandlung und Verlegung in einen anderen Sitzungssaal an. Die Richter ziehen sich zur Beratung zurück. Als sie wieder im Saal erscheinen, ist Verteidiger Heer noch nicht an seinem Platz. Daraufhin verlassen die Richter wieder den Saal.)

Götzl (zu einem Justizwachtmeister) Läuten Sie erst, wenn alle Prozessbeteiligten da sind.

(Heer erscheint wieder im Saal, kurze Zeit später kehren auch die Richter zurück.)

Götzl Noch irgendwelche Befangenheitsanträge von Ihrer Seite? (Er schaut in die Runde. Alle schweigen.

Dann beendet Götzl den ersten Verhandlungstag. Damit über die Befangenheitsanträge von Zschäpe und Wohlleben entschieden werden kann, streicht das Gericht die für den 7. und 8. Mai vorgesehenen Verhandlungstage.)