Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 10
Gegen diese negative Zukunftsaussicht setzt die Epode mit Vers 855 einen erneut auffordernden Blick auf die aktuelle Gegenwart: Für Neoptolemos sei jetzt eine günstige Gelegenheit (οὖρος) eingetreten, da Philoktet gleich einem Toten ohne Macht über seinen eigenen Körper hingestreckt sei. Ein erneutes ὅρα (v. 862 vgl. v. 833) eröffnet eine letzte Aufforderung an Neoptolemos: Er solle zusehen, ob er der Situation angemessene Dinge spreche (καίρια φθέγγῃ); die Vorgehensweise mit der größten Aussicht auf Erfolg sei aus Sicht der Choreuten – bemerkenswert das betonte ἐμᾷ φροντίδι v. 864 – ein furchtloses Handeln (πόνος μὴ φοβῶν κράτιστος).
Die sorgfältige sprachlich-motivische Gestaltung der Chorpassage soll hier nicht unerwähnt bleiben.8 Zwei Aspekte treten dabei besonders deutlich hervor.
Zum ersten: Wie schon erwähnt, prägt der gedoppelte Blick auf Philoktet und Neoptolemos die gesamte Partie.9 Wiederkehrendes und geradezu gliederndes Moment sind dabei die Anreden an Neoptolemos sowie die begriffliche Thematisierung des Schlafs, an deren gegenseitigem Wechselspiel innerhalb des Liedes die spezielle Perspektive des Chors auf die Situation verdeutlicht werden kann: Unterbricht der Vokativ (ὦ) τέκνον v. 833 in der ersten Strophe den durch das verdoppelte Ὕπνε volltönend begonnenen Invokationshymnos, so nimmt diese vertraute Anrede auch in den beiden folgenden Strophen prominente Stellungen ein. Sie eröffnet die Gegenstrophe (v. 843) und markiert so die bewusste Antwort auf Philoktets Einwand, wird in Vers 845 zur Intensivierung der Aufforderung nach gedämpfter Lautstärke wiederholt und steht erneut am Beginn der Epode v. 855, um dem Angesprochenen die günstige Lage geradezu plastisch vor Augen zu führen οὖρός τοι, τέκνον, οὖρος. Wenn der Chor am Schluss des Liedes (v. 864) seinen Herrn mit παῖ anspricht, so lässt diese Variation aufmerken und macht den besonderen Nachdruck der vom Chor vorgebrachten Empfehlung erfahrbar. Die p-Alliteration des Vokativs mit dem aus Vers 835 übernommenen φροντίδος und dem folgenden πόνος ist dabei ein starkes Mittel, das der Passage erneut Nachdruck verleiht; anders gesagt: Die in der ersten Strophe aufgeworfenen Fragen an Neoptolemos, v.a. πῶς δέ σοι τἀντεῦθεν φροντίδος v. 834, sind hier am Ende der Passage aus Sicht des Chors trotz aller Ambivalenz deutlich und unmissverständlich beantwortet.
Demgegenüber erfährt der Schlaf als Gegenpol des chorischen Fokus im Lauf des Liedes je verschiedene Ausdeutungen: War er als Gottheit am Beginn der ersten Strophe noch Heiler und erbetener Wohltäter – mithin eine mit positiven Attributen versehene, personifizierte Abstraktion –, so thematisiert die Gegenstrophe die Gefahr, die der konkrete und „scharfblickende“ Schlaf des kranken Philoktet für Neoptolemos und den Chor in sich birgt: das Mithören der Intrigenpläne, bzw. genauer das Sehen (λεύσσειν) der wirklichen Gegebenheiten. Die Epode setzt dagegen ein anderes Bild: Der im Schlaf Hingesunkene gleicht in seiner Ohnmacht und Wahrnehmungslosigkeit einem Toten. Dieser Zustand, der dem Protagonisten jeden Kontakt zur und jede Interaktion mit der umgebenden Realität unmöglich macht, steht dabei in scharfem Kontrast zum ὕπνος ἄυπνος (v. 848) der Gegenstrophe, nimmt aber zugleich Begrifflichkeit und Inhalt der ersten Strophe wieder auf und erweitert das dort gezeichnete Bild. So bezeichnet ἀνόμματος (v. 856) eben jenen Zustand, den die Bitte in den Versen 830ff. herbeigesehnt hatte: War dort geradezu aus der Innenperspektive Philoktets von der αἴγλη – „dream light“ – die Rede, die den Augen des Helden vorgehalten werden sollte (ὄμμασι δʼ ἀντίσχοις), so verbalisiert nun νύχιος (v. 857) den augenscheinlichen Eindruck, den der Schlafende bei Betrachtern hervorruft. Dass in beiden Fällen die identische Form von (ἐκ)τείνω (τέταται v. 831, ἐκτέταται v. 857) verwendet wird, macht die Bezugnahme umso deutlicher.10
Herausragende Aufmerksamkeit verdient zum zweiten der konsequent absichtsvolle Gebrauch des Begriffsfelds „Sehen“ innerhalb der Passage. Die Polarität des gedoppelten Blicks auf Philoktet und Neoptolemos tritt hier besonders hervor: Während der Schlaf Philoktet gerade seine Sehkraft nehmen bzw. einschränken soll (v. 830f.) und der so versunkene Held schließlich ἀνόμματος (v. 856) genannt wird, bedient sich der Chor in den Aufforderungen an Neoptolemos dezidiert der Begrifflichkeiten des Sehens und Hinschauens. So leitet der Imperativ ὅρα (v. 833) die dreigliedrige Frage nach Standpunkt und weiterem Vorgehen ein, ἐξιδοῦ (v. 851) fordert zum verborgenen Handeln auf, und ein erneutes ὅρα (v. 862) – diesmal durch βλέπ(ε) gesteigert11 – mahnt zu situationsangepasstem Sprechen. Dementsprechend versichert Neoptolemos den Chor in seiner Antwort, er „sehe“ (ὁρῶ v. 839), dass eine Abfahrt ohne Philoktet dem Orakelspruch widerspreche, wohingegen dessen leichter Schlaf in der Formulierung der Schiffsleute gerade auf Grund des „scharfblickenden Sehens“ (εὐδρακὴς λεύσσειν v. 847f.) eine Gefährdung der vertrauten Gesprächssituation darstellt. Schließlich verbalisiert das futurische ὄψεται (v. 843) die in Aussicht gestellte göttliche Fürsorge um die konkrete Erfüllung der Prophezeiung, während die vom Chor antizipierten ἄπορα πάθη als im wahrsten Sinne „voraussehbar“ (ἐνιδεῖν v. 854) bezeichnet werden.12
Neoptolemosʼ Aufforderung in Vers 865, nun angesichts der wahrnehmbaren Bewegungen Philoktets Stille zu halten, bringt das Lied zu einem entschiedenen Ende. Der Protagonist erwacht und begrüßt sogleich das Licht; sein Monolog (v. 867–881) nimmt daraufhin nach einem Dank an Neoptolemos konkret die Fortführung der Handlung, d.h. den Aufbruch zum Schiff in den Blick (v. 877). Vom verklungenen Chorlied hat Philoktet indes nichts wahrgenommen. Die darin erreichte Zuspitzung der Situation bildet in dieser Hinsicht eine Grundierung, auf der sich gerade das Lob, das der Protagonist Neoptolemos und seiner wohlgearteten Natur (εὐγενὴς φύσις v. 874) entgegenbringt, umso kontrastreicher abhebt. Anders gesagt: Wurde in der chorischen Partie der Fokus dezidiert auf Neoptolemos und seine weiteren Schritte gelenkt, so spitzt sich diese Verengung durch Philoktets Aussagen weiter zu. Die Peripetie wird so in spannungsvoller Kontrastierung bereits antizipierbar.
Machen wir uns an diesem Punkt klar: Der Begriff des Sehens ist für die Motivik des Liedes grundlegend; sie deutet damit den augenscheinlichen Zustand des Protagonisten aus und macht so die konkrete Bühnensituation poetisch nutzbar. Das Begriffsfeld „Sehen“ erfährt in dieser Hinsicht eine spezifische Erweiterung und dramaturgische Aufladung: Indem der Chor auf der einen Seite seine Bitte an den Schlaf richtet, auf der anderen Neoptolemos zu genauem Hinschauen und dementsprechendem Handeln auffordert, thematisiert er die virulente Intrigensituation bildhaft und geradezu handgreiflich. Sehen bedeutet in diesem Zusammenhang, Einsicht über die wahre Situation zu haben und die konkrete Bühnenrealität im Licht des Orakel- und Intrigenzusammenhangs zu begreifen. Anders gesagt: Der ständige Wechsel der Blickrichtung zwischen Philoktet und Neoptolemos wird durch die konsequente Motivik des Sehens zusammengehalten; diese ist der dramatischen Situation, d.h. konkret dem Einschlafen des Protagonisten, entnommen und bildet den Rahmen für die Ausleuchtung der Szenerie und der sich aus ihr ergebenden Konsequenzen für die Handelnden.
Der Aufbau des Liedes, seine charakteristische Perspektive und die damit verbundene geradezu dialektische Frage-Antwort-Relation der drei Strophen untereinander sind verdeutlicht worden. Die Passage erreicht durch diese überlegte Gestaltung und den konsequenten Einsatz einer unmittelbar aus dem Bühnengeschehen erwachsenden Motivik und Begrifflichkeit eine formale Geschlossenheit, die ihrer Positionierung innerhalb des Dramas entspricht: Zwar forciert das Lied den Fortgang der Handlung und weitet sich selbst zur dialogischen Szene. Nichtsdestoweniger füllt es eine Handlungspause, in deren klar konturiertem Rahmen die umfassende Reflexion zu stehen kommt.
Die Szenerie des „Schlafliedes“ korrespondiert mit Blick auf die Gesprächssituation mit der Parodos: Wieder stehen sich Neoptolemos und seine Mannschaft gegenüber, wieder geht es in dieser vertraulichen Unterredung um das weitere Vorgehen (vgl. die ratsuchende Haltung der Choreuten in der Parodos), wobei sich das Verhältnis jedoch verschoben hat. Diesmal ist es nicht Neoptolemos, der den Choreuten Andeutungen zum weiteren Vorgehen macht, sondern der Chor, der seinem Herrn ein gewisses Verhalten vorschlägt – situationsbedingt sehr klausuliert und ambivalent.
Die Präsenz Philoktets auf der Bühne sorgt für einen grandiosen Effekt und inszeniert die Doppelstruktur der Intrigenhandlung plastisch: Während die drastische und effektvolle Handlung um Philoktet selbst zu einem Ruhepunkt gekommen ist, nimmt das Lied die unterschwellig virulente Intrigensituation forciert in den Blick. Damit ist die Intensität der vorangegangenen Szene umgeleitet: Nicht mehr die drastische Bühnenpräsenz des Protagonisten, sondern die spezifische Situation, in der sich Neoptolemos befindet, wird so als Leitthema der sich anschließenden Szene etabliert.
Die Situation der Parodos ist auch mit Blick auf die Anwesenheit des Protagonisten wiederaufgenommen, geradezu transferiert und effektvoll auf die Spitze getrieben: War dort das Nahen Philoktets und damit seine gefühlte Präsenz die Grundlage der bald angstvollen, bald neugierigen Stimmung, so befindet sich an unserer Stelle Philoktet zwar leibhaftig auf der Bühne, ist Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Chor und Akteur, nimmt aber nicht am Gespräch teil. Die Anzeichen seines Aufwachens veranlassen Neoptolemos, das Gespräch zu beenden (v. 865f.), so wie die nahenden Schritte (v. 201) und das deutliche Rufen Philoktets (v. 205f., 218) die Unterredung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn zu einem Ende führten.
Indem das Lied dabei zwischen der Beschreibung des schlafenden Philoktet und der sich daraus für Neoptolemos ergebenden Konsequenzen pendelt, verschiebt es den Fokus der Darstellung schrittweise auf Neoptolemos; dessen Handeln wird den weiteren Fortgang der Geschehnisse maßgeblich bestimmen. Machen wir uns daher klar: Das Lied blendet nach dem Höchstmaß an äußerer Drastik die virulente Intrigensituation ein und schafft damit den Übergang zur Konfrontation des Protagonisten mit der eigentlichen Realität. Es bereitet in seiner Umleitung der Drastik und der Problematisierung des Neoptolemos die folgende Szene vor: Wenn Neoptolemos im Anschluss (v. 895ff.) an der Situation scheitert und seinen Gewissenskonflikt offenlegt, so nehmen seine Äußerungen die Begrifflichkeiten der Gegenstrophe (im Besonderen fassbar bei ἄπορον und πάθος) bewusst wieder auf. Deutlich hat sich so die Einschätzung des Chors realisiert, die in der Gegenstrophe antizipierte Situation ist eingetreten. Das Lied hat sich so aus der unmittelbaren Bezugnahme auf die konkrete Situation des Protagonisten zu einer hintersinnigen Ausleuchtung der dramatischen Realität gewandelt. Dass dabei dem impliziten Rat des Chors, Philoktet zu verlassen, die Andeutung größter Schwierigkeiten gegenübergestellt wird, erweist sich im Fortgang der Handlung als konkrete Zukunftsaussicht auf den weiteren Verlauf der Handlung. Die chorische Passage kommt so an einem – scheinbaren – Ruhepunkt der Handlung zu stehen, greift die eingetretene Stimmung auf und moduliert sie in geschickt kontrastierender Weise zu einer brisanten Auseinandersetzung mit der Handlung kurz vor ihrem Wendepunkt.
Die Form des Liedes spielt dabei meisterhaft mit der Erwartungshaltung des Publikums. Begann die Passage mit ihrer personifizierenden Ausdeutung als ein aus der Situation des Protagonisten motivierter Invokationshymnos, so markiert der Wechsel des Adressaten in Vers 833 das unvermittelte Eintreten in einen Dialog mit dem auf der Bühne verbliebenen Akteur. Aus dem Schlaflied wird so „ein Lied der leisen, aber umso stärkeren Verführung zum Verrat“,13 aus dem rein chorischen, stasimon-ähnlichen Gesang zur Szenentrennung wird ein Austausch zwischen Chor und Akteur, eine Übergangsszene im besten Sinne. Selbst wenn Neoptolemosʼ Anteil an der Unterredung gering ist, evozieren doch die gehäuften Vokative (τέκνον v. 833, 843, 845, 855; παῖ v. 863/4) mitsamt den prominenten Imperativen (ὅρα v. 833, 862; πέμπε v. 846; ἐξιδοῦ v. 851; βλέπ(ε) v. 862) den Charakter eines lebhaften Diskussionsbeitrags von Seiten des Chors, der geradezu auf Antwort bzw. Reaktion ausgerichtet ist.
Fassen wir zusammen: Sophokles nutzt die im Verlauf der Handlung eingetretene Pause durch die Einschaltung einer chorischen Partie zur Umleitung der Drastik und der Wendung des Fokus. Die sich anschließende Peripetie ist damit vorbereitet; anders gesagt: Die Zuschauer sind sich der für Neoptolemos hochproblematischen Situation erneut bewusst und können auf der Folie der im Lied implizit gegebenen Ratschläge die konfliktreiche folgende Szene bereits antizipieren. Das Gespräch zwischen Neoptolemos und dem Protagonisten in den Versen 867ff. hat so als (erster) Wendepunkt innerhalb der Handlung ein chorisches Präludium erhalten, das zum einen die vorangegangene Szene beschließt, dabei allerdings selbst bewusst Szene des Dramas, d.h. Dialog und Austausch zwischen Beteiligten, sein will. Anders gesprochen: Sophokles lässt an dieser Stelle der Handlung keine wirkliche Ruhe aufkommen. Statt in einem reinen Invokationshymnos an den Schlaf die unmittelbare Drastik der Anfallsszene zu lindern und damit dem dramatischen Schwung einen Kontrapunkt entgegenzusetzen, heizt gerade die chorische Partie die dramatische Brisanz weiter an. Den Effekt des „lyric interlude“14 verstärken dabei die konkrete Bühnen- und Sprechsituation, das bewusste, die Erwartungen des Publikums unterlaufende Spiel mit festen Formen chorischer Beteiligung (Invokationshymnos, Stasimon, lyrischer Austausch zwischen Akteur und Chor) und die subtile sprachlich-motivische Komposition, die der Ambivalenz, Uneindeutigkeit und „Chiffrierung“15 der Sprache eine besonders subversive Wirkung verleiht.
Kommos Philoktet-Chor (v. 1081–1217)
Mit dem Wechselgesang v. 1081–1217 kommen wir zur letzten umfangreichen Chorpartie der Tragödie. Bevor die Gesprächssituation, die formale Anlage der Passage, ihre Motivik und Thematik sowie die dramaturgischen Implikationen erläutert werden, soll ein kurzer Überblick die Einordnung des Kommos in den Handlungsablauf ermöglichen.
Nach dem Aufwachen des Protagonisten hatte Neoptolemos die Wahrheit nicht mehr zurückhalten können und Philoktet mit den Gegebenheiten konfrontiert: Es sei notwendig (δεῖ v. 915, πολλὴ κρατεῖ ἀνάγκη v. 921f.), gemeinsam nach Troia zu fahren und dort die Stadt einzunehmen. Philoktet reagiert erschüttert; in einem ersten Monolog (v. 927–962) konfrontiert er seinen Gesprächspartner mit schwerwiegenden Vorwürfen: Er, ein Schutzbedürftiger (προστρόπαιος, ἱκέτης v. 930) sei getäuscht, geradezu hinters Licht geführt worden (besonders eindrücklich die Perfektformen ἠπάτηκας v. 929 und ἠπάτημαι v. 949). Wenigstens den Bogen solle man ihm zurückgeben, denn mitsamt diesem Utensil habe man ihm das Leben selbst geraubt (v. 931ff.). Dementsprechend fällt das Urteil über seinen eigenen Zustand vernichtend aus: οὐδέν εἰμʼ ὁ δύσμορος (v. 951). Neoptolemos antwortet trotz der mehrfachen direkten Ansprache durch Philoktet nicht (v. 934f., 951), bekundet allerdings nach der an ihn gerichteten Frage des Chors nach dem weiteren Vorgehen (v. 963f.) sein überaus großes Mitleid (οἶκτος δεινός), das ihn nicht erst jetzt, sondern schon vor längerer Zeit befallen habe.
Bevor es zu einer Übergabe des Bogens und Entscheidung für oder gegen die Abfahrt nach Troia bzw. in Philoktets Heimat kommen kann, betritt Odysseus ohne Vorankündigung die Bühne. Zum ersten Mal treten so die drei wesentlichen Akteure der Handlung in direkte Auseinandersetzung. Philoktet wird sich rasch bewusst, dass letztlich Odysseus für seine momentane Lage verantwortlich ist (v. 978f.), und droht schließlich, sich der Situation durch einen Sprung vom Felsen zu entziehen (v. 999f.). Odysseusʼ Gehilfen packen den Protagonisten daraufhin und verhindern so die Selbsttötung. Philoktet, nunmehr festgehalten von Statisten, greift in einem zweiten Monolog (v. 1004–1044) Odysseus scharf an: Dieser habe Neoptolemos, den Philoktet unbekannten Knaben (παῖδα ἀγνῶτʼ ἐμοί v. 1008), geradezu als Schutzwehr (πρόβλημα) benutzt, um sein Vorhaben umzusetzen. Ein entschiedenes ὄλοιο (v. 1019) bringt Philoktets Verachtung und Entrüstung gegenüber Odysseus wirkungsvoll zur Sprache. Selbst die erfolgte Festsetzung und Überführung seiner selbst nach Troia, so Philoktet, werde für die Griechen keinen Vorteil bringen: In seinem Zustand – lahm und stinkend (χωλός, δυσώδης v. 1032) – stelle er bei der Eroberung Troias eher ein Hindernis als eine Unterstützung dar. Die Ursache seiner Aussetzung auf Lemnos, d.h. seine Krankheit und die daraus erwachsenen Probleme, seien schließlich noch immer virulent. Philoktet schließt mit einer Anrufung der Götter seiner Heimat (v. 1040ff.): Diese sollten die für sein Leid Verantwortlichen allesamt (ξύμπαντας) bestrafen; denn selbst unter diesen widrigen Lebensbedingungen (ζῶ οἰκτρῶς v. 1043) könne Philoktet die Gewissheit um die Bestrafung seiner Widersacher geradezu als Befreiung von seiner Krankheit empfinden.
Wieder ist es der Chor, der nach dem Monolog des Protagonisten eine kurze Einschätzung gibt, diesmal in Form einer direkten Anrede an Odysseus (v. 1045f.): Philoktet habe eine heftige Rede gehalten, die kein Anzeichen eines Nachgebens erkennen lasse. Der Angesprochene bekundet, er wolle nun nicht viele Worte machen. Zwar wünsche er, Odysseus, in der Regel, den Sieg aus einer Situation davonzutragen, Philoktet aber lasse er freiwillig zurück. Denn, so die Einschätzung, mit dem Besitz des Bogens bestehe keine Notwendigkeit, Philoktet selbst nach Troia zu bringen. Er gibt schließlich den Befehl, Philoktet loszulassen, und fordert Neoptolemos auf, nun mit ihm selbst zum Schiff zu gehen. Nacheinander wendet sich Philoktet daraufhin in je einem Doppelvers an Odysseus (v. 1063f.), Neoptolemos (v. 1066f.) und den Chor (v. 1069), verfehlt allerdings sein Ziel, die übrigen Akteure durch seine erschüttert-ungläubigen Fragen zum Bleiben zu bewegen. Der Chorführer macht sein weiteres Vorgehen von Neoptolemosʼ Vorgaben abhängig. Dieser gibt daraufhin in den Versen 1074ff. eine – zumindest für den Moment – klare Handlungsanweisung: Er fordert den Chor auf, bei Philoktet zu bleiben, während er selbst mit Odysseus zu den Göttern beten wolle. Vielleicht, so seine Hoffnung, werde Philoktet noch zu einem anderen, der eigenen Sache günstigeren Entschluss kommen. Sobald er jedenfalls das Signal zum Aufbruch geben werde, sollten sich auch die Schiffsleute rasch aufmachen. Nach diesen Worten verlassen Neoptolemos und Odysseus das Geschehen, zurück bleiben Philoktet und der Chor.
Machen wir uns an diesem Punkt die Bühnensituation erneut klar: Mit Neoptolemosʼ Eingeständnis in den Versen 895ff. hat die bisher virulente Doppelbödigkeit der Handlung ein Ende gefunden. Schrittweise erfährt nun auch der Protagonist die eigentlichen Hintergründe der Geschehnisse, wobei der überraschende Auftritt des Odysseus in Vers 974 die Klimax der Szenerie darstellt: Zum ersten Mal stehen sich nun die beiden Antipoden der Handlung konkret gegenüber. Die seit dem Prolog bereits antizipierbare Konfrontation des ‚Strippenziehers‘ Odysseus mit dem Hauptleidtragenden seiner Intrige bringt damit den Kern der Personenkonstellation auf die Bühne; Neoptolemos und der Chor folgen dementsprechend dem Streitgespräch der beiden Akteure lange Zeit wortlos, einzig die kurze Einschätzung des Chorführers v. 1045 unterbricht diese Zurückhaltung. Erst die Antwort auf Philoktets direkte Ansprache und die darauf von Neoptolemos gegebenen Handlungsanweisungen (v. 1072ff.) bilden die erste Einschaltung der durch die Bühnenpräsenz des Odysseus und die Intensität des wortreichen Konflikts geradezu ins Abseits geratenen weiteren Charaktere.
Mit Odysseusʼ Auftritt im entscheidenden, geradezu aporetischen Moment (vgl. Neoptolemosʼ hilflose Frage „Was sollen wir tun, Männer?“ und Odysseusʼ entsetzte Auftrittsworte „Was tust du da?“ v. 974) erfährt also die festgefahrene Szenerie eine ungeahnte und überraschende Dynamisierung und personelle Verschiebung. Während bis zu diesem Punkt die im „Schlaflied“ bereits antizipierte Problematisierung des Neoptolemos und seines Verhaltens dramatisch umgesetzt wurde, weitet und vertieft sich durch Odysseusʼ Auftreten die Dimension des Geschehens. Die Feindschaft zwischen ihm und Philoktet wird dabei drastisch inszeniert: Das hochemotionale Rededuell der beiden, die Ankündigung des Selbstmords, die anschließende Fesselung des Protagonisten sowie seine Freilassung bringen einige Aktion auf die Bühne. Neoptolemos steht dabei geradezu zwischen den Fronten und kann erst am vorläufigen Ende des Streits als Herr der Schiffsleute aktiv in das Geschehen eingreifen bzw. dessen weiteren Fortgang ordnen.
Für Philoktet scheint an diesem Punkt der Handlung alles verloren, seine Lage hat sich durch Odysseusʼ Eingreifen und den Abgang der Akteure in Vers 1081 noch einmal akut zugespitzt. Der sich anschließende Kommos überbietet in dieser Hinsicht die bereits emotionalen Monologe in den Versen 927–962 sowie 1004–1044 und leuchtet so die erreichte Situation expressiv aus.
Der eigentliche Wechselgesang besteht augenscheinlich aus zwei Teilen, die sich hinsichtlich ihrer Metrik, der Dialogstruktur und der jeweiligen Bühnenwirkung unterscheiden:1 Auf die beiden Strophenpaare in den Versen 1081–1168 folgt eine Epode2 von beträchtlichem Ausmaß (v. 1169–1217). Die Verse 1218–1221 bilden im Anschluss daran als Auftrittsankündigung für Odysseus und Neoptolemos den konkreten Übergang zur folgenden Szene. Die Sprecherverteilung in den Strophen ist dabei von ausgesuchter Regelmäßigkeit: Auf eine längere Partie des Protagonisten (im ersten Strophenpaar jeweils 14 Verse, im zweiten je 17) antwortet der Chor mit einer kürzeren Einschätzung und Bewertung (je zweimal 6 Verse in jedem Strophenpaar), sodass der Redeanteil Philoktets deutlich überwiegt (62 Verse gegenüber 24 Versen des Chors). Die Epode setzt gegen diese durchsichtige Struktur einen virulenten Akzent: Der rasche Sprecherwechsel, das Nebeneinander von kurzen und längeren Äußerungen und das gegenseitige Ins-Wort-Fallen der Gesprächspartner (v.a. in den Versen 1182f.) lassen den Eindruck einer lebhaften und hochemotionalen Kommunikation entstehen, die sich schon rein formal vom eher statischen Austausch in den beiden Strophenpaaren abhebt.3
Blicken wir nach dieser ersten formalen Einschätzung zunächst auf die im Kommos behandelten Themen und Motive, um den inhaltlichen Aufbau der Partie zu erfassen. Philoktet gibt nach dem Abgang von Odysseus und Neoptolemos seiner Erschütterung und dem Gefühl der Ausweglosigkeit in einem direkten Anruf seiner Höhle Ausdruck: Diesen Ort werde er nun nicht mehr verlassen, ja sogar an ihm sterben (v. 1084f.). Nach einer Klageinterjektion (ὤμοι μοί μοι) folgen zwei schmerzerfüllte Fragen Philoktets: Warum (τίπτʼ v. 1089) werde die mit Leid angefüllte unselige Behausung ihm nun zur täglichen Umgebung (τὸ κατʼ ἦμαρ), und woher solle er jetzt noch – d.h. nach Verlust des Bogens – die Hoffnung auf Nahrung schöpfen? Der Blick zu den am Himmel entlangziehenden Vögeln ist dementsprechend resignierend: Philoktet kann sie nicht mehr einfangen.4
Der Protagonist scheint in dieser ersten Äußerung an einem wirklichen Austausch mit den Schiffsleuten nicht interessiert: Der Fokus seiner Einschätzung liegt ganz auf den Umständen seines eigenen Daseins, wobei vor allem die Höhle und das Problem der Nahrungsbeschaffung im Vordergrund stehen. Eine direkte Ansprache der Choreuten findet nicht statt, die Anwesenheit derselben spielt für Philoktet an dieser Stelle (noch) keine Rolle.
Dennoch melden sich die Choreuten im Folgenden zu Wort (v. 1095–1100) und versuchen, die von Philoktet aufgeworfenen Fragen zu beantworten: Er selbst sei für seine Situation verantwortlich. Nicht das Schicksal (ἁ τύχα) sei hier geradezu „von außen“ (ἄλλοθεν) am Werk, sondern er allein, der die Möglichkeit gehabt hätte, die günstigere Alternative zu wählen, habe sich entschlossen, dem Übleren (τὸ κάκιον) zuzustimmen. Diese alleinige Verantwortung Philoktets wird in der vorliegenden Passage prominent ausgestaltet: So eröffnet das betonte σύ τοι die direkte Wendung an den Protagonisten und rückt ihn selbst in den inhaltlichen Fokus. Indem die beiden einzigen finiten Verbformen (κατηξίωσας und εἵλου) sich gerade auf Philoktet beziehen, ist er als der eigentlich verantwortlich Handelnde gezeichnet, dessen Wahl die Ursache der momentanen Situation darstellt. Die betonte Anrede evoziert dabei eine Gesprächssituation, die so vom Protagonisten in seiner ersten Äußerung nicht intendiert war. Eine Antwort scheint Philoktet nämlich nicht erwartet zu haben und fährt auch im Folgenden fort, ohne direkt auf die Schuldzuweisung von Seiten des Chors näher einzugehen.
Die Gegenstrophe eröffnet mit Vers 1101 ein erneuter Anruf, mit dem Philoktet diesmal konkret seine eigene Person (ὢ ἐγώ) thematisiert: Er selbst, elend (verdoppeltes τλάμων) und von Mühsal geradezu misshandelt (μόχθῳ λωβατός), werde nun zu Grunde gehen (ὀλοῦμαι). Drei Partizipien geben Gründe und Begleitumstände dieser vernichtenden Selbsteinschätzung an: die Wohnsituation (ναίων) in völliger Einsamkeit, die problematische Nahrungsversorgung (οὐ φορβὰν προσφέρων) sowie der Verlust der eigenen Waffen (οὐ … ἴσχων). Dem gerade in den beiden letzten, verneinten Partizipien verbalisierten Mangel setzt Philoktet mit ἀλλά (v. 1111) seine Sicht der Vorgeschichte entgegen: Undeutliche und verborgene Worte eines betrügerischen Verstandes hätten sich eingeschlichen (ὑπέδυ). Philoktet schließt mit einer Verfluchung: Er wolle denjenigen, der das ersonnen habe, die gleiche Zeit seine eigenen Schmerzen erleiden sehen.
Die mit einiger Sicherheit gegen Odysseus gerichtete Invektive (vgl. die folgende Strophe) veranlasst den Chor zu einer unmittelbaren Richtigstellung: Was den Philoktet hier in Besitz genommen habe (ἔσχʼ v. 1119),5 sei das Geschick von δαίμονες, keine List von Seiten des Chors (ὑπὸ χειρὸς ἐμᾶς). Mit Verfluchungen anderer solle er sich daher zurückhalten; denn dem Chor liege daran (ἐμοὶ τοῦτο μέλει), dass Philoktet die gegenseitige Freundschaft nicht von sich stoße.
Offensichtlich haben die Schiffsleute den Protagonisten zumindest leicht missverstanden: Die deutliche Betonung der eigenen Unschuld an Philoktets Leid (vgl. die betonte Hervorhebung der eigenen Person im Possessivpronomen ἐμᾶς v. 1119 sowie das Personalpronomen ἐμοί v. 1121) macht die eingenommene Abwehrhaltung augenscheinlich; dass Philoktet bei seiner Verwünschung konkret Odysseus vor Augen gehabt haben könnte, spielt für den Chor zunächst keine Rolle. Schwerer wiegt für die Schiffsleute der implizite Vorwurf, den die Junktur δολερᾶς φρενός v. 1112 möglicherweise beinhaltete; dementsprechend bildet die entschiedene Zurückweisung eines Betruges (δόλος v. 1117) den wörtlichen Anknüpfungspunkt zur Vorrede des Protagonisten. Der so aufgenommene Begriff δόλος wird scharf von πότμος δαιμόνων unterschieden und findet so seinen Platz in der bereits in den Versen 1095ff. etablierten Terminologie. War dort Philoktet als βαρύποτμος angesprochen worden, der unter Einfluss eines besseren Daimon (λωίονος δαίμονος) anders entschieden hätte, so ist diese Motivik an unserer Stelle zur Junktur πότμος δαιμόνων verschmolzen, die in Abgrenzung zu δόλος erneut besonderes Gewicht erhält. Anders gesagt: Die zweite Wortmeldung des Chors stellt eine Konkretisierung und Verdichtung seiner ersten Aussagen dar, wobei der aus Philoktets Beitrag übernommene Begriff δόλος als virulenter Gegenpol innerhalb der Bewertung die deutliche Selbstverortung des Chors im Geschehen evoziert.
Ein wirklicher Dialog kommt allerdings auch an dieser Stelle nicht zustande, die Gesprächspartner reden vielmehr aneinander vorbei. Philoktet fährt in Vers 1123 erneut in seiner Klage fort, ohne konkret auf den Einwurf des Chors einzugehen,6 wobei er thematisch da einsetzt, wo er vor der Einschaltung des Chors stehen geblieben war: bei Odysseus als dem für sein Leid Verantwortlichen.
Das in Vers 1123 direkt nach der Klageinterjektion οἴμοι μοι eingefügte καί macht den direkten Anschluss an die vorherigen Äußerungen Philoktets greifbar: Subjekt der folgenden Periode ist der in den Versen 1113ff. in den Blick geratene Urheber von Philoktets Leid und damit Odysseus, dessen Name allerdings nicht genannt wird – und auch nicht genannt werden muss. Dieser, so die Imagination, sitzt nun auf der Fläche des Meers und verlacht Philoktet, während er mit dem Bogen des Helden geradezu dessen Nahrungsversorgung (τροφά) in den Händen schwingt. Ein Anruf der Waffe verleiht der Verzweiflung des Protagonisten besonderen Nachdruck (v. 1128ff.): Der Bogen selbst sehe – wenn er Verstand habe –, dass ihn der jammervolle Gefährte des Herakles im Folgenden nicht mehr benutzen werde; vielmehr werde er nun einem listenreichen (πολυμήχανος v. 1135) Mann übergeben und könne dabei mitansehen, wie dieser verhasste Unhold eine Unzahl an betrügerischen und schändlichen Taten aufblühen lasse (ἀνατέλλοντα), die er gegen Philoktet ersonnen habe.
Der Protagonist ist auch an dieser Stelle ganz auf seine eigene Ausdeutung des Geschehens konzentriert: In einem schlaglichtartigen Bild stellt er sich Odysseus vor Augen und lenkt daraufhin den Blick ganz explizit auf den nunmehr endgültig verlorenen Bogen. Die Ansprache der Höhle aus der ersten Strophe als einer unbelebten und doch für das Geschehen eminent wichtigen Entität wird dadurch noch gesteigert: Der Bogen, die zentrale Lebensversicherung Philoktets und essentielles Requisit des Dramas, wird hier nicht nur angeredet, sondern geradezu beseelt und als Handlungs- bzw. Perspektivträger wahrgenommen. Der Besitzerwechsel der Waffe ermöglicht so einen erneuten intensiven Blick auf Odysseus und dessen schändliches Tun. An die Herkunft der Waffe erinnert die Selbstbezeichnung Philoktets als Ἡράκλειον (v. 1131), „Gefährte des Herakles“. Damit klingt neben der bereits entfalteten Nahrungsthematik kurz eine weitere Bedeutungsebene des Bogens an, wie sie bereits in der Anfallsszene eingeflochten war (v. 799ff.) und auch im Monolog des Protagonisten v. 943 angedeutet wurde: Die Waffe als Geschenk des Herakles ist fassbarer Beweis der engen Bindung zwischen diesem mittlerweile vergöttlichten Helden7 und dem Protagonisten. Gegen jedes Recht hat sich Odysseus, so die implizite Konsequenz, in diese vertrauensvolle Beziehung eingemischt und wird im Folgenden den geraubten Bogen zum stummen Augenzeugen seiner verwerflichen Handlungen machen.