Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 11
Die in Vers 1140 folgende Bemerkung des Chors versucht, der vernichtenden Kritik Philoktets an Odysseus eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Den Anfang macht dabei eine gnomische Feststellung (v. 1140–1142):8 Es sei Aufgabe eines Mannes, sein eigenes Rechtsverständnis (τὸ μὲν ὃν δίκαιον) vorzubringen; allerdings müsse er sich davor hüten, damit neidvollen Schmerz hervorzurufen. Der Bezug des folgenden, konkret die Situation ins Auge fassenden κεῖνος (v. 1143) scheint nach Philoktets vorangegangenen Ausführungen deutlich: Odysseus müsste gemeint sein. Jener habe, so der Chor, als Einzelner auf Anweisung (ταχθείς) vieler gehandelt und damit seinen Freunden gemeinsame Hilfe (κοινὰν ἀγωράν) geleistet.
KAMERBEEK9 macht allerdings mit Blick auf den Bezug von κεῖνος auf eine durch den überlieferten Text bedingte Feinheit aufmerksam: Lesen wir in Vers 1144 das überlieferte Demonstrativpronomen im gen. sg. masc. τοῦδʼ,10 so sind mit κεῖνος (v. 1143) und der Form von ὅδε (v.1144) verschiedene Personen gemeint. Der eigentlich Handelnde (κεῖνος) wäre dann Neoptolemos, der auf Geheiß des Odysseus (τοῦδʼ ἐφημοσύνᾳ) seinen Auftrag auszuführen suchte. Was zunächst wie eine textkritische Quisquilie wirkt, wäre für die Gesprächssituation dennoch symptomatisch. Nicht nur, dass der Chor an unserer Stelle ganz und gar loyal gegenüber der Obrigkeit das Vorgehen gegen Philoktet in den Zusammenhang von Beauftragung und Dienst einordnet und so der emotionalen und zutiefst persönlichen Redepartie Philoktets ein abgeklärteres, den größeren Zusammenhang betrachtendes Moment entgegengestellt. Mit der feinen Differenzierung zwischen Odysseus und Neoptolemos verwehrt sich der Chor gegen eine Generalkritik des Protagonisten. Die gedankliche Hinwendung zu Neoptolemos (der zum Chor ohnehin in engerer Beziehung steht als Odysseus) zeugt dabei nicht etwa von einem Missverständnis des Chors gegenüber Philoktets Aussagen – im Gegenteil: Gerade auf dieser Basis könnte sich ein Gespräch über Auftrag und Verantwortung entwickeln. Nichts davon geschieht: Auch dieser Einwurf des Chors verhallt, ohne bei Philoktet eine wirkliche Reaktion hervorzurufen.11
Mit einem erneuten Anruf der ihn umgebenden Natur leitet der Protagonist die zweite Gegenstrophe ein: Sowohl Vögel als auch die einheimischen Landtiere werden von nun an nicht mehr fluchtartig aus ihren Behausungen eilen, da Philoktet seine bisherige Stärke (ἀλκά) nicht mehr in Händen halte; eine wehmütige Selbstansprache v. 1152 rundet das Bild des verzweifelten Helden. Daraufhin wendet sich Philoktets Blick erneut den Tieren zu: Diese könnten nun unbesorgt herumkriechen – er stelle in seinem lahmen Zustand keine Gefahr mehr für sie dar –, ja, selbst zur Rache am eigenen Leib fordert er die Tiere indirekt auf, da er sein Leben ohnehin in Kürze verlieren werde. In zwei Fragen gibt er die Begründung dieser hoffnungslosen Zukunftsperspektive: Woher solle der nötige Lebensunterhalt kommen? Und wer könne sich selbst ernähren, wenn er über nichts mehr verfüge, das die lebensspendende Erde hervorbringt?
Dem vernichtenden Bild des dem sicheren Untergang Geweihten setzt der Chor in seiner Erwiderung v. 1163ff. geradezu eine Einladung entgegen. Philoktet solle sich, so die Aufforderung der Choreuten, nähern, wenn er dem Fremden, d.h. dem Chor, gegenüber die nötige Ehrfurcht habe (εἴ τι σέβῃ). Dieser jedenfalls sei ihm ein Nachbar in aller Wohlgesonnenheit. Allerdings solle Philoktet wissen, dass es an ihm liege, dem so sicher scheinenden Verderben zu entfliehen: Jammervoll sei es, dieses Verderben zu nähren (βόσκειν v. 1167), Philoktet dagegen unkundig, das damit einhergehende vielfache Leid zu ertragen.12
Erst an diesem Punkt (v. 1169), d.h. nach knapp 90 Versen des einseitigen lyrischen Austauschs, wird Philoktet zum ersten Mal auf die Einlassungen des Chors reagieren. Der erste, statische Teil des Kommos hat damit sein Ende gefunden. Machen wir uns daher kurz bewusst, was die lyrische Passage bis zu diesem Einschnitt geprägt hat. In ausgreifenden und hochemotionalen Beiträgen kreiste Philoktet um das für ihn zentrale und folgenschwere Ereignis des scheinbar endgültigen Bogenverlustes, auf dessen Grundlage sich die Einschätzung seiner Situation in bisher unbekanntem Maß dramatisiert hat. Während dabei die Angst, nunmehr der gewohnten Nahrungsbeschaffung nicht mehr nachgehen zu können und dadurch entweder dem Hunger oder den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert zu sein, als Grundthema in allen Strophen anklingt, entfaltet Philoktet ein weites Panorama größtenteils bereits bekannter Motive: seine Wohnsituation und Einsamkeit, die erlittene Täuschung, der Hass auf Odysseus sowie das nahende Ende des eigenen Lebens. In einen Dialog mit dem Chor tritt er dabei nicht ein; auf die teils moralisierend-mahnenden, teils richtigstellenden Einwürfe des Chors zeigt der Protagonist keine erkennbare Reaktion. Vielmehr verharrt er in einer geradezu monologischen Versunkenheit, die die Rolle seiner eigenen Person im lokalen, personalen und zeitlichen Rahmen der Handlung grell ausleuchtet.
Das sich anschließende Gespräch mit dem Chor können wir hinsichtlich der in ihm behandelten Thematik kurz zusammenfassen: Philoktet wendet sich in den Versen 1169ff. zum ersten Mal direkt an die Choreuten, wirft ihnen vor, ihn an das alte Leid erneut zu erinnern, und fragt sie sichtlich erregt, warum sie ihn zu Grunde gerichtet und was sie ihm angetan hätten, als sie planten, ihn in das ihm verhasste Troia zu bringen (v.1175). Diese Überführung des Helden sei, so die Schiffsleute, allerdings die aus ihrer Sicht beste Lösung (v. 1176). Philoktet fordert daraufhin den Chor auf, ihn zu verlassen (v. 1177). Dieses Ansinnen des Protagonisten scheint ganz der Intention der Schiffsleute zu entsprechen (φίλα ταῦτα παρήγγειλας ἑκόντι v. 1177f.). Schon fordern sie einander zum Abtritt auf (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), da unterbricht sie Philoktet: Unter dem Anruf des Zeus erbittet er von ihnen, nicht fortzugehen (μὴ ἔλθῃς), sondern hier zu bleiben (μείνατε). Das Gespräch erreicht an dieser Stelle (v. 1180ff.) einen ersten Höhepunkt: Nachdem die Absicht des Chors, nun den Ort des Geschehens zu verlassen, die Szenerie unversehens dynamisierte und das vermeintliche Ende der Gesprächssituation in Aussicht stellte,13 wendet sich hier die Situation erneut. Philoktet scheint in seinem Sprechen ganz seinen Emotionen und dem ihn überkommenden Leid zu folgen, eine rationale Auseinandersetzung mit ihm ist unmöglich. Der rasche Sprecherwechsel unserer Stelle (vgl. v.a. v. 1181ff.) steht dabei in wirkungsvollem Kontrast zu den ausgreifenden Redepartien des ersten Teils. War dort die an den Tag gelegte Emotionalität besonders von eher distanzierter Betrachtung und Reflexion geprägt, so entlädt sie sich nun in kurzen, konkrete Handlungen in den Blick nehmenden Anrufen.
Philoktet bricht trotz der Mahnung des Chors, sich zu mäßigen, in Vers 1186 in eine erneute Wehklage aus, die nach der Anrufung seines δαίμων und seines Fußes in der Bitte an den Chor gipfelt, nun wiederzukommen. Die vorsichtig optimistische Frage des Chors v. 1191 nach einer möglichen Meinungsänderung sowie dem weiteren Vorgehen wird von ihm allerdings zurückgewiesen: Jemandem, der von wildem Schmerz geplagt werde, dürfe man nicht zürnen, selbst wenn er gleichsam von Sinnen klage. Der Aufforderung des Chors, sich nach seinen Anweisungen in Bewegung zu setzen (v. 1196), erteilt der Protagonist eine entschiedene Absage: Mit größtem Nachdruck betont er, selbst wenn Zeus ihn mit den Strahlen seines Blitzes nach Troia senden wolle, nicht zu folgen. Ilion und alle Untergebenen des Odysseus, die ihn damals aussetzten, sollten, so der Wunsch des entschlossenen Helden, zu Grunde gehen. Eine Bitte richtet Philoktet daraufhin an die Schiffsleute des Neoptolemos: Ihn verlangt, wie das folgende Wechselgespräch (v. 1204–1211) herausstellt, nach einem Schwert, einem Beil oder einer sonstigen Waffe, mit der er sich selbst töten könne, um so seinen Vater im Hades aufzusuchen. Prägnant fasst Philoktet dabei sein momentanes Trachten in Vers 1209 zusammen: φονᾷ φονᾷ νόος ἤδη „Nach Mord, nach Mord steht mir schon der Sinn!“ Wie schon in den Versen 1180ff., so intensiviert sich auch an dieser Stelle das Gespräch: Die teilweise extrem kurzen Zwischenfragen des Chors (v. 1204, 1206, 1210, 1211) lassen den Eindruck einer hastigen, geradezu fieberhaften Kommunikation entstehen, die von den stürmischen und wild auffahrenden Einwürfen des Protagonisten geprägt ist. Mit Vers 1213 scheint bei Philoktet dagegen die Resignation erneut die Oberhand zu gewinnen. Ein Anruf seiner Heimatstadt, die er, nachdem er sie als Unterstützer der verhassten Danaer verließ, wohl nie wieder zu Gesicht bekommen werde, gipfelt in den niederschmetternden Worten ἔτʼ οὐδέν εἰμι (v. 1217) „Darüber hinaus bin ich nichts mehr“. Dass Philoktet nach diesen Worten in seine Höhle geht und damit das unmittelbare Bühnengeschehen verlässt, zeigen die späteren Aufforderungen des Neoptolemos v. 1261f. Halten wir daher fest: Die ausgreifende lyrische Passage mündet an unserer Stelle in den Abtritt des Protagonisten, nachdem bereits in den Versen 1177ff. das Abtreten des Chors unmittelbar bevorstand. Mit Philoktets Abgang hat die prägende Gestalt der vorangegangenen Szene das Geschehen verlassen und die außergewöhnliche Gesprächssituation so ein Ende gefunden.
Die Passage soll nun als Ganze in den Blick genommen werden. Motivisch schöpft der Wechselgesang in beiden Teilen aus den Monologen des Protagonisten in der vorangegangenen Szene. Anders gesagt: Etwas wesentlich Neues teilt Philoktet nicht mit. Die teilweise begrifflichen Reminiszenzen an die vorangegangene Szene sind dabei offensichtlich; es genügt, die folgenden Punkte aufzuzählen: Der Anruf der Felsenbehausung zu Beginn des Wechselgesangs (v. 1081f.) nimmt Vers 952 wieder auf; das nunmehr problematische, d.h. gefahrvolle Verhältnis Philoktets zu den ihn umgebenden Tieren, wie es im Besonderen die zweite Gegenstrophe verbalisiert, war bereits in den Versen 956ff. ähnlich drastisch geschildert worden; die vernichtende Selbsteinschätzung, nunmehr dem Tode näher zu sein als dem Leben, ja geradezu nichts mehr zu sein (v. 1217), fand ihren prägnanten Ausdruck bereits in Vers 951. Die Bitte des Protagonisten an die Schiffsleute um eine geeignete Waffe zur Selbsttötung (v. 1204ff.) spiegelt dazu die Androhung Philoktets in den Versen 999ff., sich in den Tod zu stürzen, wenn auch die unmittelbare Gefahr für das Leben des Helden an der früheren Stelle wesentlich virulenter war.
Es dürfte bereits aus diesen Andeutungen klar geworden sein: Der Wechselgesang setzt die vorangegangenen Monologe des Protagonisten motivisch fort14 und stellt zugleich mit seinem statischen ersten Teil einen Kontrapunkt zur belebten vorangegangenen Szene dar. Nach der überraschenden Einschaltung des Odysseus in die Bühnenhandlung und dem aktionsreichen Rededuell zwischen ihm und dem Protagonisten kehrt so zunächst Ruhe ein. Die Gesprächssituation Protagonist-Chor ist im Ablauf der Tragödie dabei einmalig und markiert den vorliegenden Kommos als besonderen emotionalen Höhepunkt des Stückes. Seine Ausdehnung (über 130 Verse) ermöglicht die wort- und effektreiche Beleuchtung der zutiefst verfahrenen Situation. Wie gesehen, versenkt sich Philoktet dabei zunächst ganz in die Klage über das erlittene Unrecht und stellt in einem umfassenden Blick sich und seine hoffnungslose Lage dar. Die Kommunikation mit dem Chor ist dabei einseitig: Auf die Bemerkungen der Schiffsleute geht Philoktet nicht ein, sondern setzt seine Klage geradezu monologisch fort.
Der zweite, wesentlich dialogischere und aktivere Teil des Kommos greift die abgeklungene Dynamik wieder auf: Mit dem Spiel um den Abgang des Chors und der effektvollen Meinungsänderung Philoktets kommt einige Aktion auf die Bühne. Die Schlusspartie der Passage entfaltet daraufhin erneut das bereits mehrmals angeklungene Todesmotiv und mündet dabei in den spannungsreichen Abtritt des Protagonisten. Die energische lyrische Partie findet so einen dramatischen, d.h. aus dem Geschehen selbst motivierten, Endpunkt.
Dabei entsprang die Belebung des zur Ruhe gekommenen Bühnengeschehens in Vers 1169 der Initiative des Protagonisten, d.h. sie erwuchs aus der lyrischen Partie selbst. Nicht die Einschaltung eines weiteren Akteurs leitete nach dem statischen und wenig handlungsintensiven Passus der Verse 1081–1168 zum eigentlichen Fortgang der Handlung über,15 sondern die dem Impetus Philoktets entspringende Wendung zum Chor sowie die damit einhergehenden Aufforderungen zum Abtritt bzw. Bleiben. Philoktet dominiert so erneut die lyrische Passage, die durch sein Sprechen und Handeln zu einer besonders dynamischen und betont brisanten Liminalszene wird.
Die motivische Bündelung an unserer Stelle entfaltet erneut ein Panorama der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Philoktets und erlaubt so einen letzten ausführlichen Blick auf die Lebensumstände und die vermeintliche Zukunft des Haupthelden.
Beim Blick auf die Binnenstruktur der chorischen Partien innerhalb der Tragödie fällt ein besonderes Moment der Kompositionsabsicht ins Auge: Die vorliegende letzte Chorpartie des Dramas korrespondiert hinsichtlich der Gesprächssituation und Thematik in besonderer Weise mit der Parodos als der ersten chorischen Passage und beantwortet sie als deren Gegenstück. Unterhielten sich nach dem Prolog des Dramas die Schiffsleute mit Neoptolemos über Philoktet, seine Lebensumstände und sein Schicksal, so ist hier der Protagonist selbst Gesprächspartner und zugleich inhaltlicher Hauptbezugspunkt. Die Rollenverteilung zwischen Chor und Akteur ist dabei geradezu vertauscht: In der Parodos waren die Aussagen des Chors von Mitleid und Anteilnahme geprägt, während Neoptolemos versuchte, durch das Aufzeigen konkreter Handlungsempfehlungen und den Verweis auf das göttliche Wirken in Philoktets Schicksal eine abgeklärtere Position einzunehmen. Die Dominanz des Chors und seiner emotionalen Ausleuchtung war dabei gerade durch das eingeschobene rein chorische Strophenpaar (v. 169–190) offensichtlich, entfielen doch von den über 80 Versen der Passage nur rund 24 auf Neoptolemos. An unserer Stelle nun ist es der Protagonist, d.h. der dem Chor gegenüberstehende Akteur, dessen emotional aufgeladenes Selbstmitleid mit der zur Mäßigung ratenden Einordnung des Chors kontrastiert. Dementsprechend überwiegt hier, wie oben schon bemerkt, der Redeanteil Philoktets deutlich.
Ein weiterer Vergleichspunkt bietet sich an: In der Parodos stand das Auftreten des Protagonisten unmittelbar bevor und wurde besonders von den Choreuten mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und einer Art von Neugierde bzw. Schaulust erwartet. Das Herannahen der Schritte belebte dabei die ausgreifende Reflexion im Mittelteil der Passage in Vers 201ff., worauf das Rufen Philoktets seinen Auftritt in greifbare Nähe rücken ließ. Das vernehmliche ἰὼ ξένοι (v. 219) beendete schließlich die Parodos und damit das Gespräch zwischen Neoptolemos und seinen Schiffsleuten. Die Parodos bereitete so den Auftritt des Protagonisten und damit den Beginn der im Prolog intendierten Intrigenhandlung vor. Ihre ‚Stretta‘ ab Vers 201 ließ sie dabei zu einer geradezu gedoppelten Liminalszene werden: Nicht nur wurde zu Beginn der Partie der Auftritt des Chors ereignis- und effektvoll in Szene gesetzt, ihren eigentlichen Kulminationspunkt fand sie im Erscheinen des Protagonisten.
Der Kommos an unserer Stelle spielt erneut mit der Bühnenpräsenz des Protagonisten: Nachdem der Auftritt des Odysseus in der vorangegangenen Szene der dominierenden Präsenz Philoktets einen natürlichen Widerpart entgegensetzte, ist die lyrische Partie, wie gesehen, ganz von Philoktet bestimmt. Sein Abtritt ist der effektvolle Schlusspunkt der lyrischen Passage, die damit die ausgreifende und ununterbrochene Szene schließt, die mit dem Erwachen des Haupthelden v. 865 begonnen hatte.16
Die durchgehende Lyrisierung der Partie (in der Parodos kamen Neoptolemos bis auf die kurzen Beiträge im abschließenden Strophenpaar nur anapästische Verse zu) unterstreicht dabei die gesteigerte Emotionalität und Brisanz.
Aus der Perspektive des mit dem Mythos in Grundzügen vertrauten Zuschauers bildet der Kommos die spannungsreiche Einleitung der Schlusspartie des Stücks. So ist mit dem Abtritt des Protagonisten die Handlung zu einem Ruhepunkt gelangt, der allerdings nicht das Ende der Tragödie darstellen kann: Letztlich – so das Vorwissen des informierten Betrachters – wird Philoktet doch mit nach Troia fahren und dort seinen Beitrag zur Einnahme der Stadt leisten. Wie allerdings die Situation innerhalb der Tragödie aufgelöst werden kann, ist nach der umfangreichen lyrischen Partie nicht abzusehen. Eine Versöhnung des Haupthelden mit Odysseus scheidet nach der im Kommos deutlich herausgestellten Verbitterung Philoktets jedenfalls aus. Sophokles forciert so an unserer Stelle gerade durch den scheinbar endgültigen Abtritt des Protagonisten den Fortgang der Handlung. Eine weitere grundlegende dramaturgische Funktion der umfangreichen und sowohl formal wie auch emotional herausragenden lyrischen Partie ist damit bestimmt: Sie fordert die Erwartungshaltung des Publikums in besonderem Maß heraus. Was zunächst geradezu als lyrisches Anhängsel an die vorangegangene Szene wirkte, wird so zur effektvollen und spannungsreichen Einleitung der Schlusspartie der Tragödie.
Exodos (v. 1222–1471)
Bis auf die zu einem gewissen Grad standardisiert zu nennenden Schlussverse der Tragödie (v. 1469–1471) meldet sich der Chor bzw. der Chorführer in der letzten Szene des Stückes nicht mehr zu Wort. Diese signifikante Zurückhaltung erstaunt zunächst, war doch der Chor im bisherigen Verlauf der Tragödie beständiger Gesprächspartner in groß komponierten lyrischen Dialogszenen (Parodos, Austausch mit Neoptolemos im „Schlaflied“, Kommos mit Philoktet) und auch in den Sprechpartien durch kommentierende Einschätzungen präsent (so z.B. v. 317f., 522f., 1045f.). Das erste Epeisodion hatte zudem gezeigt, wie sogar lyrische Partien in den Handlungsablauf integriert werden können. Die Schlusspartie der Tragödie spielt sich nun ganz ohne die Einschaltung des Chors ab. Wie lässt sich dieser bewusste Verzicht auf jegliche chorische Einschaltung gerade aus dramaturgischen Gesichtspunkten nachvollziehen?
Machen wir dazu die folgenden Punkte klar: Die Exodos der vorliegenden Tragödie ist von ausgreifender Länge (rund 250 Verse) und dabei durch das Auf- und Abtreten der Akteure in sich gegliedert (Auftritt von Neoptolemos und Odysseus v. 1222, Abtritt bzw. Verbergen des Odysseus v. 1258, Auftritt Philoktet v. 1263, Wiederauftritt Odysseus v. 1293, Abtritt desselben v. 1298, Erscheinen des Herakles v. 1409). Die Handlung ist dabei von unerwarteten Umschwüngen und erheblicher Brisanz geprägt: Nachdem Odysseus von Neoptolemosʼ Absicht gehört hat, Philoktet den Bogen zurückzugeben, droht er mit Waffengewalt, was Neoptolemos erwidert (v. 1254ff.). Philoktets Wiedererscheinen steht in Kontrast zu seinem als endgültig inszenierten Abgang am Ende des Kommos und gipfelt in der offenen Auseinandersetzung mit dem mittlerweile wieder auf der Bühne präsenten Odysseus (v. 1299ff.). Auch hier droht die Situation zu eskalieren: Die Androhung Philoktets, Odysseus mit einem Pfeil zu töten, präsentiert den Protagonisten in wiedererlangter Stärke. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihm und Odysseus sind mit Blick auf die Fesselungsszene (v. 1003ff.) gerade entgegengesetzt. Der Bedrohte entzieht sich der Situation durch Flucht. Mit Neoptolemosʼ Monolog (v. 1314–1347) und der Antwort des Protagonisten (v. 1348–1372) kehrt vorübergehend etwas Ruhe ein. Das anschließende stichomythische Wechselgespräch der beiden (v. 1380–1392) und der Austausch in trochaeischen Tetrametern v. 1402–1408 beleben die Szenerie erneut und entwickeln eine besondere dramatische Sogwirkung: Das Ende der Handlung steht nun endgültig bevor, nachdem Odysseus seinen Einfluss auf Philoktet und Neoptolemos gänzlich verloren zu haben scheint. Die Erscheinung des Herakles schließlich ist geradezu die Überbietung der an Wendungen und Umschwüngen reichen Schlussszene: Erst durch die Epiphanie des Halbgottes kommt das Bühnengeschehen endgültig zur Ruhe, die klaren Anweisungen ordnen das weitere Vorgehen, deuten die Handlung abschließend und geben einen Ausblick auf die kommenden Geschehnisse um Troia.
Das Bühnengeschehen innerhalb der Exodos ist, wie gesehen, von einiger Aktion geprägt und entfaltet durch seine unerwarteten Wendungen eine besonders mitreißende Dynamik. Das Fehlen chorischer Äußerungen unterstreicht dabei ein besonderes Moment der dramatischen Gestaltung: Die aktionsreiche Darstellung lässt schlichtweg keine Zeit für eine reflektierende oder auch nur motivisch vertiefende Anmerkung des Chors, der in das eigentliche Handlungsgeschehen sowieso nicht mehr eingebunden ist. Anders stellte sich die Situation noch zu Beginn der Tragödie dar, als die Mithilfe der Schiffsleute bei der Täuschung des Haupthelden ein wirklicher Bestandteil der Handlung war. Im Schlussteil der Tragödie dagegen entwickelt sich die Handlung ausschließlich im engen Personengeflecht zwischen Neoptolemos, Odysseus, Philoktet und Herakles, ohne dass dem Chor noch eine signifikante Rolle zukäme.1 Wenn dabei der Chor geradezu als Unbeteiligter dem Geschehen folgt und keine wahrnehmbare Einmischung zeigt, unterstreicht dies die rasche und in einigen Punkten nicht vorauszusehende Handlungsentwicklung. Anders gesagt: Der völlige Verzicht auf chorische Beteiligung verschiebt den dramatischen Fokus ganz auf das Beziehungsgeflecht der Akteure untereinander und bündelt die Aufmerksamkeit auf die finale Lösung des Konflikts.
Zugleich wertet der Verzicht auf eine chorlyrische Passage innerhalb der Exodos den vorangegangenen Kommos mit dem Protagonisten auf und verleiht ihm im Nachhinein besonderes Gewicht: Der expressive und ausgreifende Wechselgesang ist die letzte Chorpartie der Tragödie. Die abschließenden Verse 1469–1471 fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Das im Austausch mit Philoktet erreichte Maß an Emotionalität, Bühnenwirkung und Spannung wird gerade nicht durch eine erneute lyrische Partie beantwortet, sondern findet seine Fortsetzung und schließlich seine Auflösung im konkreten Handlungsgeschehen. Im Sinne des ökonomischen Einsatzes chorischer Partien und ihrer Binnenstruktur über die ganze Tragödie hinweg setzt Sophokles mit dem Kommos so den bewussten Schlusspunkt chorischer Beteiligung, der als motivischer und szenischer Kulminationspunkt unübertroffen, ja: unangetastet bleibt.
Auf die Schlussverse der Tragödie wurde mehrmals hingewiesen. Sie sind im besten Sinne konventionell zu nennen und zeugen doch von der besonderen Gestaltungsabsicht des Dichters. Beleuchten wir kurz ihre Einbindung in die Situation: Nachdem Philoktet die Stimme seines Freundes Herakles als solche erkannt hat (v. 1445ff.), bekundet er, den gegebenen Anweisungen Folge leisten zu wollen, d.h. sich nun nach Troia zu begeben und dort die Griechen bei der Eroberung der Stadt zu unterstützen. Dem schließt sich Neoptolemos in einer kurzen Bemerkung (v. 1448) an, worauf Herakles zu schnellem Handeln mahnt. Philoktet nimmt daraufhin in einem letzten Monolog (v. 1452–1468) von seiner Behausung und der Insel Lemnos Abschied und bittet um die Begünstigung der unmittelbar bevorstehenden Seefahrt. Die drei Verse des Chors rufen daraufhin zunächst zum gemeinsamen Aufbruch; betont schließen sich dabei die Choreuten selbst ein (χωρῶμεν) und leiten damit den Abgang des gesamten dramatischen Personals ein. Diesem Auszug vorausgehen bzw. ihn begleiten soll die Anrufung der Meernymphen, denen als „Retter“ (σωτῆρας) die Sorge um den günstigen Ausgang der Heimfahrt obliegt. Dieses chorische Echo der Aussagen des Protagonisten schließt die Tragödie.
Machen wir uns klar: Als einzige der überlieferten Tragödien unseres Autors schließt der Philoktet mit einer konkreten Handlungsanweisung, durch die der Chor seinen unmittelbar bevorstehenden oder schon eingeleiteten Abgang kommentiert. Die Konventionalität der Verse liegt dabei in ihrer kurzen, coda-artigen Prägnanz, die mit Verweis auf göttliche Mächte das Geschehen abzuschließen sucht. Ihren besonderen Reiz entfalten die scheinbar so beliebigen Verse durch ihre Positionierung am Ende der Szene und im Anschluss an Philoktets letzten Monolog. Dieser hatte sich dabei zum letzten Mal direkt an die ihn umgebende Natur, seine Wohnstatt und die Insel gewandt, wobei er das Ungemach seines Aufenthalts auf Lemnos in zwei kurzen Reminiszenzen aufleuchten ließ (die Erinnerung an das Tosen des Meers und den damit einhergehenden, Regen mit sich führenden Südwind v. 1455ff. sowie das Echo des eigenen Klagens v. 1458ff.). Die folgenden Anrufungen der Quellen (v. 1461), des „lykischen Tranks“2 (v. 1461) sowie der Insel Lemnos selbst (v. 1464) sind erneut ganz von der Hoffnung auf den bevorstehenden Aufbruch geprägt. Die Freude geht sogar so weit, den lemnischen Boden selbst aufzufordern: „Schicke mich zufrieden in glücklicher Fahrt!“ (v. 1465). Philoktet scheint sich an diesem Punkt nach der Einwirkung des Herakles mit der Insel geradezu versöhnt zu haben, die bald resignierende, bald aggressive Stimmung des Kommos hat sich hier am Ende der Tragödie aufgelöst.
Der Wechselgesang des Protagonisten mit dem Chor dient dabei der unmittelbaren Schlusspartie (v. 1452–1471) des Dramas als motivische Folie, auf der sich die schlagartig veränderte Stimmung wirkungsvoll abheben kann. An zwei Momenten lässt sich die Verwandtschaft der Szenen und die zu Grunde liegende Kompositionsabsicht aufzeigen: Die Anrufungen der unmittelbaren Umwelt als gliederndes und prägendes Moment bestimmen die Struktur beider Partien (vgl. v.a. die Ansprache der Behausung v. 1081ff. sowie v. 1453). Mit der Aussichtslosigkeit des Kommos, an Ort und Stelle bleiben zu müssen, kontrastiert hier die freudige Erwartung; aus dem verzweifelten Anruf des gewohnten Umfelds ist der hoffnungsvoll-versöhnte Abschiedsgruß geworden.
Die Ankündigungen des eiligen Abgangs reihen sich des Weiteren in die Kette der scheinbar unmittelbar bevorstehenden Abfahrten und Abtritte (so v. 461ff., v. 637, v. 1408), setzen allerdings durch die bewusste Selbstaufforderung des Chors im Besonderen die Motivik des Kommos (v. 1177ff.) fort. Hatte dort der Chor willig in die Bitte Philoktets, ihn zu verlassen, eingestimmt (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), um schließlich von ihm zurückgerufen zu werden, so kommen die Choreuten am Schluss der Tragödie erneut den Aufforderungen Philoktets nach. Diesmal allerdings setzen sie sich mitsamt den Akteuren in Bewegung und verlassen tatsächlich den Ort des Geschehens. Das in der lyrischen Partie virulente Spiel mit Abtritt und Bühnenpräsenz findet so am Schluss der Tragödie seinen natürlichen Zielpunkt.
Es ist demnach alles andere als Zufall oder reine Konvention, dass der Chor mit seinen Schlussversen auf den Monolog des Protagonisten antwortet: Mit dem chorischen Echo ist neben der Motivik sowohl die Gesprächssituation als auch die zielgerichtete Funktion des Kommos – wenn auch kurz – in Erinnerung gerufen und beantwortet. Der Anteil des Chors in dieser finalen Liminalszene der gesamten Tragödie ist dabei so gering wie möglich, erlaubt allerdings doch die Reminiszenz an die umfangreichste chorische Partie des Dramas.