Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 9
Es wird nun nötig sein, den unmittelbaren Kontext des Liedes und seine Wirkung zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll zunächst noch einmal der Aufbau des Liedes rekapituliert werden.
Nach dem abrupten Beginn mit seinem Bezug auf Ixion konkretisiert die erste Strophe den dramatischen Bezug: Als Rahmenthema der folgenden Reflexion ist das unverhältnismäßige Leid des Protagonisten abgesteckt, dessen Schilderung den Mittelteil des Stasimons darstellt. Dabei sind die Einsamkeit und die konkreten Entbehrungen hinsichtlich der Versorgung mit Nahrung die zentralen Motive. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Schilderungen versteht der Chor als der Vergangenheit zugehörig, wohingegen die zweite Gegenstrophe die grundsätzliche Wende des Geschehens thematisiert. Ganz in der imaginierten Szene aufgehend verschiebt der Chor dabei seinen Fokus vom unmittelbar greifbaren Umfeld, d.h. der konkreten Bühnensituation als dem Ort von Philoktets Vergangenheit, hin zur außerhalb des lokalen Rahmens liegenden Heimat des Protagonisten.
Innerhalb der ausgreifenden Imagination des Mittelteils erfahren wir also nichts wesentlich Neues. Vielmehr können wir sogar sagen: Sämtliche Motive, die im Stasimon ihre Ausgestaltung finden, sind im bisherigen Verlauf der Tragödie zumindest angeklungen, wenn ihnen nicht sogar zentrale Bedeutung zukam. Dabei fallen zunächst die zum Teil begrifflichen Bezüge zur Parodos ins Auge. Die Einsamkeit des Helden war schon in der Auftrittsszene des Chors bestimmendes Thema: Mit dem programmatischen μόνος (v. 688) ist ein Zentralbegriff dieser Partie (v. 172 sowie 182) wieder aufgenommen. Zudem wiederholt die Partizipialkonstruktion οὐκ ἔχων […] τινʼ ἐγχώρων (v. 691) die Wortwahl der Parodos, in der es hieß μή […] σύντροφον ὄμμʼ ἔχων (v. 170f.). Die Schilderung des Anfalls liest sich vor diesem Hintergrund geradezu als Konkretisierung der in der Parodos konstatierten νόσος ἀγρία (v. 173) und ὀδύναι (v. 185). Die dort aufgeworfene Frage nach dem schier unermesslichen Durchhaltevermögen des Protagonisten πῶς ποτε πῶς […] ἀντέχει (v. 175f.) findet ihr Echo in Vers 687ff.: πῶς ποτε πῶς […] κατέσχεν. Das einleitende τόδε […] θαῦμά μʼ ἔχει ist dabei die späte Antwort auf Neoptolemosʼ entschiedenes οὐδὲν τούτων θαυμαστὸν ἐμοί v. 192. Weitere bereits in der Parodos angedeutete Nebenmotive und Parallelen sind außerdem das jammernde, widerhallende Klagen des Protagonisten (στόνος ἀντίπυρος ἀντίτυπος) schon in v. 186ff., 208f., 216f. und das Bild des kriechenden Helden aus v. 206f. (unter Wiederholung des Begriffs ἕρπω in v. 701, während das drastische εἰλυόμενος v. 702 Philoktets eigene Wortwahl εἰλυόμην aus v. 291 widerspiegelt).
Auch die Nahrungsproblematik war bereits im Auftrittslied des Chors angesprochen worden (Neoptolemosʼ Erklärung v. 164f. sowie λιμῷ v. 186); die konkrete Ausgestaltung im Standlied speist sich dagegen im Einzelnen aus der Schilderung des Protagonisten, die er in den Versen 287ff. gegeben hatte (vgl. v.a. die Angabe γαστρί v. 287 sowie 711 und die Thematisierung der Trankbeschaffung v. 292ff.). Dass dabei Philoktet auf Lemnos keine „helfende Hand“ zur Seite stand (v. 694ff.), hatte er in seiner umfassenden Schilderung der eigenen Situation bereits selbst angedeutet (v. 280ff.).
Auch der zweite ausführlichere Monolog des Protagonisten (v. 468–506) dient dem Chorlied geradezu als motivische Fundgrube: So sind die geographischen Details – der Fluss Spercheios sowie das Oita-Gebirge – am Ende des Liedes bereits in Philoktets Bitte v. 488ff. genannt worden.
Eine subtilere Reminiszenz innerhalb des Stasimons erfährt des Weiteren die im direkt vorangegangenen Gespräch virulente Bogenthematik. So entsprechen die Aussagen zur Nahrungsbeschaffung mit Hilfe der Waffe in der zweiten Strophe (v. 710f.) zwar durchaus der von Philoktet selbst gegebenen Schilderung, wiederholen damit die bereits etablierte Motivik und Bildersprache und insinuieren in keiner Weise einen direkten Bezug auf die Bedeutungsaufladung, die das Requisit im ersten Epeisodion erfahren hat. Andererseits stellt die prominente Bezugnahme auf die Apotheose des Herakles am Ende des Liedes einen – wenn auch zunächst vielleicht nicht direkt greifbaren – Bezug zur Bogenthematik dar: Mit dem Wissen um die Vorgeschichte der Waffe als eines Geschenks an Philoktet für dessen aktives Einschreiten bei der Verbrennung des Herakles (v. 801f.) erscheint die Schlussszene des Liedes in neuem Licht. Sie fungiert so nicht mehr als kontextfreier, mythologischer Abschluss eines Liedes, das seinen Fokus vom unmittelbaren dramatischen Geschehen abgewendet hat. Vielmehr berührt das Lied in dieser Partie ein zentrales Motiv der Tragödie in imaginativ-assoziativer Manier und leistet einen Beitrag zur unterschwelligen Heraklesthematik der Tragödie,35 die im Auftritt des Vergöttlichten in Vers 1409 kulminieren wird.36
Es ist klar geworden: Das Stasimon verarbeitet und intensiviert unter leichter Verschiebung der Perspektive Motive aus zentralen Partien der Tragödie teils expressis verbis, teils auf subtile Weise, die erst ein Blick über die gesamte Tragödie und die ihr zu Grunde liegenden Motivstränge zu Tage fördert. Das Lied beantwortet als rein chorische Passage im Besonderen die Parodos als bisher längste lyrische Partie sowie den Bericht des Protagonisten v. 254–316. Von entscheidender Bedeutung ist bei dieser Spiegelung und Wiederaufnahme die zeitliche Einordnung: Der Chor bezeichnet bewusst einen Wendepunkt innerhalb des Geschehens, indem er die Bündelung und drastische Ausarbeitung entscheidender Motive als Blick in die Vergangenheit inszeniert, dem eine dezidierte Zukunftsaussicht entgegengestellt wird. Das Standlied füllt so den nach dem Abgang der Akteure erreichten Ruhepunkt mit einer Gesamtschau über das Drama, wie es sich bis zu diesem Punkt ereignet hat. Dieser herausgehobenen Funktion entspricht seine bewusste Positionierung im Rahmen der Binnenstruktur der chorischen Partien: Es markiert mit seinem Panorama bewusst die Mitte der Tragödie37 und kontrastiert mit den im ersten Epeisodion eingepassten Strophen. Während diese jeweils zur Intensivierung des aktuellen Moments dienten und dabei nur einen begrenzten argumentatorischen bzw. emotionalen Aspekt entfalteten, bietet das Lied an unserer Stelle einen umfassenden, die unmittelbaren Grenzen des Bühnengeschehens übersteigenden Rundumblick. In diesem Sinn bereitet es Zuschauer und Leser auf eine Wende innerhalb des Geschehens vor:38 Es markiert die Gelenkstelle der Handlung durch motivische Engführung im Rahmen einer sinnstiftenden Einteilung des Geschehens in Vergangenheit und Gegenwart/Zukunft.
Seine besondere dramaturgische Brisanz erfährt das Stasimon aus der bewussten Differenz zwischen dem in ihm ausgedeuteten Zeitverhältnis und dem unmittelbaren Zusammenhang innerhalb des Handlungsverlaufs. Konkret gesagt: Das Wissen des Zuschauers um die dramatische Situation mitsamt der zu ihrem Höhepunkt entwickelten Intrige macht ein affirmatives Nachvollziehen der chorischen Ausdeutung schwierig, geradezu unmöglich. Dabei fällt nicht nur die umstrittene zweite Gegenstrophe aus dem Rahmen. Schon der Blick in die Vergangenheit, wie ihn das Stasimon entwirft, ist dabei problematisch: So entspricht das hier in den ersten drei Strophen gezeichnete Bild des Protagonisten nur zum Teil der im Drama bisher erlebten Präsenz. In seiner ausführlichen Drastik und Zentrierung auf das Leid stellt es einen leichten Gegenpol zum bereits zitierten Monolog des Helden (v. 254–316) dar, der – neben Klage und Jammer – den Fokus eher auf die Bewältigung der einzelnen Probleme legte.39 Anders gesagt: Philoktet war auf der Bühne zwar durchaus als Leidender präsent, die ausgreifende Farbigkeit und Drastik entspringt allerdings an unserer Stelle – wie schon in der Parodos – der Imagination des Chors und hat keinen direkten Rückhalt im dramatischen Spiel. Diese subtile Akzentverschiebung findet ihren Gegenpart im Ausblick auf die Zukunft: Dass Philoktet nun „glücklich und groß“ aus den gegenwärtigen Übeln hervorgehen werde, entspricht genauso wenig der Erwartung des informierten Zuschauers und der sich anschließenden Szene wie die drastische Zeichnung der Vergangenheit der bisherigen Realisierung von Philoktets Leid auf der Bühne. Das reale, d.h. dramatische Zeitverhältnis, ist im Vergleich zum Stasimon gerade umgekehrt: Während die Bühnenhandlung bis jetzt einen zwar leidenden, jedoch standhaften und ausdauernden Philoktet inszeniert hat, gehört der vom Stasimon im Rahmen einer Vergangenheitsschau geschilderte Ernstfall der Einsamkeit und Hilflosigkeit, d.h. der Krankheitsanfall, der kommenden Szene an. Nicht nur, dass damit der optimistische Ausblick schlagartig mit der eindrucksvollsten, emotionalsten und eindringlichsten Szene kontrastiert; die Ausgestaltung der Vergangenheit realisiert sich als entscheidendes, die Peripetie auslösendes Moment der Tragödie in ungeahnter Drastik. Dass dabei dem leidenden Protagonisten bei seinem Anfall ein „Freund“ zur Seite steht, stellt natürlich eine gewisse Abweichung zu dem in der ersten Gegenstrophe präsenten und bestimmenden Einsamkeitstopos dar. Die unverhohlene Anschaulichkeit der Szene ruft allerdings das im Stasimon evozierte Bild in seiner ganzen Wirkmächtigkeit wieder auf, während die von Neoptolemos an den Tag gelegte Hilflosigkeit angesichts der konkreten Phänomene des Anfalls und das völlige Schweigen des Chors bis Vers 827 die Krankheitssituation nur wenig beeinflussen.
Halten wir fest: Die geradezu standardisierte Funktion eines Stasimons, die einbrechende Katastrophe bzw. Wendung auf der Folie einer positiven Zukunftsaussicht umso greller hervortreten zu lassen,40 ist an unserer Stelle meisterhaft erreicht: Das Stasimon forciert den Wendepunkt innerhalb der Tragödie, untergräbt allerdings mit einer eigenen sinnstiftenden Zeitverortung des Geschehens das eigentliche Handlungsgefüge. Die Kontrastierung der unterschiedlichen Bildwelten und Emotionen am Ende des Stasimons (Heimkehr und Größe Philoktets, Vergöttlichung des Herakles) und am Beginn der folgenden Szene (Ausgeliefertsein des Helden an Krankheit, Leiden und Schmerz sowie generelle Hilflosigkeit) potenziert dabei geradezu ihre Wirkung, da die positive Stimmung der Schlussstrophe gerade aus der Negierung just dessen gewonnen wurde, was das folgende Epeisodion inszeniert. Aus einem „nicht mehr“ wird so ein überdeutliches „jetzt gerade“. Das Zeitgefüge der chorischen Reflexion ist damit gebrochen: Die dramatische Realität pervertiert das vom Chor entworfene Deutungsschema, so wie das Lied in seinem Blick in die Vergangenheit bereits die Handlung selbst umgedeutet hatte. Man mag in diesem Zusammenhang von einer geradezu doppelten Pervertierung sprechen.
Im bewussten Auseinanderfallen der dramatischen Sachlage sowie der chorischen Deutung liegt – wenn man sich von anderen Deutungsversuchen distanziert und zudem versucht, den Text des Liedes ohne parallel einhergehendes Bühnengeschehen (Auftritt oder Erscheinen der Akteure41) als chorische Ausdeutung zu lesen42 – die Spannung des Stasimons und letztlich seine dramaturgische Absicht. Es fügt sich nicht in die Erwartungen des Publikums, sondern konterkariert diese bewusst. Die (antiken) Zuschauer werden sich der vorliegenden Ambivalenz und der doppelten Pervertierung bewusst gewesen sein. Geht man neben einer zumindest rudimentären Informiertheit über die Grundstrukturen des dramatisch verarbeiteten Mythos von einer gewissen Vertrautheit mit den basalen Techniken der (sophokleischen) Tragödie, ihren Formteilen und deren genregemäßem Einsatz aus, dann wird man die (freilich unbewiesene und wohl auch unbeweisbare) Hypothese aufstellen dürfen, der Zuschauer im Theater habe ahnen oder gar wissen können: Je positiver der Chor in einer kritischen bzw. ambivalenten Situation die Zukunft zeichnet, desto näher, umfassender und katastrophaler ist die meist im direkten Anschluss folgende Wende. In anderen Worten: Die augenscheinliche Differenz zwischen Bühnenhandlung und chorischer Ausdeutung erlaubt an unserer Stelle einen Blick hinter die dramatische Fiktion – die dennoch nicht aufgehoben ist – und lässt gerade einen informierten bzw. vertrauten Zuschauer die dramaturgische Funktion und den weiteren Fortgang des Bühnengeschehens erkennen.43
Mit diesem Deutungsversuch nehme ich eine mögliche Inkonsequenz innerhalb der Charakterisierung des Chors hinsichtlich seiner Stellung innerhalb der Intrige bewusst in Kauf. Ich stimme in diesem Punkt allerdings ganz BURTON zu, der im Bezug auf „Sophoclesʼ habit of using his choruses as an instrument with which to guide the mind and emotions of his audience in any direction required by the immediate dramatic context“44 anmerkt:
This role of the chorus leads in occasion to inconsistencies between parts of the same song and between one song and another which can only be explained if we always remember the presence of an audience whose thoughts and feelings have to be engaged and directed.45
Dass das Publikum an einer so motivierten Inkonsistenz Anstoß genommen haben könnte, erscheint mir dabei zweifelhaft.
An der grundsätzlichen Einbindung des Chors als Rolle innerhalb des Dramas will diese Ausleuchtung dagegen in keiner Weise rütteln.46 Will man das Verhalten des Chors, genauer: das der Matrosen des Neoptolemos erklären, so wird man sich am besten MÜLLER47 anschließen und von einem Irrtum, d.h. einer falschen Einschätzung der Lage, ausgehen. Diese Anschauung bleibt allerdings für sich gesehen unbefriedigend; die funktionellen, d.h. publikumswirksamen Konsequenzen dieses Irrtums kann erst eine genuin dramaturgische Betrachtung wie die hier vorgelegte erweisen.
Bis zur Hälfte der Tragödie hat Sophokles bereits ein reiches Panorama unterschiedlicher Formen chorischer Präsenz zum Einsatz gebracht: die dialogische Parodos mit anapästischen Einschüben des Neoptolemos und umrahmter Kurzode, die korrespondierenden Strophen innerhalb des ersten Epeisodions sowie das traditionelle Standlied des Chors auf leerer Bühne.
Während dabei die Parodos als dialogische Szene unter Dauerpräsenz des Neoptolemos und die in das erste Epeisodion eingestreuten Strophen sich in den dramatischen Fluss eingeordnet haben, fügt Sophokles an unserer Stelle eine bewusste Pause innerhalb der Handlung ein. Das Stasimon kommt dabei zwischen zwei äußerst dynamischen Szenen zu stehen: Während das vergangene Epeisodion die Annäherung zwischen Neoptolemos und Philoktet unter struktureller Präsenz des Chors inszenierte und die entscheidende Verschärfung der dramatischen Brisanz in Form eines außerszenischen Impulses verwirklichte, wird der kommende Auftritt der Akteure die bisher drastischste Szene der Tragödie darstellen.
Es hat sich bei der Behandlung des Liedes gezeigt, dass Sophokles durchaus standardisierte strukturelle Eigenschaften und Motive eines Stasimons zur Anwendung bringt, die vereinfachend zusammengefasst werden können: Bezug zur Parodos unter Verschiebung der Perspektive; damit einhergehende Intensivierung und gesteigerte Drastik der Motivik, was den dramatischen Handlungsfortschritt abbildet; der unmittelbaren Handlung scheinbar abgelöste Beginn- und Schlussmotivik, dazwischen die ausgreifende Konkretisierung dramatischer Vergangenheit; positive Zukunftsaussicht unmittelbar vor dem Einbrechen der entscheidenden Wende. Die Singularität des Liedes verleiht dabei gerade diesen Strukturmerkmalen die entscheidende Wirkung: Indem die Reflexion des Chors hier zum ersten und einzigen Mal unter Rückgriff auf den bekannten Formenschatz des Stasimons erfolgt, ist die standardisierte Art chorischer Präsenz innerhalb der Tragödie zu einem einmaligen Ereignis geworden. Es konnte dabei gezeigt werden, dass die Verwendung der aufgezählten Merkmale des Stasimons an unserer Stelle durch ihre Einpassung in den dramatischen Kontext und ihre spannungsvolle Bezugnahme aufeinander (v.a. die doppelte Pervertierung innerhalb des Zeitgefüges) eine virulente dramaturgische Funktion erfüllt, die die Aufmerksamkeit des Publikums in besonderer Weise herausfordert.48
(Schlaf-)Lied (v. 827–864)
Kommen wir zum zweiten Epeisodion, das bereits mit dem Wiederauftritt der beiden Akteure einen effektvollen Akzent setzt. Auf Neoptolemosʼ Aufforderung, die Höhle zu verlassen, antwortet Philoktet zunächst nicht (σιωπᾷς κἀπόπληκτος ἔχῃ v. 731). Seine Schmerzensschreie und Klagen (v. 732, 736, 739) wirken daraufhin als Realisierung des im Stasimon thematisierten „widerhallenden Stöhnens“ (v. 694) und lassen das Publikum wohl bereits den wahren Sachverhalt erahnen: Ihn hat ein akuter und heftiger Krankheitsanfall ergriffen, der eine sofortige Abfahrt mit Neoptolemos unmöglich macht.
Blicken wir kurz auf die Gliederung und Ausgestaltung der Szene, bevor wir uns der chorischen Äußerung zuwenden. Das emotionale Wechselgespräch der beiden Akteure vollzieht sich zunächst in der Form von Frage und Antwort: Neoptolemos sieht sich zur eigenen Überraschung mit dem leidenden Protagonisten konfrontiert und sucht nach einer ersten Vermutung – „Hast du etwa Schmerzen auf Grund der an dich herangetretenen Krankheit?“ (v. 734) – die genauen Gründe für Philoktets Klagen und Jammern zu erfahren. Die Reaktionen des Angesprochenen sind durch ein hohes Maß an Emotionalität und Situativität gekennzeichnet: So scheinen ihm die Schmerzen teils das Reden unmöglich zu machen (so schon v. 731, ebenso 740f.), teils bricht es aus ihm heraus, wobei vor allem die bemerkenswerte Häufung der verschiedenen Interjektionen (ἆ, ἰώ, ἀτταταῖ, παπαῖ, παπᾶ sowie der ganz aus Interjektionen bestehende Vers 746), die drastische und wiederholte Wortwahl (ἀπόλωλα v. 742 und 745, διέρχεται 743f., βρύκομαι 745) sowie die gehäuften (Selbst-)Anrufungen (Philoktet an Neoptolemos: (ὦ) τέκνον v. 733, 742, 745 2x, 747, 753; ὦ παῖ 750, 753; Philoktet über sich selbst: δύστηνος, ὢ τάλας ἐγώ 744; Neoptolemos an Philoktet: δύστηνε σύ, δύστηνε 759f.) die der Situation eigene Drastik, Dynamik und Unmittelbarkeit verbalisieren.
Neoptolemos steht dem Geschehen zunächst hilflos gegenüber: Nachdem er sich grob über die Situation klargeworden ist, fragt er nach Philoktets Aufforderung, Mitleid zu haben (v. 756),1 nach konkreten Handlungsanweisungen zur Unterstützung des Leidenden (v. 757 und 761). Dieser äußert nur einen gedoppelten Wunsch: Neoptolemos solle ihn während des Anfalls und des darauffolgenden Schlafs nicht alleine lassen sowie seinen Bogen sicher verwahren und niemandem übergeben. In der Folge dieser Bitte kommt es mit Vers 776f. zur Übergabe des zentralen Requisits: Neoptolemos ist nun im Besitz der Wunderwaffe und bittet nach dem Empfang des Utensils in bewusst ambivalenter Sprache um günstigen Wind für die bevorstehende Abfahrt (v. 779ff.). Soweit der erste Teil der Szene, der in der Übergabe des Bogens gipfelt und damit das Spiel mit dem Requisit aus dem ersten Epeisodion (v. 654ff.) fortsetzt. War Philoktet dabei zwischen den Versen 757 und 782 scheinbar von akuten Anfallssymptomen verschont geblieben, so beschreibt er in einer zweiten längeren Rhesis (v. 782–805) zunächst das neu einsetzende Herausträufeln von Blut aus seinem Fuß und entfaltet daraufhin neben der Bitte, in seiner Situation jetzt nicht alleine gelassen zu werden (v. 789), ein Panorama seiner Emotionen: So erfolgt zunächst die anklagende Apostrophierung der für sein Übel Verantwortlichen – Odysseus, Agamemnon und Menelaos – (v. 791–796), darauf die Anrufung des Todes (v. 797f.) und die direkt an Neoptolemos gerichtete Aufforderung, ihn als letzten Freundschaftsdienst zu verbrennen (v. 799ff.) und damit Philoktets eigenes Handeln an Herakles zu wiederholen. Ähnliche sprachliche Mittel wie die eben herausgestellten prägen auch diesen zweiten längeren Redebeitrag: Während die Fülle der Interjektionen und ihre Dichte etwas nachlässt, beherrschen die vollklingenden Anrufungen die Passage und verleihen Philoktets verzweifelt-wütender Verfassung passenden Ausdruck.
Es schließt sich trotz Neoptolemosʼ anfänglichem Schweigen zu den drastischen Bitten seines Gegenübers (v. 804f.) ein erneutes kurzes Wechselgespräch der beiden Akteure an (v. 806–820), das in seinem schnellen Sprecherwechsel (v.a. v. 810, 814, 816) die Klimax der Szene darstellt. Inhaltlich bekundet Neoptolemos sein tiefempfundenes Mitgefühl (v. 806) und verpflichtet sich per Handschlag, am Ort des Geschehens zu bleiben und Philoktet nicht alleine zu lassen; dieser sinkt kurz darauf unter seinen Schmerzen zu Boden (v. 819f.). Neoptolemos gibt seinen Matrosen darauf eine knappe Beschreibung des schweiß- und blutüberströmten Protagonisten und weist sie schließlich an, ihn ungestört liegen zu lassen. Mit Vers 827 beginnt der Chor daraufhin sein Lied.
Machen wir uns vor der Beschäftigung mit der chorischen Partie Folgendes klar: Die zentrale Figur der gesamten Szenerie ist Philoktet: Seine Präsenz bestimmt das Verhalten der anderen Akteure, stößt das Bühnengeschehen an und hält es am Laufen. Damit einher geht eine bisher ungeahnte visuelle Drastik: Schon der Auftritt des kriechenden Helden (vgl. Neoptolemosʼ Aufforderung ἕρπʼ v. 730) lässt ein Leitmotiv der Beschreibung Philoktets erfahrbar werden (vgl. die dezidierten Hinweise auf das Kriechen als Fortbewegungsart des Gepeinigten v. 207 und 701). Die Schmerzensschreie und Verlaufsbeschreibungen des Krankheitsausbruchs (vgl. verdoppeltes διέρχεται v. 743, προσέρπει, προσέρχεται v. 788f. sowie das plastische στάζει φοίνιον κηκῖον αἷμα v. 783) geben ein detailliertes Bild der Situation. Die Schilderung eines Anfalls aus der ersten Gegenstrophe des Stasimons ist dabei gerade in der Blut-Thematik (vgl. v. 694ff.) erneut evoziert und in doppelter Hinsicht überboten: Zum einen steht an unserer Stelle der rein imaginativen Drastik des Chors die dramatische, sich aktuell vollziehende Realität gegenüber. Zum anderen schildert hier der unmittelbar betroffene Held sein Leiden selbst: Kein aus Mitleid motiviertes Hinschauen, Beschreiben und reflektierendes Einordnen durch einen mehr oder minder außenstehenden Dritten beherrscht die Szenerie, sondern das an Drastik nicht zu überbietende augenblickliche Mitteilen des Gequälten selbst.
Aus diesem Blickwinkel lässt sich eine mögliche formale Frage beantworten: Der Chor steht der gesamten Szenerie wortlos gegenüber, es erfolgt keine Kommentierung von seiner Seite. Hätte nicht gerade hier ein Kommos zwischen dem Protagonisten und den Matrosen, möglicherweise auch eine größere Ensembleszene unter Einbindung des Neoptolemos zur Vertiefung und effektvollen Ausgestaltung der Situation dienen können? Die Zurückhaltung des Chors lässt sich – abseits möglicher Erklärungen aus der Rollentypologie – auch unter formalen Gesichtspunkten nachvollziehen: Indem am Beginn des zweiten Epeisodions Philoktet alleine die Szenerie dominiert, ist seine herausgehobene, geradezu einsame Stellung wirkungsvoll herausgearbeitet. Sophokles gestaltet dabei einen bewussten Kontrast zum bildreichen Stasimon als umfangreicher chorischer Partie, die dezidiert eine Pause innerhalb des unmittelbaren Handlungsverlaufs füllt, und dem Weitergang des Bühnengeschehens, das sich ohne Unterbrechung bis zum Einschlafen des Protagonisten (und darüber hinaus) entwickelt. Anders gesagt: Der Auftritt des Protagonisten und sein Krankheitsanfall auf offener Bühne eröffnen den zweiten Teil der Tragödie mit der Peripetie, bei deren Ausgestaltung der Dichter bewusst auf gewisse Effekte verzichtet. Statt also die Anfallsszene zu einer großen Chorszene auszubauen, lenkt Sophokles bewusst den dramatischen Fokus auf den Protagonisten, dessen Handlung und Präsenz gewisse Leitmotive der Beschreibung seiner Person aktuell auf die Bühne bringen.
Philoktets Hinsinken und Einschlafen in den Versen 819ff. lassen die unmittelbare Drastik zu einem vorläufigen Ende kommen: Das Lied des Chors scheint zunächst, wie schon das Stasimon, die eingetretene Pause im Verlauf der Handlung zu füllen. Die Szenerie ist allerdings eine ganz andere: Neben dem Chor befinden sich Philoktet – wenn auch schlafend – und Neoptolemos weiterhin auf der Bühne. Das mit Vers 827 beginnende Lied wird sich so zu einer Unterredung weiten, die mit dem Verweis auf die Intrigensituation die Brisanz der Szene in Erinnerung rufen und verdeutlichen wird.2 Ein detaillierter Nachvollzug gerade der ersten Strophe wird grundlegende Strukturen des Liedes herausstellen; die beiden weiteren Strophen können daraufhin kürzer abgehandelt werden.
Die Aufforderung des Neoptolemos, den erschöpften Philoktet in Ruhe dem Schlaf zu überlassen (v. 826), findet ihre begriffliche Fortsetzung mit dem Beginn des Liedes: Ein direkter Anruf des Schlafes eröffnet die chorische Partie. Doch nicht nur die gedoppelte Wiederholung des Wortes Ὕπνος in Vers 827 macht die Kontextbezogenheit der chorischen Aussagen besonders deutlich: Indem der Schlaf als unkundig (ἀδαής) im Bereich von Schmerz (ὀδύνας) und Leiden (ἀλγέων) apostrophiert wird, ist die vorangegangene Szene mit ihrer drastischen Inszenierung von Philoktets Qualen verbalisiert und zugleich als vergangen gekennzeichnet. Nun solle eben der Schlaf kommen (ἔλθοις), wobei sich die Choreuten durch ἡμῖν (v. 828) bewusst als in die Situation involviert verstehen.3 Die Häufung der Adjektive (ἀδαής, εὐαής sowie das verdoppelte εὐαίων) erweckt neben der gezielten Ansprache des Gottes dabei den Eindruck eines kultischen Invokationshymnos, der die Epiphanie der betreffenden göttlichen Person herbeisehnt.
Die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 830f. bietet im Einzelnen manche Schwierigkeit, v.a. hinsichtlich der konkreten Bedeutung von τάνδʼ αἴγλαν. Man wird wohl am besten mit JEBB αἴγλα als das „Traumlicht“4 verstehen, das der Schlaf dem Niedergesunkenen nun vorhalten soll. WEBSTER illustriert gerade mit Blick auf das abschließende Παιών (v. 832/3) – ein stereotypes Epitheton des Asklepios – die begrifflich-genealogische Verbindung, die der Chor an unserer Stelle zwischen Ὕπνος und dem Gott der Heilung samt seiner Tochter Αἴγλα herstellt. Die in Frage stehende Junktur τάνδʼ αἴγλαν kann so ebenfalls als mit der Heilung einhergehender „Schimmer von Gelassenheit“ verstanden werden, der Philoktet nun zuteilwerden solle bzw. bereits zuteil geworden ist.5 Allen Deutungen gemein ist die von Ὕπνος erbetene „Bewusstlosigkeit“ Philoktets, der im Schlaf nicht mehr von seinen akuten Leiden gequält werden soll; dass er dabei von der aktuellen Situation, d.h. dem sich anschließenden Gespräch des Chors mit Neoptolemos nichts wahrnehmen kann, ist implizit bereits angedeutet und, wie der Verlauf des Liedes zeigen wird, elementarer Bestandteil der Bitte an die Gottheit.
Mit Vers 833 bricht der begonnene Invokationshymnos ab; der Chor richtet sein Augenmerk auf Neoptolemos und redet ihn mit ὦ τέκνον direkt an. Der Vokativ steht so im bewussten Kontrast zum vorangegangenen Ὕπνʼ (v. 827) und macht die Verschiebung der Perspektive deutlich: Nicht mehr der herbeigerufene Schlaf steht im Fokus des Interesses, sondern Neoptolemos und sein weiteres Vorgehen. Dieser solle sich nämlich, so die Aufforderung der Schiffsleute, über seinen eigenen Standpunkt klar werden (ποῦ στάσῃ), bedenken, welche Schritte er nun in Angriff nimmt (ποῖ βάσῃ), und wie mit den sich aus der Situation ergebenden Sachverhalten (τἀντεῦθεν) umgegangen werden soll. Der Chor scheint aus seiner Perspektive bereits die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben: Worauf, so die entschiedene Frage v. 836, müsse man noch warten; der richtige Augenblick, der Einsicht über alle Dinge besitze, gewinne jedenfalls großen Einfluss durch eine schnell ausgeführte Aktion.
Erst die Antwort des Neoptolemos konkretisiert die allenfalls implizit andeutenden und keineswegs leicht zu verstehenden Aussagen des Chors: Zwar höre Philoktet zur Zeit nichts, er aber, Neoptolemos, sehe, dass das ganze Unternehmen vergeblich in Angriff genommen wurde, sollte man jetzt mit dem Bogen nach Troia fahren, den Helden selbst aber auf Lemnos zurücklassen. Philoktets Herbeischaffung habe das Orakel gefordert, ihm gelte der Siegeskranz; überhaupt sei es schwere Schmach, sich einer mit Lügen ausgeführten und letztlich erfolglosen Mission zu rühmen.
Machen wir uns an diesem Punkt bewusst: Der inhaltliche Fokus des Liedes und des daraus hervorgegangenen Austauschs zwischen Chor und Akteur hat sich im Lauf der Strophe auf eine andere Ebene verlagert. Nicht mehr das Leid des Protagonisten und die Möglichkeit, es zu lindern, stehen im Mittelpunkt. Vielmehr erfährt die gegenwärtige Lage Philoktets ihre polarisierende Ausdeutung im Kontext der Intrigensituation: Indem der Chor zwar äußerst ambivalent,6 für seinen Gesprächspartner aber durchaus verständlich, zum sofortigen Einschreiten auffordert, füllt er die entstandene Pause im Handlungsablauf mit ungeahnter Dynamik. Der Kontrast zwischen der Anrufung des Schlafs und der unerwarteten Gesprächsaufnahme mit Neoptolemos macht dabei den Wechsel der Fokussierung besonders deutlich.
Die in der ersten Strophe virulente Zweiteilung der Blickrichtung – einmal auf den Protagonisten und seinen Zustand, einmal auf Neoptolemos und die sich aus der Situation für ihn ergebenden Konsequenzen – prägt auch den Fortgang des Liedes. Während sich Neoptolemos selbst nicht mehr zu Wort meldet und erst in Vers 865 dem Chor Stille gebietet, entfalten die Schiffsleute ihre Ausdeutung der momentanen Situation als selbstbewusste Handlungsempfehlung an ihren Herrn. So legen sie ihm in ausgesuchter Ambivalenz nahe, die nun eingetretene Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu seinen Gunsten zu nutzen. Ein kurzer Überblick über die beiden folgenden Strophen soll dies verdeutlichen.
Den Bedenken des Neoptolemos hinsichtlich der durch den Orakelspruch geforderten Mitwirkung Philoktets an der Einnahme Troias tritt der Chor pragmatisch entgegen: Danach werde Gott selbst sehen (τάδε μὲν θεὸς ὄψεται v. 843). Ihr Herr solle im Moment, so die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 844ff., nur leise antworten, da der Schlaf von Kranken „scharfblickend“ (εὐδρακὴς λεύσσειν) sei und so – implizit gesagt – die Gefahr bestehe, von Philoktet gehört zu werden. Weiterhin solle Neoptolemos genau Acht geben (ἐξιδοῦ v. 851), dass er das angedeutete Unternehmen (κεῖνο) in aller Heimlichkeit ausführe; wenn er dagegen an seiner Meinung festhalte,7 könne man als verständiger Beobachter schon jetzt schwierige und ausweglose Ereignisse (ἄπορα πάθη) voraussehen.