Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 12
Zusammenfassung
1. Mit Blick auf das erste der in der Einleitung entworfenen Spektren (Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona) lässt sich im Anschluss an die Einzelanalyse Folgendes festhalten: Wie auch im Aias ist der Chor der vorliegenden Tragödie hinsichtlich seiner Rollenidentität, d.h. als dramatis persona, wesentlich an einen Akteur, in diesem Fall an Neoptolemos gebunden. Als Subordinierte stehen die Choreuten dabei in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Herrn, den sie in kritischen Situationen (vgl. erstes Epeisodion, im Besonderen v. 391ff.) vorbehaltlos unterstützen und dessen Position sie in Auseinandersetzungen (vgl. Kommos Philoktet-Chor v. 1081) vertreten.
Dem Austausch zwischen dem Chor und Neoptolemos kommt dabei innerhalb der Tragödie entscheidende Bedeutung zu: Bereits die in Form einer Unterweisungsszene gestaltete Parodos inszeniert die entsprechende Gesprächssituation als bedeutsamen Rahmen der chorischen Präsenz. Das (zumindest partielle) Wissen des Chors um die eigentlichen Absichten der auf Lemnos gelandeten Gesandtschaft des griechischen Heeres lässt den Chor dabei zum Mitintriganten werden und unterlegt den Austausch zwischen Neoptolemos und seiner Mannschaft zudem mit besonderer Brisanz. Die Gesprächssituation dient gerade in ihrer Reinszenierung im Anschluss an das „Schlaflied“ (v. 827ff.) zur Einblendung der virulenten Intrigensituation; in Abwesenheit des Odysseus übernimmt so die chorische Präsenz und ihre Einbindung in das Bühnengespräch die Funktion, die mit der Intrige gegebene doppelte Ebene im Bewusstsein zu halten.
Mit der Aufdeckung der Intrige durch Neoptolemos selbst (v. 895ff.) verliert daraufhin auch der Austausch zwischen dem Chor und seiner rollenimmanenten Bezugsperson an Relevanz: Der einzige lyrische Austausch des letzten Teils der Tragödie ist dementsprechend der Kommos zwischen Philoktet und dem Chor (v. 1081ff.). Die spärlichen iambischen Einwürfe des Chors (v. 963f., 1045f., 1072f. sowie die Auftrittsankündigung v. 1218ff.) nach der Aufdeckung der Intrigensituation sind dahingegen kaum mehr als zum Teil dramaturgisch klar funktionalisierte Äußerungen, die zum einen die Ratlosigkeit des Chors, zum anderen seine ungebrochene Ausrichtung auf Neoptolemos verbalisieren; einen inhaltlich bedeutsamen Beitrag zur Handlung leisten sie nicht. Während die chorische Präsenz so im ersten Teil der Tragödie (d.h. vom Ende des Prologs bis zur Aufdeckung der Intrige) die der Handlung zu Grunde liegende Intrigenkonstellation inszeniert und so mitten im Geschehen verankert ist, verschiebt sich ihre dramaturgische Funktion zum Ende der Tragödie: Statt am Handlungsfluss aktiv teilzuhaben und, wie im „Schlaflied“, den Gang der Ereignisse beeinflussen zu wollen, kommt dem Chor mehr und mehr eine betrachtende Position zu, während sich das eigentliche Geschehen zwischen den Akteuren Odysseus, Neoptolemos und Philoktet (in wechselnden Kombinationen) abspielt.
2. Wie lassen sich die Chorpartien des Philoktet nun innerhalb des zweiten Spektrums (Spektrum II: Reflexionsstrategien) verorten? Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst geboten, sich die in den Partien verhandelten Themen und Gegenstände erneut vor Augen zu führen. Neben Neoptolemos als rollenimmanenter Bezugsperson und hauptsächlichem Gesprächspartner des Chors bildet die Gestalt des Protagonisten das eigentliche inhaltlich-thematische Zentrum der chorischen Aussagen: Sein aktuelles Schicksal und der jeweilige Grad seiner Präsenz sind in geradezu monothematischer Ausrichtung Gegenstand aller lyrischen Partien. Während die Choreuten dabei in den dialogischen Partien, d.h. im Besonderen im direkten Austausch mit Neoptolemos und dem Protagonisten selbst eine als pragmatisch zu beschreibende Haltung gegenüber Philoktet an den Tag legen, dominiert in den rein chorischen Passagen (v.a. im zweiten Strophenpaar der Parodos v. 169ff. sowie im Stasimon 676ff.) ein emotionaler Zugang, der im Besonderen das Moment des Mitleids und Bejammerns betont.
In ihrer thematischen Ausrichtung auf den Protagonisten sind die chorischen Passagen immer punktgenau im dramatischen Geschehen zu verorten. Sie bedienen sich dabei im Wesentlichen imaginierender Reflexionsstrategien: Im Vordergrund steht jeweils die möglichst anschauliche Darstellung der Situation des Protagonisten sowie einzelner Details (v.a. die Einsamkeit des Haupthelden sowie die Schwierigkeit der Nahrungsversorgung), die – über das ganze Stück betrachtet – geradezu leitmotivischen Charakter tragen.
Die geradezu exklusive thematische Zentrierung der chorischen Reflexion auf den Protagonisten und die jeweilige dramatische Situation bringt eine besondere Verengung der Perspektive und die Ausblendung einiger mit der Handlung assoziierter Momente mit sich: So kommt innerhalb der chorischen Reflexion weder der Vorgeschichte der Handlung (konkret: der Aussendung der Mission nach Lemnos, dem Helenos-Orakel oder gar den Ursachen für Philoktets Leiden) noch der moralischen Dimension der intendierten Intrige oder auch der Zielsetzung des Unternehmens, d.h. der Einnahme Troias, sowie der Bogen-Mann-Problematik besondere Bedeutung zu.1 Die Einblendung anderer Zeitebenen ist dementsprechend kein strukturelles Moment der chorischen Reflexion;2 auch die das eigentliche Geschehen subtil konterkarierende zeitliche Verortung des entworfenen Panoramas innerhalb des Stasimons dient dabei der Ausleuchtung des dramatischen „Hier und Jetzt“, das seinerseits als mittlerweile überwundene Stufe ausgedeutet wird und damit als Ausgangspunkt einer allenfalls angedeuteten Zukunftsaussicht fungiert.
Auch hinsichtlich des personellen Rahmens bieten die Chorpartien keine Weitung des Bezugsrahmens: Einzig Anfang und Ende des Stasimons mit ihrer mythischen Parallele (Ixion) sowie der Erwähnung des Herakles greifen über das eng umrissene Personenspektrum der bis zum Zeitpunkt des Liedes unmittelbar mit der Handlung in Zusammenhang stehenden Gestalten aus. Während Ixions Beispiel dramaturgisch nicht funktionalisiert wird, steht Herakles freilich in engem Zusammenhang mit dem Geschehen.3
3. Bis auf das einzige Stasimon sind alle Chorpassagen der vorliegenden Tragödie entweder dezidiert als Beitrag eines Austauschs mit einem der Akteure funktionalisiert oder in einen derartigen Unterredungskontext eingepasst (v.a. zweites Strophenpaar der Parodos). Sowohl die eigentlichen Amoibaia bzw. epirrhematischen Partien als auch die in den Lauf des Bühnengesprächs eingesetzten Strophen des Chors verstehen sich so bewusst als Bestandteil der Handlung und des dramatischen Fortschritts, auch wenn, wie im Fall der Parodos, genuin reflektorische Partien enthalten sind.
Auf die regelmäßige Einschaltung chorlyrischer Stasima, wie sie den Ablauf anderer Tragödien maßgeblich prägen, verzichtet Sophokles im vorliegenden Stück dabei bewusst. Indem er die geradezu standardisierte Form chorischer Präsenz auf ein Mindestmaß reduziert, macht er die eigentlich konventionelle Situation des alleine auf der Bühne reflektierenden Chors zu einem besonderen Moment im Ablauf der Tragödie. Dieser Einmaligkeit des Stasimons wird durch die ihm eigene, in mehrfacher Hinsicht gebrochene Beziehung der Reflexion zur Handlung besondere Brisanz verliehen.
Die chorische Stimme ist so weitestgehend dramatisiert, d.h. in den Austausch der Personen eingebunden und als eine Stimme unter anderen klar funktionalisiert.
4. Welche genuin dramaturgischen Implikationen ergeben sich nun aus dieser Funktionalisierung der Chorpassagen (Spektrum III)? Einen umfassenden Reflexionsrahmen, in den das Geschehen eingeordnet würde, bietet die chorische Reflexion nicht. Zwar setzt der Chor im zweiten Strophenpaar der Parodos Philoktets Schicksal in Beziehung zur allgemeinen Verfasstheit des menschlichen Lebens (v. 177ff.) und beginnt das Stasimon mit einem mythischen Vergleich, der die Schwere des dem Haupthelden zugefallenen Schicksals herausstellen soll; diesen Verweisen kommt allerdings keine ausgreifende strukturelle oder thematische Bedeutung zu: So bleibt die kurze Apostrophierung der „Menschengeschlechter“ in Vers 178 einzig ein Ausruf innerhalb der Imagination der Lebensumstände des Protagonisten, der Verweis auf Ixion zu Beginn des Stasimons dient nur als Kontrastfolie und spielt für den Fortgang des Liedes keine Rolle. Eine Auseinandersetzung mit den der Handlung zu Grunde liegenden Wirkmechanismen oder mit den durch sie aufgeworfenen Problemen (so z.B. das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum, Fragen nach dem Wert der Pflichterfüllung, der Instrumentalisierung anderer, des Konflikts von Veranlagung des Einzelnen und Anspruch der Gemeinschaft) werden nicht behandelt. Anders gesagt: Der Chor deutet das Geschehen nicht aus, er interpretiert es nicht und unterlegt es keinem größeren Sinnzusammenhang. Dementsprechend beansprucht der Chor auch keine besondere Autorität bei seinen Äußerungen: Weder intendiert er, allgemeine Wahrheiten vorzutragen, noch aus einer dem Geschehen enthobenen Position ein Gesamtbild der mit der Handlung assoziierten Momente zu liefern.
Im Ganzen lässt sich festhalten, dass der Chor des Philoktet im besonderen Maß an der Handlung teilnimmt und sich als in das Geschehen eingebunden versteht. Die chorischen Partien dienen dementsprechend weniger der Ausdeutung und Kontextualisierung der Geschehnisse, sondern nehmen wiederholt den Haupthelden in den Blick, fokussieren also auf ein entscheidendes Moment der Handlung. Der weitgehende Verzicht auf eine Strukturierung der Tragödie durch regelmäßig eingeschaltete reine Chorpartien garantiert dem Stück im Ganzen einen durchgängigen Handlungsfluss, in den der Chor sowohl hinsichtlich seiner Person als auch der von ihm getätigten Äußerungen eingewoben ist. Einzig für die Dauer des Stasimons wird das Voranschreiten der Handlung kurzzeitig angehalten und das dramatische Tempo gedrosselt – um sich im direkten Anschluss mit dem Krankheitsausbruch des Haupthelden mit ungeahnter Dynamik wieder zu beschleunigen.
2. Aias
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Der Aias1 ist gemäß der allgemeinen Meinung eine der ältesten, wenn nicht die älteste der überlieferten Tragödien unseres Autors.2 Als wahrscheinliche Aufführungszeit werden die fünfziger Jahre des fünften Jahrhunderts genannt.3 Wie auch der Philoktet, so ist die nach ihrem Haupthelden Aias benannte Tragödie im unmittelbaren Kontext der Kämpfe vor Troia angesiedelt. Auch dass in beiden Tragödien Odysseus, eine besonders prominente Gestalt des entsprechenden Sagenkreises, eine zentrale Rolle spielt,4 bildet eine hervorzuhebende Parallele zwischen Aias und Philoktet. Bedenken wir zudem, dass die Chöre der beiden Tragödien aus Schiffsmannschaften bestehen (einmal die des Neoptolemos, hier die des Haupthelden Aias), dass in beiden Fällen die Haupthelden geradezu paradigmatische Einzelgänger innerhalb bzw. gegenüber der als Gruppe gedachten griechischen Heermacht sind, dass schließlich beide Einzelgänger gegen die Atriden und/oder Odysseus einen besonderen Groll hegen, so scheinen die beiden Tragödien auf den ersten Blick einiges gemein zu haben. Dass die beiden Stücke trotz dieser Parallelen hinsichtlich ihres settings ganz verschieden sind, beweist bereits ein kurzer Blick auf die Handlung der vorliegenden Tragödie.
Der griechische Heros Aias ist bei der Vergabe der Waffen des gefallenen Achill Odysseus unterlegen. Er gerät in Wut auf die Heerführer, im Besonderen auf Agamemnon und Menelaos, sowie auf Odysseus. Bevor er allerdings den Griechen gravierendes Leid zufügen kann, schlägt ihn Athene, die traditionelle Schutzgottheit des Odysseus, mit Wahnsinn, sodass er im Glauben, die verhassten Griechen zu bestrafen, auf Schafherden einstürmt und diese grausam niedermetzelt. Nachdem er wieder bei Sinnen ist,5 erkennt er die Bandbreite seiner Tat: Als Ausweg aus Schmach und Schande wählt er den Selbstmord und stürzt sich in sein Schwert. Im Anschluss daran thematisiert das sophokleische Drama den Streit um die Bestattung des Aias: Sein Halbbruder Teukros übernimmt die Sorge um die Hinterbliebenen und drängt darauf, Aias eine Beerdigungszeremonie zukommen zu lassen. Die Atriden allerdings verbieten dies zunächst. Odysseus, der durch Athene schon zu Beginn der Handlung über den Geisteszustand des Helden, dessen Beweggründe und die grundlegende Abhängigkeit der Menschen vom Handeln der Götter informiert wurde, erreicht schließlich ein Umdenken bei Agamemnon: Aias darf bestattet werden; statt Feindschaft und Missgunst stehen Menschenfreundlichkeit und Versöhnung am Ende des Dramas.
Sophokles greift damit eine bekannte Episode des troianischen Sagenkreises auf und prägt sie mit Bezug auf andere literarische Vorlagen6 in besonderer Weise. Im Gegensatz zu Aischylos, der in seinem Aiasdrama den Streit um die Waffen des Achill dargestellt haben muss,7 verschiebt er den zeitlichen Ausschnitt der Handlung: Er rückt den Selbstmord des Protagonisten in die Mitte des Stücks und lässt so den Haupthelden nur in der ersten Hälfte des Dramas überhaupt auftreten. Durch den Abtritt des Chors vor der Selbstmordszene (v. 813f.) und seinem Wiederauftritt nach erfolgtem Suizid des Haupthelden (v. 866ff.) ist das Drama rein äußerlich in zwei Blöcke geteilt (Diptychonform). Diese Trennung in die Zeit vor und nach dem Tod des Protagonisten bestimmt die Struktur der Tragödie in besonderer Weise und wird bei der Interpretation im Folgenden dementsprechend behandelt werden. Es wird dabei auch zu zeigen sein, inwieweit die chorischen Partien einem Auseinanderfallen beider Teile entgegenwirken.
Der Chor besteht aus der Schiffsmannschaft des Aias, die zusammen mit Tekmessa (der „Frau“8 des Aias), Eurysakes9 (dem Sohn von Aias und Tekmessa) und schließlich Teukros (dem Halbbruder des Aias) die Angehörigen des Helden bilden. Diese stehen zum Haupthelden in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis: Aiasʼ Wohlergehen und sein Stand unter den Anführern des griechischen Heeres vor Troia sind Garant ihrer Sicherheit und Unversehrtheit. Der erste Teil der Tragödie spielt sich dabei im Wesentlichen innerhalb des durch die Angehörigen des Helden bezeichneten persönlichen Rahmens ab.
Diesem engsten Kreis um Aias stehen mit Menelaos und Agamemnon die entscheidenden Befehlshaber der Griechen gegenüber; ihre Auftritte im zweiten Teil der Tragödie (Menelaos in v. 1047, Agamemnon in v. 1226) leiten dabei die entscheidenden Konfrontationsszenen ein. Odysseus schließlich hat eine gewisse Mittelstellung inne: Als Aiasʼ Gegner bei der Entscheidung um Achills Waffen und einflussreicher Feldherr scheint er dem Haupthelden zunächst konfrontativ entgegenzustehen. Seine ihm im Prolog durch Athene vermittelte Einsicht in die wahren Gegebenheiten aber macht ihn in der zweiten Konfrontationsszene (v. 1318ff.) zu einem Fürsprecher im Interesse von Aiasʼ Angehörigen.
Der Aufbau des gesamten Stückes ist im besten Sinne unkonventionell10 und unterliegt, wie noch zu zeigen sein wird, ganz der dramatischen Aussageabsicht, Aias als Dreh- und Angelpunkt der Handlung ins Bild zu setzen.
Interpretation
Prolog (v. 1–133)
Bereits der die dramatische Handlung eröffnende Prolog ist eine Szene voller bildkräftiger Bühnenwirkung. Athene erscheint Odysseus, der am Rande des griechischen Lagers vor Troja die Behausungen des Aias inspiziert, um herauszufinden, was sich in der vergangenen Nacht dort tatsächlich abgespielt hat. Dabei kann Odysseus einzig die Stimme der Göttin wahrnehmen (vgl. v. 14 ὦ φθέγμʼ Ἀθάνας).1 Der Göttin kommen die ersten Worte der Tragödie zu: Sie begrüßt ihren Schützling, lobt seinen Spürsinn (v. 7f.) und stellt in Aussicht, dass sie ihn hinsichtlich seiner Suche aufklären werde (v. 11ff.). Odysseus verleiht daraufhin seiner Freude über die Erscheinung der Gottheit Ausdruck und erklärt, dass er sich angesichts der allgemeinen Ungewissheit über die tatsächlichen Vorfälle der letzten Nacht ein eigenes Bild der Situation zu machen versuche (v. 31ff.). In einem durch einen Doppelvers der Göttin eingeleiteten stichomythischen Gespräch (v. 38–50) und einem sich anschließenden Monolog (v. 51–73) klärt Athene Odysseus über den wahren Sachverhalt auf: Aias sei auf Grund der Entscheidung der Heerführer, die Waffen des gefallenen Achill nicht ihm zuzusprechen, in Zorn geraten. Seinen Plan, ein Blutbad unter den Griechen anzurichten und dabei vor allem die Heerführer Agamemnon und Menelaos sowie Odysseus qualvoll zu töten, habe Athene selbst vereitelt, indem sie den Helden mit Wahnsinn geschlagen habe. Aias habe sich stattdessen auf eine Schafherde der Griechen gestürzt und diese gnadenlos niedergemetzelt. Im Glauben, Odysseus in die Hände bekommen zu haben, habe er dabei einen Bock mit in sein Zelt genommen, den er nun mit einem Lederriemen peitsche. Schließlich ruft Athene den wütenden Aias und fordert ihn auf, aus seinem Zelt zu treten (v. 71ff.). Odysseus ist zunächst entsetzt und fürchtet, sollte Aias tatsächlich erscheinen, um sein Leben. Nachdem ihn Athene allerdings versichert hat, Aias könne ihn nicht wahrnehmen, lässt er die Göttin gewähren.
Der Titelheld, von Athene erneut herbeigerufen, betritt daraufhin in Vers 91 die Bühne und bietet einen für Odysseus und das Publikum gleichermaßen schauderhaften Anblick: Blutbespritzt, mit dem Lederriemen bewaffnet und vom Wahnsinn getrieben wird er zum Demonstrationsobjekt göttlicher Macht. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Athene, in deren Verlauf er sich mit seiner Tat brüstet und Athene sein Vorgehen gegen seine vermeintlichen Gegner schildert, tritt Aias nach Vers 117 wieder in sein Zelt, um sich erneut seiner „Aufgabe“ zu widmen, d.h. die vermeintlichen Griechenfürsten zu peinigen. Dabei versäumt er es nicht, Athene um ihren immerwährenden Beistand als „Kampfgenossin“ (σύμμαχον v. 117) zu bitten.
Odysseus offenbart in der Konfrontation mit dem gestürzten Helden seine edle Gesinnung: Nicht Triumph über den in der Entscheidung um die Waffen des Achill Unterlegenen, nicht Spott und Häme gegen den vom Wahnsinn Getriebenen, sondern Mitleid (ἐποικτίρω v. 121) und Einsicht in das unstete Wesen des Menschen sowie die Nichtigkeit seiner Existenz (v. 125f.) prägen seine Reaktion. Athene beschließt daraufhin den Prolog mit Worten der Warnung: Odysseus solle selbst kein überhebliches Wort den Göttern gegenüber verlieren und auch im Fall besonderer Überlegenheit gegenüber anderen keine Aufgeblasenheit (ὄγκον v. 129) an den Tag legen, da ein einziger Tag alles Menschliche (ἅπαντα τἀνθρώπεια v. 132) neigen und aufrichten könne. Mit einer besonders universellen Bemerkung tritt sie schließlich ab: Die Götter liebten die Besonnenen, die Schlechten aber hassten sie (v. 133). Odysseus tritt, ohne dem göttlichen Spruch zu antworten, ebenfalls ab; mit Vers 133 hat sich die Bühne gelehrt.
Fassen wir einige Momente des Prologs mit Blick auf seine dramaturgischen Implikationen zusammen. Unter Einbeziehung der Höchstzahl von drei Akteuren komponiert Sophokles eine besonders eindrückliche und effektvolle Eingangsszene. Der Auftritt einer Gottheit im Prolog ist im Rahmen der uns überlieferten Tragödien des Sophokles einmalig.2 Der Unterschied zum typisch euripideischen Götterprolog ist dabei allerdings augenfällig:3 Hier erfolgt keine umfassende Einführung in den der Handlung zu Grunde liegenden Mythos, keine Vordeutung der Geschehnisse durch einen umfangreichen Monolog der Gottheit.4 Vielmehr ist der vorliegende Prolog bereits eine Dialogszene, die mit Odysseus und Aias die zwei zentralen Figuren der Bühnenhandlung exponiert. Die Einführung einer Gottheit als Akteur eröffnet Sophokles dabei eine Reihe dramaturgischer Möglichkeiten. Zum einen arrangiert er die Personenkonstellation geschickt um die Figur der Athene: Sie ist sowohl der Zentralpunkt des Prologgesprächs als auch die entscheidende Impulsgeberin. Im elaborierten Geflecht von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit differenziert Sophokles darüber hinaus die Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander: So ist Athene für Odysseus (und wahrscheinlich Aias)5 nur hör-, nicht aber sichtbar, Odysseus bleibt gänzlich Aias verborgen, während er den Titelhelden wiederum sehen kann. Dramaturgischer Nutznießer dieser so diffizilen Konstruktion ist dabei freilich das Publikum: Die Zuschauer sind über die genauen Vorgänge informiert und überblicken die Gesprächssituation im Ganzen. Ihr Wissen um die Zusammenhänge teilen sie dabei mit Odysseus, der durch die Göttin eines besonderen Einblicks in die wahren Verhältnisse gewürdigt wurde.
Die Einführung einer Gottheit als Prologsprecher ermöglicht es dem Dichter zudem, den Protagonisten selbst in die Wiedergabe des der Bühnenhandlung unmittelbar vorausgegangenen Geschehens einzubinden und darüber hinaus die hinterszenische und damit für das Publikum unsichtbare Ebene der Handlung (das Geschehen in der Hütte des Aias) zumindest partiell sichtbar zu machen. Der Auftritt des Haupthelden, den die Göttin für eine kurze Zeitspanne aus seiner rasenden Tätigkeit herausruft, holt so das Geschehen der unmittelbaren Vorgeschichte geradezu in actu auf die Bühne. Das zum Verständnis der Haupthandlung nötige Vorwissen wird so nicht nur berichtet, sondern zu einem gewissen Teil selbst dargestellt und damit im besten Sinne dramatisiert. Die dabei schon rein visuelle Drastik ist für die Wirkung des vorliegenden Prologs prägend und geradezu konstitutiv. Anders gesagt: Die vorliegende Tragödie beginnt mit einem Schockeffekt, der allerdings zugleich durch Athenes Handeln und Deuten, d.h. innerdramatisch, eingeordnet und funktionalisiert wird.
Zuschauer und Leser müssen sich im Folgenden nicht an den vom Chor beschriebenen Vermutungen über die Ursache der Raserei des Aias beteiligen; ihnen ist vielmehr bereits im Prolog durch die Gegenüberstellung von Aias als dem gefallenen Helden und Odysseus, der darauf mit Mitleid reagiert, ein Grundmuster der gesamten Handlung in nuce präsentiert worden.
Im Blick auf die kommende Bühnenhandlung nimmt der Prolog der Tragödie dabei trotzdem eine gewisse Sonderstellung ein: Von der eigentlichen Haupthandlung scheint er in mancherlei Hinsicht getrennt zu sein. Als geradezu intime, durch offensichtliches Götterhandeln geprägte Szene bildet der Prolog ein abgeschlossenes Ganzes, das in seinem setting einen Kontrapunkt zur weiteren Bühnenhandlung bildet. Als Mitwisser aus geradezu göttlicher Perspektive weiß sich der Zuschauer mit Odysseus dem eigentlichen Geschehen rund um Aias bis zu einem gewissen Grad enthoben; aus einer um die wahren Zusammenhänge und deren theologische Einordnung Wissender steht er der Handlung somit von vorneherein gegenüber. Es ist zudem ein fein komponierter Kunstgriff, den Titelhelden im Prolog als vom Wahnsinn Getriebenen vorzuführen, um dann die Handlung mit seinem Erwachen aus der Raserei erneut beginnen zu lassen. Schließlich fängt die eigentliche Tragödie aus Aiasʼ Perspektive in dem Moment an, in dem er sich seines Falls bewusst wird (referiert zunächst in Tekmessas Bericht v. 257ff., dramatisiert schließlich mit eigenen Worten ab v. 333) und auf seine eigene Tat reagieren muss. Als vom Wahn Getriebener wird Aias im Folgenden nicht mehr auftreten, er ist gleich mit seinem ersten Wiederauftritt nach dem Prolog (v. 348) ein gebrochener Held. Die heroischen und kämpferischen Qualitäten, die im Prolog ins Wahnhafte verzerrt waren, weichen zunächst Entsetzen über die eigene Tat und münden schließlich in den Entschluss zum bzw. die Ausführung des Suizids. Die Odysseus und dem Publikum im Prolog gewährte Einsicht bildet dabei die Folie, vor der sich dieses eigentliche Geschehen abspielen wird.
Trotz des mitunter belebten Gesprächs, der ausgeklügelten Gesprächssituation und der durch Auf- und Abtritt des Titelhelden geprägten Dynamik der Szene wird im Prolog keine Spannung aufgebaut oder ein für das Folgende wichtiger Impuls gegeben.6 Die sich auf der Bühne abspielende Szenerie wirkt dagegen im Wesentlichen statisch und in sich geschlossen. Die einzige personelle Kontinuität zwischen dem Prolog und der folgenden Handlung ist dabei Odysseus, der nicht nur dem rasenden Aias, sondern auch seiner Leiche mit Mitleid und Menschlichkeit begegnen wird.
Indem so die Prologszene ihren eigenen Kosmos bildet, ermöglicht sie, eine gewisse Distanz zum Geschehen einzunehmen: Die Ausführungen von Athene und Odysseus entwerfen bereits vor Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung den Reflexions- und Deutungsrahmen, der die Einordnung des Kommenden in einen weiteren Kontext ermöglichen wird. Als in sich geschlossener Einblick in die der Handlung zu Grunde liegenden Strukturen bildet der Prolog so im besten Sinne eine Vor-Szene, die bereits entscheidende Momente der Handlung andeutet und einordnet.
Folgendes lässt sich festhalten: Sophokles versteht es, durch die im Rahmen der von ihm überlieferten Tragödien einmalige Konstruktion des Dramenbeginns, Zuschauer (und Leser) zu Mitwissern der zweiten (göttlichen) Ebene der Handlung und so bereits von Beginn an zu Deutern des Geschehens zu machen. Weit über die rein funktionalen Erfordernisse eines Prologs (Einführung in Ort, Zeit und Personenkonstellation der Handlung) hinaus steckt der Dichter so den Rahmen der folgenden Bühnenhandlung besonders eindrucksvoll ab und weist den Rezipienten eine herausragende Stellung zu. Im besonderen In- und Miteinander von visueller Drastik und reflektierender Distanz gestaltet er die Prologszene des Aias zu einer im besten Sinne dramatischen Partie, deren funktionale Polyvalenz gerade auch dem im Anschluss auftretenden Chor eine spezifische dramaturgische Funktion zuweist.