Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 13
Parodos (v. 134–200)
Nach dem Abgang von Athene und Odysseus zieht der Chor der salaminischen Seeleute in die Orchestra ein. Diese Auftrittsszenerie ist dabei ein umfassender Großabschnitt, der sich vom Ende des Prologs in Vers 133 bis zum Beginn der Sprechverse des ersten Epeisodions in Vers 263 über mehr als 130 Verse erstreckt. Grob zerfällt die Passage in zwei Abschnitte: Dem rein chorischen Auftrittslied (v. 134–200) folgt ein Amoibaion mit Tekmessa, die in Vers 201 mit den Schiffsleuten in einen Austausch eintritt. Beide Abschnitte lassen sich wiederum unter metrisch-formalen Gesichtspunkten in jeweils zwei Teile untergliedern: Innerhalb der eigentlichen Parodos folgen einer ausgedehnten anapästischen Passage (v. 134–171) je eine lyrisch komponierte Strophe, Gegenstrophe und Epode des Chors. Der Austausch des Chors mit Tekmessa ist zunächst ebenfalls in anapästischen Versen komponiert (v. 201–220), an die sich ein lyrisches Strophenpaar des Chors anschließt (v. 221–232 sowie 245–256), in dessen Mitte (v. 233–244) und an dessen Ende (v. 257–262) wiederum anapästische Verse Tekmessas zu stehen kommen. Bereits dieser kurze Überblick macht deutlich: Der vorliegende Abschnitt ist eine komplexe Komposition aus verschiedenen Formteilen der Tragödie, in denen die chorische Präsenz in je eigener Form zu Tage tritt. Die vorliegende Komposition, besonders die Voranstellung einer ausgedehnten anapästischen Partie vor das eigentliche lyrische Auftrittslied, ist dabei im erhaltenen Werk unseres Dichters einzigartig.1
Es ist am zweckmäßigsten, zunächst den rein chorischen Abschnitt (v. 134–200) als eigentliche Parodos zu behandeln und sich danach dem Amoibaion zwischen Chor und Tekmessa zu widmen. Diese Teilung soll allerdings nicht über die grundsätzliche Zusammengehörigkeit der beiden Partien hinwegtäuschen: Die volle Würdigung der Komposition unter unseren dramaturgischen Gesichtspunkten wird in der besonderen Gegenüberstellung der beiden Partien und einem Überblick zu leisten sein.
Mit einer direkten Ansprache an Aias und einer Bekundung der Verbundenheit zu ihrem Herrn betreten die Choreuten die Orchestra (v. 134ff.): Wenn es ihm, dem Herrn des „ringsumflossenen, meernahen Salamis“ (τῆς ἀμφιρύτου Σαλαμῖνος) gut gehe, seien sie selbst erfreut (ἐπιχαίρω). In kontrastiver Fortführung der Periode (σὲ δʼ) bekennen die Choreuten allerdings, dass sie große Verdrossenheit (μέγαν ὄκνον) trügen sowie in Schrecken und Angst um ihren Herrn gesetzt seien (πεφόβημαι v. 139), seitdem ein „Schlag des Zeus“ (πληγὴ Διός v. 137) oder die verleumderische Rede von Seiten der Griechen (ζαμενὴς λόγος ἐκ Δαναῶν) gegen ihren Herrn angerückt seien. Mit Vers 140 kommt der Chor auf die aktuelle Situation zu sprechen und entfaltet im Folgenden verschiedene Gedanken in schneller Abfolge: Im Lauf der vergangenen Nacht sei lautes Lärmen (μεγάλοι θόρυβοι) bezüglich der Tat des Aias durch das Lager der Griechen gedrungen und hätte auch die Seeleute des Aias erreicht:2 Mit dem Schwert, so haben sie erfahren, soll ihr Herr die Schafe der Danaer getötet haben. Als konkretes Feindbild steht den Choreuten dabei Odysseus vor Augen (v. 148ff.): Dieser erdichte die verleumderischen Reden über Aias, verbreite unter den Griechen die Kunde von den Geschehnissen der letzten Nacht und überzeuge damit in besonderem Ausmaß (σφόδρα πείθει): Jeder, der Odysseusʼ Worte höre, reagiere mit Schadenfreude (χαίρει v. 152) und erhebe sich in abfälliger, hochnäsiger Weise über Aiasʼ Leid (καθυβρίζων).
Es folgt eine kurze allgemeine Reflexion über das Verhältnis zwischen gesellschaftlich herausragenden und durchschnittlichen Personen, wie es sich aus der Perspektive der Schiffsmannschaft darstellt. Ein Held wie Aias biete auf Grund seiner seelischen und charakterlichen Größe, so der Chor, einige Angriffsfläche für derartige verleumderische Reden; wer nämlich über einen Normalmenschen wie den einzelnen, einfachen Seemann (κατὰ … ἐμοῦ v. 155) abwertende Gerüchte in die Welt setzt, werde kaum überzeugte Zuhörer finden. Die zur Begründung dieses Sachverhalts angeschlossene Sentenz v. 157 verbalisiert, auf welche Motivation die Schiffsleute die Verleumdungen ihres Herrn zurückführen: Neid nämlich richte sich nur gegen denjenigen, der „besitzt“ (τὸν ἔχονθʼ), d.h. den besonders Einflussreichen. Dagegen stellten die „Kleinen“ (σμικροί v. 158) ohne die „Großen“ (μεγάλοι) einzig eine schwache Schutzwehr (σφαλερὸν πύργου ῥῦμα) dar, seien also auf die Hilfe der Mächtigen unmittelbar angewiesen.3 Denn, so der Chor, ein Geringer (βαιός v. 160) dürfte wohl „gemeinsam mit Großen“ (μετὰ μεγάλων), ein Großer durch den Dienst der Geringen (ὑπὸ μικροτέρων)4 aufgerichtet werden (ὀρθοῖθʼ v. 161).
Nun aber werde ihr Herr Aias von Menschen verfolgt, die das nicht verstehen könnten; der Chor bekennt indes, selbst keine Kraft mehr zu haben (οὐδὲν σθένομεν v. 165), ohne die Hilfe seines Herrn den Anschuldigungen entgegenzutreten. Die Choreuten sind sich gewiss, dass ein erneutes Auftreten des heldenhaften Aias vor den Griechen für Ruhe sorgen werde, auch wenn diese jetzt noch hinter dem Rücken des Helden Verleumdungen ausstießen (v. 170f.): Schnell dürften sie, so die Versicherung in v. 170f., sobald Aias erscheine, „durch Schweigen wortlos in Angst geraten“ (σιγῇ πτήξειαν ἄφωνοι).
Der erste anapästische Teil der Parodos hat hier sein Ende gefunden. Es ist für unsere Zwecke vorteilhaft, in der Wiedergabe des Liedes an dieser Stelle kurz innezuhalten. Einige Aspekte der wiedergegebenen Verse 134–171 sollen im Folgenden näher untersucht werden. Gleich vom Beginn ihres Auftritts steht für die Schiffsbesatzung des Aias ihr Herr im Mittelpunkt; der erste Teil der Parodos ist so wirkungsvoll gerahmt von der direkten Anrede in v. 134 und einem bereits implizit mitgedachten Imperativ („Erscheine endlich, Aias!“) in v. 170, den die Verse 192ff. in aller Deutlichkeit wieder aufgreifen werden. Erstaunlich wenig beschäftigt die Choreuten bis zu diesem Punkt die eigentliche Tat des Aias, von der sie gehört haben: Gerade einmal fünf Verse (143–147) widmen sie der in indirekter Rede gestalteten Wiedergabe der Gerüchte. Besonderer Nachdruck liegt dagegen auf dem aus Sicht der Schiffsleute eigentlichen Skandal: der üblen Nachrede, der ihr Herr ausgesetzt ist. Mit Odysseus als Anstifter und Verbreiter der Gerüchte entwerfen sie dabei geradezu den Gegenentwurf zum strahlenden Helden Aias. Die Schilderungen des Chors von der Initiierung einer Verleumdung, mehr noch: der Anstiftung zum Rufmord an Aias, stehen so in wirkungsvollem Kontrast zur tatsächlichen Geisteshaltung des Odysseus, der sich im Prolog als vorsichtiger Kundschafter und Anteil nehmender Betrachter erwiesen hatte.
Von den heroischen Qualitäten seines Herrn ist der Chor indessen weiterhin überzeugt. Die Thematisierung der größeren Angriffsfläche, die ein gesellschaftlich herausstehender Held gegenüber einem Normalmenschen biete (v. 154–157), dient dabei zugleich der Selbstcharakterisierung des Chores und der Darstellung seiner Ansichten: Im festen Menschen- und Gesellschaftsbild der Schiffsbesatzung begründen Adel und heroische, d.h. kriegerische Tugend den berechtigten Anspruch auf Gefolgschaft und Unterstützung (v. 161); auf Seiten des „Helden“ geht dabei eine zumindest implizite Verpflichtung zum Schutz seiner Untergebenen einher. Die Choreuten sind sich bewusst, welche Rolle sie in diesem wechselseitigen Gefüge spielen und in welcher Beziehung sie zu ihrem Herrn stehen. Ihre Schutzbedürftigkeit bejahen sie vorbehaltlos und stehen so in fester Treue zu Aias. Auf eine Selbstvorstellung ihrer Person oder gar auf Andeutungen ihrer Identität verzichten sie dementsprechend ganz; sie sind so ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zu Aias definiert.
Hinsichtlich der dramaturgischen Implikationen der Passage soll zunächst Folgendes festgehalten werden. Sophokles unterwandert mit der vorliegenden Partie eine mögliche Erwartungshaltung des Publikums: Statt die im wahrsten Sinne unerhörte nächtliche Tat des Haupthelden zum Gegenstand der ersten chorischen Wortmeldung zu machen, lässt er die Schiffsleute über das Personenspektrum der an der Handlung beteiligten Akteure räsonieren. Damit ist einerseits die Selbstverortung der salaminischen Schiffsleute in ansprechender Weise gelungen; zum anderen ermöglicht die Konzentration auf die beiden Hauptakteure des Prologs und Antipoden der gesamten Handlung – Aias und Odysseus – die besondere Absetzung der Partie vom Prolog. Die durch den Chor in der anapästischen Partie entworfenen Bilder der beiden Heroen stehen dem Eindruck, den das Publikum im Prolog erhalten hat, diametral entgegen: Aias, der in Wahn Gefangene, ist in der Imagination des Chors immer noch der strahlende Held, der seinen Untergebenen Schutz und Sicherheit garantiert, wohingegen Odysseus, den wir im Prolog als vorsichtigen, abwägenden und besonders mitfühlenden Anführer kennengelernt haben, hier nun als Anstifter des Rufmords gegen Aias figuriert. Das Verhältnis dieses ersten Teils der Parodos zum eben verklungenen Prolog ist dementsprechend von starker Kontrastivität geprägt: Vor allem in der Ausleuchtung der beiden Zentralfiguren der Handlung (Aias und Odysseus) sowie ihrer Beziehung zueinander ist die Einschätzung der Schiffsleute dem Informationsstand der Rezipienten entgegengestellt. Ein rein affirmativer Nachvollzug der chorischen Partie ist dem Zuschauer daher nicht möglich.
Der lyrische Teil des Einzugsliedes beginnt thematisch noch einmal an einem anderen Punkt. Die grobe Gedankenbewegung ist offensichtlich: Der Spekulation über die Ursache der Raserei des Aias folgt erneut die Beschäftigung mit dem zentralen Moment der üblen Nachrede, bevor die Aufforderung, Aias solle sich jetzt aus seinem Zelt begeben und den Gerüchten ein Ende machen, die Partie beschließt. Bevor wir uns der Dramaturgie der Parodos widmen, ist es geboten, die drei Strophen etwas genauer zu betrachten.
Die ganze erste Strophe ist eine direkte, zweigeteilte, an Aias adressierte Frage (σε v. 172, σοί v. 179):5 War es Artemis, die Tochter des Zeus, die6 – betrogen um den Dank für einen militärischen Sieg (τινος νίκας v. 176), die einem Feind abgenommene angesehene Rüstung (κλυτῶν ἐνάρων) oder den Erfolg bei der Hirschjagd (ἀδώροις7 ἐλαφαβολίαις)8 – ihn zu den Herden der Griechen getrieben habe; oder war es der mit seinem Beinamen Enyalios bezeichnete Ares9 (v. 179), der dem Helden so eine Schmähung (λώβαν) des Gottes beim gemeinsamen Waffengang (ξυνοῦ δορός v. 180) durch die „nächtlichen Machenschaften“ (ἐννυχίοις μαχαναῖς) heimzahlte?
In einer ausführlichen Periode hat der Chor damit zwei göttliche Mächte aufgeführt, die wegen eines möglichen Fehltritts des Helden an ihm nun Rache genommen haben könnten. In ihrer Bilderwelt von Krieg und Jagd sprechen die Choreuten dabei ganz aus der Erfahrungswelt des adligen Herrn, dessen zentrale Lebensbereiche damit abgesteckt sind.
Die Gegenstrophe liefert die Begründung (γάρ v. 182) der Annahme, Aiasʼ Handeln müsse göttlich motiviert gewesen sein, wobei die Schiffsleute immer noch ihren Herrn direkt ansprechen: Aus Überlegung und mit klarem Verstand (φρενόθεν v. 182) nämlich wäre er nie „so weit gegangen“ (ἔβας τόσσον) und in die falsche Richtung (ἐπʼ ἀριστερά) abgewichen. Es müsse daher, so die vorsichtig im Optativ formulierte Vermutung, eine „göttliche Krankheit“ (θεία νόσος v. 185) vorliegen. Das Zugeständnis göttlicher Beeinflussung (v. 184f.) mündet daraufhin gleich in den Wunsch, Zeus und Phoibos sollten die böse Rede der Griechen abwehren (v. 185f.).
Wenn aber (εἰ δʼ) die „großen Könige“ (μεγάλοι βασιλῆς v. 188), sowie der dem Geschlecht des Sisyphos entstammende König im Geheimen trügerische Reden verbreiteten (ὑποβαλλόμενοι κλέπτουσι μύθους v. 187f.), dann, so die Aufforderung des Chors, solle Aias sich nicht durch sein Bleiben im Zelt noch weitere üble Nachrede zuziehen (κακὰν φάτιν ἄρῃ v. 190). Was so als konkrete Ausgestaltung der φάτις und ihrer Verbreitung begann, schließt am Ende der Gegenstrophe in der konkreten Ansprache der Schiffsleute an ihren Herrn. Der in die durch geminiertes μή verneinte Aufforderung eingesetzte Vokativ ἄναξ (v. 190) kontrastiert dabei wirkungsvoll mit der bewussten, die Namen der Gegner vermeidenden Umschreibung im Konditionalsatz. Dass mit den „großen Königen“ die Atriden, mit dem Nachfahren des Sisyphos Odysseus gemeint ist, steht dabei außer Frage.
Mit Vers 190ff. setzt der Chor die Ansprache an seinen Herrn auch zu Beginn der Epode fort: Aias solle sich nun aus seinem Sitz erheben, wo er die Kampfespause verbringe und zugleich den verachtenden Übermut seiner Gegner immer weiter anfache. Poetisch kleidet der Chor den Sachverhalt dabei in das besonders eindrucksvolle Bild eines Waldbrandes,10 das die Motivik der Gegenstrophe prägt: Indem er nicht eingreift, entfache Aias eine „bis zum Himmel aufflackernde Ate“ (ἄταν οὐρανίαν φλέγων), während die furchtlose Hybris der Gegner unter dem geradezu bakchischen Taumel all derer, die durch ihre Reden äußerst Schmerzliches (βαρυάλγητʼ) hervorbrächten, in „luftigen Schluchten“ (ἐν εὐανέμοις βάσσαις) rase. Eine so knappe wie wirkungsvolle Bekundung des eigenen Leids der Schiffsleute (v. 200) beschließt daraufhin die Epode und führt aus dem poetischen Bild wieder in die dramatische Realität zurück.
Die Gedankenbewegung des dreistrophigen Liedes ist augenfällig: Während die erste Strophe mit Artemis und Ares zwei mögliche göttliche Verursacher der Raserei des Aias nennt sowie das eventuell zu Grunde liegende Fehlverhalten des Helden anreißt, konstatiert die Gegenstrophe erneut den Einfluss göttlicher Mächte und erbittet von ihnen konkrete Hilfe bei der Abwehr der im Lager der Griechen kursierenden Gerüchte. Die schließlich an den eigenen Herrn adressierte Aufforderung bildet die Überleitung zur Epode, die den als Hybris und Ate bezeichneten verbalen Ansturm der Gegner des Aias in einem poetischen Bild ausgestaltet.
Gegenüber der anapästischen Partie hat sich der Schwerpunkt der chorischen Darstellung nicht wesentlich verschoben: Mit der Thematisierung der üblen Nachrede und der Abwertung der aus Sicht des Chors dafür Verantwortlichen sind zentrale Momente der anapästischen Verse auch im lyrischen Teil prominent vertreten. Die Vermutungen hinsichtlich möglicher Ursachen für Aiasʼ Verhalten sowie die konkreten Aufforderungen, den Nachreden nun aktiv entgegenzuwirken, rahmen dabei die Auslassungen gegen die Atriden und Odysseus.
Betrachten wir nach dieser kurzen Auflistung thematisch-motivischer und struktureller Momente einige dramaturgische Aspekte der Parodos. Der Chor ist mit seinem Auftritt gleich mitten im Geschehen angekommen; keine lange Erzählung der Ereignisse der vergangenen Nacht oder Reflexionen über den Krieg oder die allgemeine Lage bilden den Auftakt der eigentlichen dramatischen Handlung nach dem Prolog, sondern die virulente Sorge der mit dem Protagonisten eng verbundenen Schiffsleute. Besonders fassbar wird dieser Umstand in der vom Chor intendierten Gesprächssituation: Die gesamte chorische Partie ist als Anrede an den nicht auf der Bühne präsenten Aias gestaltet. Nach dem im besten Sinne eigenartigen und vom eigentlichen Bühnengeschehen abgetrennten Prolog führt Sophokles mit dem Auftritt des Chors ins Zentrum der Handlung, d.h. zu Aias selbst, der zwar nicht real präsent ist, dafür allerdings als wesentlicher Bezugspunkt der chorischen Reflexion etabliert wird.
Das Verhältnis der Parodos zum Prolog ist dabei, wie schon gesagt, besonders kontrastiv: Die im lyrischen Teil erneut verbalisierte Geringschätzung des Odysseus – diesmal erweitert um die Spitze gegen die Atriden – verschärft das bereits entworfene negative Bild und steht im Gegensatz zu dem Verhalten, das Odysseus selbst im Prolog an den Tag gelegt hatte.
Hinsichtlich der Vorgeschichte der unmittelbaren Handlung gestaltet sich das Verhältnis von Prolog und Parodos bedingt durch den spezifischen Wissensstand des Chors ebenfalls spannungsreich: Der Chor ist über die Hintergründe der nächtlichen Geschehnisse sowie deren genauen Ablauf nicht informiert. Dementsprechend entfällt jede Thematisierung des Waffenstreits sowie Ausgestaltung der hinterszenischen Vorgänge um Aias. Die Spekulationen über göttliches Handeln als mögliche Ursache von Aiasʼ Verhalten in der Strophe (v. 172ff.) wirken dabei als besonderer Kontrapunkt zur im Prolog inszenierten Götterhandlung, die die wahren Umstände bereits deutlich gemacht hat.
Das Chorlied drängt dabei vor allem durch seinen imperativischen Charakter (vgl. v. 190ff.) sowie seine fortgesetzte Stilisierung als Ansprache des Haupthelden direkt zur dramatischen Handlung, indem es den Auftritt des Protagonisten herbeisehnt. Dass dieser sich allerdings durch die Einschaltung der Unterredung zwischen Tekmessa und dem Chor verzögert, wird die Spannung nochmals erhöhen. Das im Lied inszenierte Reden über Aias und seine Tat bzw. deren Folgen für die Angehörigen verdichtet so die dramatische Aufmerksamkeit. Anders gesagt: Die Parodos lenkt alle Konzentration auf Aias, indem sie die Beziehung zwischen ihm und seiner Schiffsmannschaft sowie das gestörte Verhältnis zwischen ihm und den anderen Griechen ausleuchtet.
Im Vergleich mit der Charakterzeichnung des vorangegangenen Prologs liefert sie dabei einen Gegenentwurf: Der um den bevorstehenden Suizid wissende Zuschauer antizipiert, dass Aias im Folgenden als gebrochener, gefallener Held auftreten wird, und weiß zugleich, dass die Stilisierung, die ihm der Chor zukommen lässt, mittlerweile ihrer Grundlage entbehrt. Entsprechendes gilt mit Blick auf Odysseus: Mit dem Wissen um sein Handeln im Prolog erscheint die in der Parodos gegebene Ausleuchtung seines Tuns als Zerrbild der von Sorge um Aias und sich selbst sowie von starker Antipathie gegen „die Griechen“ geleiteten Schiffsleute.
Amoibaion Tekmessa-Chor (v. 201–256)
Mit dem Auftritt der Tekmessa hat die eigentliche Parodos, d.h. das Auftrittslied des Chors, in Vers 201 ihr Ende gefunden. Die Erwartung des Chors allerdings, Aias möge erscheinen, ist enttäuscht worden. Statt seiner tritt Tekmessa, die Frau des Haupthelden1 auf, die, wie sie später angibt (v. 328ff.), sich auf den Weg zur Schiffsmannschaft des Aias gemacht hat, um die Freunde ihres Mannes um Unterstützung zu bitten.
Sophokles bedient sich an unserer Stelle eines Amoibaions, d.h. einer (klagenden) Wechselpartie zwischen einem Schauspieler und dem Chor,2 um Tekmessas Auftritt wirkungsvoll zu inszenieren. Indem er so den ersten Auftritt der eigentlichen Bühnenhandlung mit einem (zumindest in Teilen) lyrischen Formelement beginnen lässt, schafft er einen gleitenden Übergang zur vorangegangenen Parodos, die sich geradezu natürlich zu einem Wechselgespräch weitet. Zunächst soll die Struktur der Partie überblickt werden: Einem anapästischen Wechselgespräch zwischen Tekmessa und dem Chor(-führer)3 (v. 201–220) folgt eine lyrische Strophe des Chors (v. 221–232), auf die sich eine erneut anapästische Wortmeldung Tekmessas (v. 233–244) anschließt. Nach der die emotionale Reaktion der Schiffsmannschaft verbalisierenden Gegenstrophe des Chors (v. 245–256) kommt es Tekmessa in einem abschließenden anapästischen Abschnitt (v. 257–262) zu, die neuesten Entwicklungen zu berichten. Ein iambischer Doppelvers des Chors (v. 263f.) leitet daraufhin die folgende Sprechszene ein. Formal gesehen mag man die vorliegende Partie dementsprechend als anapästischen Austausch zwischen Tekmessa und dem Chor(-führer) betrachten, in den zwei metrisch korrespondierende Strophen des Chors eingeflochten sind.
Auf einen detaillierten inhaltlichen Nachvollzug der Partie im Einzelnen soll hier verzichtet werden, ein grober Überblick mag genügen. In ihrer ersten anapästischen Partie (v. 201–220) lenkt Tekmessa das Augenmerk mit einer den Chor einschließenden Bekundung der eigenen Sorge und Trauer (v. 202ff.) erneut direkt auf Aias: Er, der „Gewaltige, Große, mit roher Kraft Ausgestattete“ (ὁ δεινὸς μέγας ὠμοκρατής v. 205)4 kranke an einem „trüben Sturm“ (θολερῷ χειμῶνι v. 206f.). Der Chor fordert sie in seiner anapästischen Gegenrede anschließend auf (v. 208ff.), ihn über die aktuellen Geschehnisse in Kenntnis zu setzen; als „Lagergenossin“ (v. 210ff.) des Helden werde sie sicher nicht unkundig (οὐκ ἂν ἄιδρις) Auskunft geben können. Die Angesprochene zögert zunächst, stellt den Schiffsleuten dann allerdings in Aussicht, sie würden ein dem Tod geradezu gleiches Leid (θανάτῳ ἴσον πάθος) von ihr erfahren. Eine generelle Aussage stellt sie dabei an den Beginn ihres Berichts: Der in Wahn gefangene Aias sei in der Nacht in Schande geraten (ἀπελωβήθη v. 216f.). Einen virtuellen Blick in das Bühnengebäude eröffnet sie ihren Zuhörern mit den Versen 218–220: Innerhalb des Zeltes könne man blutbeschmierte, gespaltene „Opfertiere“ sehen. Damit ist die in Vers 346 erfolgende Öffnung des Bühnengebäudes (bzw. der Einsatz des Ekkyklemas) bereits vorbereitet und ein besonders schauderhaftes Detail zu antizipieren.
Die Reaktion der Schiffsleute auf die Beschreibung der Zustände im Innern des Zeltes bietet die Strophe v. 221–232: Die Botschaft Tekmessas sei zugleich untragbar und unentrinnbar (ἄτλατον οὐδὲ φευκτάν sowie ἀέξει v. 226); das Bevorstehende (τὸ προσέρπον v. 227) erfülle sie (die Schiffsleute) mit Furcht (φοβοῦμαι); Aias, der „berühmte Mann“ (περίφαντος ἁνήρ v. 228), werde sterben (θανεῖται), da er mitsamt den Weidetieren auch die Hirten getötet habe (βοτὰ καὶ βοτῆρας).
Tekmessa gibt daraufhin in den anapästischen Versen 233–244 eine zwar knappe, aber ausgesprochen drastische Schilderung von Aiasʼ Wüten gegen die Schafe; besonders erwähnt sie die Sonderbehandlung, die Aias zwei Widdern zukommen ließ: Während er dem einen Kopf und Zunge abgeschnitten habe, habe er den anderen an einen Pfeiler gebunden und ihn unter Ausstoßung übelster Schimpfreden (κακὰ δεννάζων) mit Peitschenhieben traktiert. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Gegenstrophe (v. 245–256) zeugt von tiefster Scham und Sorge: Es sei nun an der Zeit, mit verhülltem Haupt, d.h. unkenntlich, der Szenerie entweder zu Fuß oder auf einem schnellen Schiff zu entfliehen. Die Atriden, so der Chor, stießen heftige Drohungen gegen sie (καθʼ ἡμῶν v. 253), die Mannschaft des Aias, aus: Sie fürchteten sich vor dem „steinigenden Ares“, d.h. der Hinrichtung durch Steinigung, die sie mit Aias erleiden müssten. Ihn, so die abschließende Bewertung des Chors, halte ein „unnahbares Geschick“ (αἶσʼ ἄπλατος v. 256). Tekmessa referiert daraufhin in den abschließenden anapästischen Versen 257–262 die neueste Entwicklung: Aias sei geradezu blitzartig wieder zu Verstand gekommen, leide aber nun angesichts des durch ihn verursachten Unheils außerordentlich.
Mit einer von vorsichtiger Hoffnung angesichts des Wiedererwachens seines Herren getragenen Bemerkung des Chors in den Versen 263f. geht die Wechselpartie daraufhin fließend in den in iambischen Trimetern strukturierten Dialog über.
Im Folgenden sollen einige dramaturgische Implikationen der Partie genauer betrachtet werden. Während des Amoibaions tritt die eigentliche Handlung geradezu auf der Stelle: Tekmessa verleiht stattdessen ihrem Entsetzen, ihrer Trauer und ihrer Sorge um sich und ihren Mann Ausdruck, sie berichtet kurz, aber dennoch in eindrücklicher Weise von den Geschehnissen der vergangenen Nacht (v. 235–244), und endet schließlich mit der Aussage, dass Aias nun zwar zur Besinnung gekommen sei, sein Schmerz und Leid allerdings noch größere Ausmaße angenommen hätten. Der Chor antwortet auf die Andeutungen und Beschreibungen Tekmessas jeweils mit einer besonders emotionalen Bekundung seiner eigenen Betroffenheit und Furcht. Dabei erscheint die Äußerung der Seeleute zum sicheren Tod ihres Herrn in der ersten Strophe (περίφαντος ἁνὴρ θανεῖται v. 228f.) als tragisch-ironische Andeutung der kommenden Entwicklungen; dass dabei den Choreuten allerdings nicht der Selbstmord, sondern eine Strafe durch die Heereskommandanten vorschwebt, zeigt sich an der Parallelstelle der zweiten Strophe (v. 253ff.):5 Fürchtet der Chor in der ersten Strophe noch unbestimmt das „Herankriechende“ (φοβοῦμαι τὸ προσέρπον v. 227), d.h. die nicht näher bezeichnete unmittelbare Zukunft, so bezieht sich die Angst in der zweiten Strophe konkret auf den Tod durch Steinigung. Dem präsentischen φοβοῦμαι aus v. 227 steht dabei das intensivierende Perfekt πεφόβημαι (v. 253) gegenüber, was den Zustand virulenter Furcht unterstreicht.
An die Stelle des vom Chor herbeigesehnten Auftritts des Protagonisten ist also nach dem Ende der Parodos wiederum eine Passage getreten, in der über Aias und seine Taten gesprochen wird, er selbst aber nicht präsent ist und die Handlung dementsprechend ruht. Für Leserschaft und Publikum bringt der Wechselgesang (wie auch der folgende ausführliche Bericht Tekmessas v. 285ff.) bis auf den Umstand, dass Aias mittlerweile wieder bei Sinnen ist, keine weitere, im eigentlichen Sinne neue Information, sondern einzig eine detailliertere Beschreibung der in ihren Grundzügen bereits bekannten Vorgänge. Nach der Darstellung der Situation durch den Chor unter den für die salaminische Schiffsmannschaft entscheidenden Gesichtspunkten erfolgt hier allerdings ein Perspektivwechsel: Tekmessa ist nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern war als Einzige dem Geschehen so nahe, dass sie als Augenzeugin auftreten und die Geschehnisse mit einiger Detailgenauigkeit berichten kann. Ihre Ausführungen in v. 241ff. wirken dabei aus der Perspektive der Rezipienten wie eine nachträgliche Beschreibung des im Prolog vorgeführten Protagonisten und seiner Tat. Während Tekmessa so das Geschehen zwar wiedergibt, es aber nicht völlig auszudeuten vermag – sie weiß zum Beispiel nicht, dass Aias die beiden Widder für seine Widersacher hält6 –, verstehen die Rezipienten auf Grund der im Prolog mitgeteilten Informationen die Hintergründe. Dass dabei Tekmessas Bericht in Details von der im Prolog durch die Göttin gegebenen Erzählung abweicht, ist – wie auch KAMERBEEK festhält7 – ganz aus der dramatischen Situation zu verstehen; die so bewusst lancierte Ambiguität zwischen den beiden Berichten unterstreicht dabei die formal gänzlich verschiedene Wirkung von informierendem (Götter-)Prolog auf der einen und emotionaler kommatischer Partie auf der anderen Seite.
Der Kommos zwischen Tekmessa und dem Chor ist demnach ein erstes, das vom Chor herbeigewünschte Erscheinen des Haupthelden retardierendes Moment. Statt nach dem andeutungsreichen und bildmächtigen Prolog und der zweifelnden, von Hoffnung auf ein Wiedererstarken des Protagonisten getragenen Parodos die Handlung weiterzuführen, schaltet der Dichter hier ein erneut reflektierendes Element ein, das die Ausgangslage der Tragödie aus einer neuen Perspektive beleuchtet. Dass die Partie dabei zugleich als besonders umfangreiche und wirkmächtige Auftrittsszenerie Tekmessas dient, darf nicht verwundern:8 Die Komposition entspricht der dramaturgischen Relevanz der Rolle Tekmessas, die sich im Folgenden besonders in der Auseinandersetzung mit Aias selbst widerspiegeln wird. So ist Tekmessa zunächst der einzige Akteur auf der Bühne und somit alleiniger Gesprächspartner des Chors. Nach Aiasʼ Auftritt bildet sie den Widerpart des Protagonisten und bildet geradezu die Kontrastfolie seiner auf ein Höchstmaß gesteigerten heroischen Selbstbezüglichkeit. Bis zum Ende des ersten Epeisodions in Vers 595 steht sie so als Kontrapunkt des Protagonisten im Zentrum der Bühnenhandlung und ist integraler Bestandteil des dramatischen Gefüges.
Auch der folgende Dialog zwischen Tekmessa und dem Chor hat noch einmal die Wahnsinnstaten des Aias zum Gegenstand. Nach einer kurzen Erläuterung, dass ihr Mann jetzt, nachdem er wieder zu klarem Bewusstsein gekommen sei, größeres Leid zu tragen habe als vorher (v. 263–283), schildert Tekmessa auf Nachfrage des Chors erneut das gesamte Geschehen der vergangenen Nacht: Detailliert und an der Chronologie orientiert entfaltet sie vor dem Chor und dem Publikum die miterlebten Ereignisse. Ab Vers 310 ist sie in der dramatischen Gegenwart angelangt und beschreibt die Reaktion des aus dem Wahn erwachten Aias auf sein eigenes Tun. In einer weniger emotionalen Weise als noch im Amoibaion (beachtenswert sind v.a. die chronologische Reihenfolge des Erzählten sowie das Fehlen emotionaler Interjektionen) gibt sie hier also den zweiten und abschließenden Bericht über die unmittelbare Vorgeschichte der Bühnenhandlung. Erst die zunächst hinterszenischen Einwürfe des Aias und sein Erscheinen ab Vers 348 werden die Handlung erneut in Gang bringen.
Betrachten wir kurz die dramaturgische Gestaltung dieser Partie des Dramas bis zum erneuten Auftreten der Hauptperson. Schritt für Schritt deckt die Entwicklung nach dem Prolog bis zu diesem Punkt die Ereignisse vor dem Beginn des Dramas auf: In der Parodos ist der Chor über den genauen Hergang noch nicht informiert, sondern auf die im griechischen Lager zirkulierenden Spekulationen angewiesen. Viel mehr als die Tat selbst stand dabei für die Schiffsmannschaft, wie wir gesehen haben, die üble Nachrede, der Aias ausgeliefert ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Kritik. Der Auftritt Tekmessas lenkte daraufhin den Blick endgültig auf die Tat und ihre unmittelbaren Folgen für Aias selbst sowie für seine Angehörigen. Erst durch sie erfolgt die ausführliche Schilderung der einzelnen Vorgänge, die für die Zuschauer und Leser schon ab dem Prolog durch den Auftritt des blutverschmierten Helden bildmächtig präsent waren. Indem Sophokles die Parodos dabei organisch in ein Amoibaion münden lässt, komponiert er eine umfangreiche, insgesamt 128 Verse umfassende (v. 133–262), maßgeblich chorisch geprägte Partie. Dabei ist es allerdings nicht der Chor, der die unmittelbare Vorgeschichte des Dramas erzählt; vielmehr informiert eine andere Person die zunächst unwissenden Schiffsleute über den genauen Hergang der Ereignisse vor dem Beginn der Bühnenhandlung.