Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 2
Zu einer konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Dramen des Sophokles, ihrer Dramaturgie bzw. ihrer dramatischen Faktur kommt es bei den referierten, teilweise sehr theoretischen Ansätzen und Studien nur am Rande. Anders gesagt: Die Ablösung des dem Text verpflichteten werkästhetischen Standpunkts durch die vielfältig ausgestalteten performativen, soziokulturellen bzw. rezeptionsästhetischen Kategorien lässt eine vertiefte Fokussierung auf die Tragödie als dramatische Komposition geraten erscheinen. In derselben Weise glaube ich, die von GRUBER in Folge der „performativen Wende“ eingeforderte „Rekontextualisierung“83 der Tragödie um ein entscheidendes Moment erweitern zu können – schließlich ist auch die Wissenschaft nach der performativen Wende der Notwendigkeit nicht enthoben, nach den inneren Gesetzen einer Gattung, eines einzelnen Dramas zu fragen.
Während ferner mit der Studie von HOSE84 eine umfassende Interpretation der euripideischen Chorlieder vorliegt und sich die Arbeit von GRUBER85 den Chorpartien der aischyleischen Tragödien (freilich unter einem genuin rezeptionsästhetischen Standpunkt) nähert, gibt es in der Nachfolge von BURTON keine Gesamtschau der sophokleischen Chorlieder, deren Fokus auf einer textnahen Interpretation der Chorpartien sowie ihrer dramaturgischen Funktionalisierung läge.86
III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil
1. Sitz im Leben: song-and-dance culture, Kult, Polis
Es ist im Wesentlichen das Verdienst der philologischen und historischen Forschung im Anschluss an den performative turn der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die historischen, soziokulturellen und politischen Begleitumstände des Phänomens „Chor“ erneut in Erinnerung gerufen und es so innerhalb der Lebenswelt der griechischen Antike rekontextualisiert zu haben. Mit Blick auf die bereits im Forschungsabriss erwähnten Arbeiten im Allgemeinen sowie im Besonderen auf GRUBERs einleitende Ausführungen zur Einordnung des Chors in der griechischen song-and-dance culture und – mit einigen der speziellen Intention geschuldeten Abstrichen – seine Bemerkungen zum Chor als „Boden der Tragödie“1 kann sich der folgende Abriss in aller Kürze auf einige entscheidende Punkte beschränken. Dabei ist nicht intendiert, eine umfassende Einordnung der angesprochenen Phänomene zu geben oder größere historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern einzig einige Aspekte, die zum Verständnis des methodischen Rahmens dieser Arbeit sowie der Einzelanalysen notwendig sind, ins Bewusstsein zu rufen.
Chor, Chorgesang und (chorischer) Tanz waren bereits seit frühester Zeit2 ein gemeingriechisches, im Alltag fest verankertes Kulturphänomen;3 anders gesagt: Das Phänomen „Chor“ ist konstitutiver Bestandteil der als song-and-dance culture passend umschriebenen griechischen Gesellschaftsordnung. Als fester Bestandteil rituell-kultischer Anlässe und Handlungen kann besonders die Bedeutung des Chors für die griechische Religiosität kaum überschätzt werden:4 Als Repräsentation eines kultischen Kollektivs kommt ihm dabei eine besonders integrative und identitätsstiftende Rolle zu, der zudem das Moment der Öffentlichkeit innewohnt.5 Die Zuordnung gewisser Chöre und Formen chorischer Dichtung zu bestimmten kultischen Festen und ihre Assoziierung mit den entsprechenden Gottheiten ist dabei konstitutiv und prägt die Chorlyrik, der sich der folgende Abschnitt etwas genauer widmen wird, maßgeblich.
Die solchermaßen im kulturellen Horizont verorteten Chöre waren dabei nach Kriterien wie Geschlecht und Alter der Choreuten homogen zusammengesetzt und rekrutierten sich aus fest umrissenen Segmenten der Gesellschaft. Vor allem Knaben- bzw. Heranwachsenden- sowie Mädchenchöre waren dabei innerhalb der Erziehung und Bildung der Jugend von enormer Bedeutung.6 GRUBER betont dabei im Besonderen die Rolle der Erziehung zur „Ordnung“ (τάξις), die durch die chorische (bei jungen Männern: proto-militärische) Ausbildung geleistet wurde; er geht dabei soweit, anzunehmen, dass man die Begriffe „Chor“ und „Ordnung“ „im Verständnis der Antike […] fast gleichsetzen kann“.7
Es nimmt angesichts dieser Bündelung entscheidender sozialer und religiöser Dimensionen nicht wunder, dass die Chorkultur auch im politischen Kontext der griechischen Stadtstaaten, d.h. in der Polis-Kultur, institutionalisiert und instrumentalisiert wurde.8 Mit Blick auf die dramatischen Formen, deren Ursprung in den chorischen Gattungen zu suchen ist, ist die Förderung und Institutionalisierung des Dionysoskults im sechsten Jahrhundert von entscheidender Bedeutung:9 Diese zunächst in Korinth, später in Athen durchgeführten religionspolitischen Maßnahmen etablierten im Besonderen die Gattung des Dithyrambos in einem politischen Umfeld und verankerten die Chorkultur als elementaren Bestandteil der institutionellen Selbstvergewisserung und -inszenierung der Polis im Rahmen verschiedener kultischer Feste und Rituale.10
Wir dürfen also davon ausgehen, dass das (der Moderne meist fremde) Phänomen „Chor“ in der Lebenswirklichkeit der Autoren und Rezipienten der uns vorliegenden Tragödien einen entscheidenden Platz einnahm und in besonderer Weise mit einigen für das Selbstverständnis des Einzelnen und das der politisch-kultischen Gemeinschaft zentralen Assoziationen verbunden war.
2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie
Die früheste uns fassbare literarische Ausprägung der griechischen Chortradition stellen im Wesentlichen die überlieferten Reste der Dichtungen von Alkman, Stesichoros und Ibykos aus dem siebten bzw. sechsten Jahrhundert v. Chr. dar.1 Die für die frühe griechische Lyrik ohnehin typische schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, sich ein wirklich umfassendes Bild von den einzelnen Dichtern, den Gattungen oder dem literarischen Umfeld zu machen. Am greifbarsten ist uns das Genre der Chorlyrik daher erst in Form der beiden herausragenden Dichter Pindar2 (geb. 522 bzw. 518, gest. nach 446) und Bakchylides3 (Lebensdaten umstritten), die als geringfügig jüngere Zeitgenossen des Aischylos (525/24–456/55) parallel zum attischen Tragödienschaffen wirkten.
Als literarisch geformte Gebrauchsdichtung im besten Sinne war die Chorlyrik geprägt von einer Vielzahl verschiedener Gattungen und Formen, die je nach Anlass, religiös-kultischer Verortung, Darbietungsweise sowie Inhalt und Grad der Emotionalisierung des Liedes differenziert waren. Für uns sind diese vielfältigen Gattungen der Chorlyrik (z.B. Linos, Paian, Threnos, Hymenaios, Hyporchema, Embaterion, Hormos, Hymnos, Prosodion, Dithyrambos, Parthenion) nur noch in Ansätzen trennscharf zu greifen; das klarste Bild lässt sich auf Basis der Werke der beiden Dichter Pindar und Bakchylides vom Genos des Epinikions entwerfen, wohingegen andere Genera für uns reine Namen bleiben. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass sowohl Dichter als auch Publikum der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts mit den verschiedenen Charakteristika der einzelnen Gattungen auf Grund ihrer Verortung in der kulturellen Lebensrealität vertraut waren.
Die attische Tragödie ist sowohl kultisch, gattungstechnisch als auch hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Polis aufs Engste mit der Chorlyrik verknüpft – mehr noch: Sie ist selbst für Aristoteles eine genuin chorische Gattung.4 Dass sich die dramatischen Formen in Griechenland auf Grundlage der chorischen (Dionysos-)Dichtung entwickelt und von der Gegenüberstellung eines Vorsängers und des zugehörigen Chors ihren Anfang genommen hat, galt bereits Aristoteles als gesichert.5 Auch wenn dabei die genaue Rekonstruktion möglicher „protodramatischer“ Gattungen sowie die Zwischenstufen zwischen reiner Chorlyrik und bereits etablierter dramatischer Form im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind,6 ist es auch heute noch communis opinio, in kultischen, ursprünglich narrativen Dionysos-Gesängen, im Besonderen in den Dithyramben, die Keimzelle der attischen Tragödie zu sehen.7
Dabei spielt für das Anliegen dieser Untersuchungen weniger die detaillierte Entwicklung dieser Gattung eine Rolle. Festzuhalten bleibt, dass spätestens mit Thespis in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts8 der tragödientypische Dualismus von (Chor-)Gesang und Sprechpartien etabliert wurde.9 Der Übergang vom narrativ-reflektierenden Gestus der (frühen) Chorlyrik zu einer nachahmenden, dramatischen Form der Darstellung, in der dem Chor selbst eine gewisse Rolle zukommt, war damit geleistet.10
In der weiteren Entwicklung der Tragödie hat dann – vor allem durch Aischylos als erste zentrale Figur – die Ausweitung der Sprechpartien, die Einführung eines zweiten Schauspielers11 und die damit verbundene Kürzung der Chorpassagen das (für uns nach Aristoteles) charakteristische Profil der Tragödie als einer durch die Nachahmung von Handlungen bestimmten Bühnenform geprägt.12 Das fünfte Jahrhundert markiert dabei mit den Eckdaten 499/98 (erste Teilnahme des Aischylos am Agon) und 405 (Tod des Sophokles) bzw. 401 (posthume Aufführung des Oidipus auf Kolonos) den chronologischen Rahmen dieser Entwicklung und zugleich ihre Blütezeit. Ihren Sitz hatte diese neue Kunstform – komponiert in Tetralogien, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrspiel13 – innerhalb der Agone an bestimmten Dionysosfesten Athens: den Lenäen sowie den Großen (Städtischen) und den Kleinen (Ländlichen) Dionysien.14 Die tragischen Agone blieben nichtsdestoweniger im offiziellen Verständnis chorische Aufführungen, was sich an der Nomenklatur der entsprechenden Vorgänge zeigt.15
Dabei hat die Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik diese keineswegs vollständig absorbiert. Gerade im angesprochenen und anderenorts16 wesentlich ausführlicher beleuchteten institutionellen Rahmen der mit den attischen Dionysosfesten verbundenen Wettkämpfe hatte die Chorlyrik weiterhin ihren festen Platz: Am ersten Festtag der Großen Dionysien, also am Vortag des Tragödienagons,17 fand die Dithyrambenkonkurrenz der die Phylen repräsentierenden Chöre statt. Zudem fällt, wie bereits angesprochen, das Wirken der beiden herausragenden Lyriker Pindar und Bakchylides zum Teil mit der Schaffenszeit des Aischylos zusammen; die uns greifbarste Ausprägung der auftragsgebundenen Chorlyrik fällt dementsprechend in die Blütezeit der attischen Tragödie.
Auch hinsichtlich der Aufführungsbedingungen greifen Chorlyrik und Dramatik eng ineinander: Die Tragödien- und Dithyrambenchöre wurden in klassischer Zeit nicht durch professionelle Sänger, sondern von Bürgern (bzw. angehenden Bürgern) der Polis Athen gestellt;18 ein fester Schauspieler- bzw. Choreutenberuf bildete sich erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts heraus, während Sophokles der Überlieferung zufolge in seinen frühen Stücken noch selbst mitgespielt haben soll.19
Mit Chorlyrik und Dramatik haben wir es demnach mit zwei Ausprägungen der kultisch und politisch fest institutionalisierten (Gebrauchs-)Literatur zu tun, die miteinander in engstem Zusammenhang stehen. Das mit der Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik begründete generische Verhältnis der beiden Großgattungen erschöpft sich nicht in einem Nacheinander in sich abgeschlossener literarischer Phänomene. In geradezu sublimierter Weise hat die Gattung der Tragödie vielmehr mit dem für sie konstitutiven Chor ihre Keimzelle in sich integriert und, wie noch zu zeigen sein wird, transformiert. Gerade das institutionalisierte Nebeneinander der beiden Genres konstituiert dabei einen Rahmen gegenseitiger Beeinflussung und Nutzbarmachung. So verwundert es einerseits nicht, dass tragische Dichter auch Chorlyrik verfasst haben sollen (Sophokles wird die Autorschaft von Paianen zugeschrieben), andererseits ist ein Reflex der „Neuen Musik“, wie sie die Komposition der Dithyramben ab einem gewissen Zeitpunkt geprägt hat, in den Tragödien des Euripides zu finden.20
Auch dem tragischen Chor haften so trotz seiner Überführung und Implementierung in eine andere Gattung entscheidende Charakteristika der selbstständigen Chorlyrik und damit des kulturellen Phänomens „Chor“ an. Anders gesagt: Mit dem Chor ist ein den Zuschauern zutiefst vertrautes Moment der sie umgebenden und ihren Alltag maßgeblich prägenden song-and-dance-culture konstitutiver Bestandteil der Tragödie. Für den Rezipienten erfahrbar wird dieser Umstand in der eigentlichen Performativität des tragischen Chors, die in vielen Punkten der eines realen, d.h. der Lebenswirklichkeit entstammenden Chors entspricht: Der tragische Chor singt Lieder, die hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer (musikalischen) Form an real existierende Gattungen und Genres der Chorlyrik angelehnt sein können, er tritt als homogenes Kollektiv auf,21 seiner Performanz haftet im Rahmen des darzustellenden Mythos das Moment der Öffentlichkeit an, er ist mit einiger Regelmäßigkeit Träger gewisser angedeuteter oder ausgeführter Rituale (im Besonderen: Anrufung von Gottheiten) und hat „Zugang zum Bereich der Erinnerung“,22 d.h. kann sich gegebenenfalls Einsichten des kulturellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisses der Polis bzw. der Gesellschaft zu eigen machen.23
Für das ursprüngliche Publikum war das Phänomen Chor also sowohl in seiner rituell-lebensweltlichen Ausprägung als auch in seinen literarischen Formen (und demnach auch innerhalb der Tragödie) kein den Seh- und Lebensgewohnheiten fremdes Phänomen; vielmehr lässt sich mit LEY formulieren: „For Athenians, the tragic chorus was a part of their lives“.24 Als der Alltagskultur entspringendes Moment ist der Chor für GRUBER ein besonderes Identifikationsmoment, das geradezu eine Brücke zwischen der den tragischen Mythos zeigenden Heroenwelt und dem Erfahrungsbereich der Rezipienten darstellt;25 zwischen Chor und Zuschauer bestehe dementsprechend eine „natürliche Nahbeziehung“.26
Mit dieser performativen Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft zum (dionysischen) Chor der song-and-dance-culture ist ein Pol der von ZIMMERMANN sogenannten „janusköpfigen Natur“27 des tragischen Chors bezeichnet. Inwieweit der so verstandene Chor nun innerhalb der Tragödie selbst verankert ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.
3. Der Chor als Formteil der Tragödie
3.1 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona
Den tragischen Chor unterscheidet ein zentraler Umstand vom realen Chor, wie er zentraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der attischen Bürger war: Dem Chor kommt in jeder Tragödie eine je eigene, im Personenspektrum des Stücks verortete Rolle zu. Innerhalb der dramatischen Fiktion tritt der Chor demnach nicht als anonymer (dionysischer) Ritualchor auf, sondern nimmt an der Nachahmung der Handlung als (kollektive) dramatis persona teil.1 Als solche kann er klar benannt werden, steht zu den übrigen Personen des Stücks in einem konkret zu bestimmenden Verhältnis, kann über sich selbst sprechen und sich innerhalb seiner Ausdeutung der Situation verorten.2
Bereits in seiner Poetik formuliert so auch Aristoteles die Forderung, dass der tragische Chor ein den Schauspielern analoger Bestandteil des Dramenganzen sein soll:
καὶ τὸν χορὸν δὲ ἕνα δεῖ ὑπολαμβάνειν τῶν ὑποκριτῶν καὶ μόριον εἶναι τοῦ ὅλου καὶ συναγωνίζεσθαι μὴ ὥσπερ Εὐριπίδῃ ἀλλ’ ὥσπερ Σοφοκλεῖ. τοῖς δὲ λοιποῖς τὰ ᾀδόμενα οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μύθου ἢ ἄλλης τραγῳδίας ἐστίν· διὸ ἐμβόλιμα ᾄδουσιν πρώτου ἄρξαντος Ἀγάθωνος τοῦ τοιούτου. (1456 a 25f.)
Den Chor aber muss man wie einen der Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an der Handlung beteiligt sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen <bloße> Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. 3
Die geradezu vorbildliche Verwirklichung seiner Forderung sieht Aristoteles so in besonderem Maß bei Sophokles gegeben, dessen Chortechnik er nicht nur einerseits von der des Euripides, andererseits von der Praxis „anderer Dichter“ abgesetzt, sondern damit implizit empfiehlt und so zur nachahmenswerten Norm erhebt.
Damit ist das Spannungsfeld des tragischen Chors eröffnet, wie es sich hinsichtlich seiner Genese sowie seiner Verortung in der Tragödie selbst ergibt: Das aus der Lebenswirklichkeit sowie der an ihr orientierten (Gebrauchs-)Dichtung stammende Phänomen Chor bildet als konstitutiver Bestandteil der Gattung Tragödie nicht nur ihren literarischer Ursprung, sondern ist gänzlich in die dramatische Struktur eingepasst, selbst dramatisiert und somit in einer übergreifenden Ordnung geradezu aufgehoben.
Was lässt sich im Rahmen der hier zu gebenden Einführung zur Einbindung des Chors als einer kollektiven dramatis persona in den darzustellenden Mythos und die jeweilige Einzeltragödie festhalten?4
Im Bereich der mythologischen Tragödie, die den Anteil der tragischen Dichtungen mit zeitgeschichtlichem5 oder frei erfundenem Inhalt6 überwogen haben wird, bietet die Besetzung des Chors dem Dichter die nahezu größten Gestaltungsmöglichkeiten.7 So sind die zentralen Figuren der Handlung bei einem mythologischen Stoff bereits mehr oder minder vorgegeben, die Rollenzuweisung an den Chor jedoch unterliegt ausschließlich der dichterischen Gestaltung. Zwei grundlegende Möglichkeiten, den Chor einer Tragödie mythischen Inhalts zu besetzen, führt HOSE auf:8 Entweder stelle der Chor die Verkörperung einer vom Mythos bereits gegebenen und in ihm notwendigerweise handelnden Gruppe dar (z.B. die Freier der Penelope in einer Tragödie, die Odysseusʼ Heimkehr und Rache inszeniert), oder er bestehe aus Personen, „die in der jeweiligen Sage nicht explizit erscheinen, jedoch leicht aus dem Bereich, in dem die Sage angesiedelt ist, ergänzt werden können“.9 Dass in den überlieferten Tragödien die auf die zweite Art gebildeten Chöre weitaus überwiegen, ist auf Grund der von HOSE aufgeführten dramaturgischen Schwierigkeiten eines dem Mythos bereits immanenten Chors nachvollziehbar.
Die geplante Aussageabsicht der Tragödie, das intendierte Verhältnis der Personen zum Chor und die gesamte dramaturgische Komposition fließen so bei der Konzeption des Chors zusammen. Konkret gesagt: Indem Sophokles beispielsweise seinen Philoktet – im Gegensatz zu Aischylos und Euripides – auf einer völlig unbewohnten Insel sein Dasein fristen lässt, prägt er den Mythos gemäß seiner Konzeption der Tragödie und muss daher auch dem Chor eine speziell für diese Komposition passende Rolle zuweisen.10 Im Gegenzug kann man sich vorstellen, dass die Antigone eine völlig andere Tragödie wäre, wenn der Chor nicht aus dem politisch und religiös in das Leben der Polis eingebundenen Rat der Alten, sondern zum Beispiel aus den Frauen der Stadt Theben bestünde (vgl. die Konstruktion in der Elektra). Nicht nur das Verhältnis der Choreuten zur Protagonistin und zu Kreon, sondern auch die Gedankenwelt der chorischen Reflexion, ja sogar die Sprache innerhalb der Chorlieder und damit die ganze dramaturgische Komposition wären andersartig.11 Eine ähnliche Überlegung ergibt sich, wenn wir uns eine Aiastragödie vorstellen, in der nicht wie bei Sophokles die Schiffsleute des Protagonisten, sondern die des Odysseus oder sonstige griechische Soldaten den Chor bildeten.12
Im uns überlieferten Werk des Sophokles lassen sich hinsichtlich der Rollenidentität der Chöre zweckmäßiger Weise drei Kategorien bilden, die sozusagen das Spektrum der vom Chor dargestellten dramatis personae umfassen: So stellt der Chor in zwei Tragödien wehrfähige Männer13 dar (Philoktet14 und Aias), ebenfalls in zwei Tragödien Frauen (Trachinierinnen und Elektra) sowie in drei Stücken Greise (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos und Antigone). Diese drei Gruppen eignen sich besonders gut dazu, als Kategorisierungsmoment die Reihenfolge der Einzelinterpretationen im Hauptteil zu bestimmen.15
In der Regel hat der Chor zudem zu einer (oder mehreren) Person(en) eine herausgehobene Beziehung: Während dabei in einigen Fällen ein emotionales Nah- bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und dem entsprechenden Akteur vorliegt (vgl. das Verhältnis von Aias zu seinen Schiffsleuten), stehen sich andernorts Chor und Bezugsperson in unausgesprochener oder gar betonter Distanz gegenüber. Gerade der Gesprächssituation Chor-Bezugsperson kommt so bei der Interpretation der Tragödie besondere Bedeutung zu (vgl. im Besonderen die Gesprächssituation Protagonistin-Chor in der Elektra). Nicht in allen Fällen ist dabei die primäre Bezugsperson des Chors auch der Protagonist der Tragödie: Von besonderem Interesse ist in diesen Fällen die Verortung des Chors in seiner gegebenen Rollenidentität zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren des Stücks (vgl. Philoktet oder Antigone).
Die Interpretationen des Hauptteils werden versuchen, auf Grundlage der jeweiligen Rollenidentität bestimmte für die einzelne Tragödie prägende Muster innerhalb der sprachlichen Gestaltung der Chorpartien, der Gesprächssituationen zwischen Chor und Akteuren und der Verortung des Chors im Personenspektrum herauszustellen. Im Folgenden soll daher ein rascher Überblick einige formale Gegebenheiten der chorischen Präsenz in Erinnerung rufen, um die jeweils konkrete Ausgestaltung des Wechselspiels von Chor und Akteuren im Einzelstück genauer untersuchen zu können.