Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 3
3.2 Formale Gegebenheiten: Konventionalität – Dualismus Sprechpartien-lyrische Partien – Erscheinungsbild des Chors
Die attische Tragödie als eine zur Zeit des Sophokles innerhalb der Polis sowie der Lebenswirklichkeit der Athener fest verankerte Institution präsentiert sich in ihrer uns vorliegenden Gestalt als im besten Sinne „hybride literarische Form“,1 die aus verschiedenen (mehr oder minder selbstständigen) Genera und Formteilen zusammengesetzt ist. Sie unterliegt dabei einer Reihe von teilweise rigiden Konventionen, die teils ihrer Entstehungsgeschichte, teils ihrem institutionellen Rahmen, d.h. ihrem Sitz im Leben der Polis, teils gattungsinternen Gegebenheiten geschuldet sind.2 Obwohl aber die Gattung bestimmten Konventionen unterlag, gehen die einzelnen Dichter innovativ und kreativ mit diesen Regeln und Formgesetzen um, was auch den gelegentlichen Bruch mit einzelnen Konventionen einschließt.3 Anders gesagt: Man wird nicht fehlgehen, den Kompositionsprozess einer Tragödie gerade hinsichtlich ihrer formalen Struktur als kreative Auseinandersetzung mit den bestimmenden Polen von „Tradition und Innovation“ zu verstehen.4
Angesichts der Formung, die die einzelnen Bestandteile der Tragödie entweder in ihrem eigenständigen kultischen bzw. literarischen Umfeld oder im Rahmen der Gattung Tragödie erlangt haben, sowie der Institutionalisierung der Tragödie und ihrem Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten wird man davon ausgehen können, dass das Publikum mit den basalen Formteilen und Konventionen der Gattung bekannt war.5 Darunter verstehe ich kein poetisches Spezialwissen, sondern eine an den Sehgewohnheiten geschulte Vertrautheit und Erwartungshaltung, die durch die konkrete Gestaltung des Dichters entweder erfüllt oder konterkariert wird.6
Wenn auch der Entwicklungsprozess der Gattung nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen ist, bleibt eine Betrachtung der einzelnen Formteile von entscheidender Wichtigkeit.7 In Vorbereitung auf die Analyse der Einzeldramen, wie sie der Hauptteil dieser Arbeit bietet, sollen hier einige Bemerkungen8 folgen, um den Rahmen der im Wesentlichen unter formalen Gesichtspunkten stehenden Interpretation anzudeuten.
Die Tragödie, wie sie im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist auf Grund ihrer historischen Entwicklung formal besonders vielfältig, und diese Vielfalt lässt sich zweckmäßig nach der Art der Darbietung des dramatischen Texts gliedern: Auf der einen Seite stehen die gesprochenen (freilich metrisch komponierten) Passagen, die größtenteils den eigentlichen Akteuren, d.h. den je eine Person der Handlung verkörpernden Schauspielern zukommen, auf der anderen die gesungenen, mit Tanz unterlegten lyrischen Abschnitte, deren Darbietung im Wesentlichen dem Chor obliegt. Als Zwischenform können die rezitierten Partien angesehen werden, die im Wesentlichen klar funktionalisiert sind9 und sowohl dem Chor wie auch den Akteuren zukommen können.
Während bereits die Sprechpartien einen gewissen Formenreichtum aufweisen, der sich im Besonderen hinsichtlich der metrischen Gestaltung10 sowie der Sprechersituation differenzieren lässt,11 ist die Bandbreite der lyrischen Formen sowohl hinsichtlich der Metrik als auch der innerhalb des Dramas verwendeten oder verarbeiteten (chorischen) Gattungen besonders umfangreich.
Dass dieser Dualismus und die mit ihm einhergehende Zuordnung (Sprechpartien: Akteure; lyrische Passagen: Chor) freilich kein trennscharfes Gesetz darstellt, beweist zum einen die Einbindung des Chors in die Sprechpartien, zum anderen die von Akteuren entweder unter sich (Monodien12 oder lyrische Duette13) oder im Austausch mit dem Chor dargebrachten lyrischen Abschnitte (Amoibaia14 bzw. epirrhematische Passagen).15
Der Chor legt so rein formal gesehen ein doppeltes Erscheinungsbild16 an den Tag: Neben den in dieser Arbeit im Vordergrund stehenden Liedern und lyrischen Wechselpartien tritt der Chor auch mit den Personen des Dramas in Dialog oder schaltet sich in die Unterhaltung mehrerer Personen ein und nimmt so an den ausgewiesenen Sprechpartien des Stücks teil. Dabei tritt höchstwahrscheinlich der Chorführer aus der Riege der restlichen Choreuten heraus,17 spricht sozusagen in deren Namen und bedient sich der konventionellen Sprechverse des Dramas (meist iambischer Trimeter). In zwei Fällen erscheinen dabei solche Einschaltungen des Chors geradezu standardisiert und klar funktionalisiert: Zum einen kündigt der Chorführer oft den Auftritt sich nahender Personen an18 oder kommentiert den Abtritt von Akteuren.19 Zum anderen kommt es mit einiger Regelmäßigkeit dem Chorführer zu, einen längeren Monolog einer Person mit einer kurzen, meist einen iambischen Doppelvers umfassenden Bemerkung zu kommentieren; inhaltlich reichen die Kommentare dabei von Bekräftigung des bzw. Zustimmung zum Gesagten20 über größtmögliche Ambivalenz21 bis hin zur Warnung vor anstößiger Rede und der Mahnung, Maß zu halten.22 Gerade in Konfliktstichomythien bilden die Kommentare des Chorführers nach bzw. zwischen den Rheseis der Antagonisten solche moderierenden Einwürfe, die sich teils durch eine besondere Wertschätzung beider Monologe, und damit durch besondere Ambivalenz, auszeichnen, oder aber allgemein zur Mäßigung aufrufen.23
In beiden Fällen kommt den Äußerungen des Chorführers eine das Drama bzw. die entsprechende Szene strukturierende Bedeutung zu. Dass dabei auch der Verzicht auf die standardisierten Kommentierungen und Einwürfe einen besonderen dramaturgischen Wert haben kann, wird die Einzeluntersuchung am Rande ad locum erweisen.
Die mit Musik und Tanz versehenen Lieder24 (Parodos, gegebenenfalls Epiparodos sowie Stasima) dienen dagegen formal und oberflächlich betrachtet zunächst als zwischen die (meist durch Auf- bzw. Abtritte gegliederten25) Szenen gesetzte reflektorische Passagen26 zur Trennung größerer Abschnitte („Akte“).27 Sie unterliegen in ihrer metrischen sowie sprachlich-motivischen Komposition in besonderem Maß dem Gestaltungswillen des Dichters,28 der dabei u.a. auf die Gattungen der Chorlyrik sowie deren Konventionen zurückgreift.29 So tragen einzelne Chorlieder innerhalb der Tragödie eindeutig strukturelle und inhaltliche Merkmale gewisser Gattungen der eigenständigen, in der Regel im kultischen Rahmen zu verortenden Chorlyrik.30 Dabei sind, wie schon bei den Werken der selbstständigen (Chor-)Lyrik, sowohl Musik als auch Tanzfiguren für uns im Allgemeinen verloren. Wir dürfen indes, ungeachtet aller Diskussion um antike Musik im Allgemeinen sowie bestimmte performative Momente der antiken Tragödie im Speziellen, davon ausgehen, dass die in den Liedern vorherrschenden Effekte und Emotionen auch in der Vertonung ihren Niederschlag gefunden haben und so die Bühnenwirkung des jeweiligen Stückes verstärkten.31
Während die vom Chorführer vorgetragenen Sprechverse (meist32) eine direkte Kommunikation mit den Personen des Dramas darstellen, steht der Chor während seiner Lieder allein im Zentrum der Aufmerksamkeit und hat keinen direkten Gesprächspartner, mit dem ein Austausch zustande käme.33 In der Regel befindet sich während eines Chorliedes keine Person mehr auf der Bühne. Andernfalls tritt diese in den Hintergrund oder agiert stumm, wobei die Kommentierung der Handlungen dem Chor zufällt.34 Die Chorlieder in den Tragödien unseres Autors werden dabei – grob gesagt – inhaltlich durch Reflexion, Deutung und Verarbeitung sowie Vorahnung der dramatischen Handlung bestimmt;35 sie stehen so der Handlung als solcher zunächst gegenüber und ergänzen sie. Zu zeigen, in welchem Verhältnis diese Passagen zur Handlung, zum dramatischen Geschehen und den einzelnen Personen stehen, ist Aufgabe der Einzelinterpretationen im Hauptteil der vorliegenden Arbeit.36 Der folgende Abschnitt wird sich mit verschiedenen Techniken bzw. Strategien dieser spezifisch chorischen Reflexion beschäftigen.
IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien – Dramaturgische Funktionalisierung
1. Reflexion und Handlung
Innerhalb der Tragödie besteht, wie bereits festgehalten, zwischen Chor- und Sprechpartien1 nicht nur eine formale, für den ursprünglichen Rezipienten audiovisuell wahrnehmbare,2 sondern auch eine inhaltliche Differenz: Als im Wesentlichen reflektierende Partien eines Kollektivs3 stehen die lyrischen Abschnitte des Chors den eigentlichen dramatischen, d.h. die Aktion der Akteure darstellenden Teilen der Tragödie gegenüber.4
Da sich mit dem Chor ein im personellen Rahmen des dargestellten Mythos verorteter Sprecher, eine dramatis persona äußert, bilden den Gegenstand der Reflexion dabei allerdings letztlich das Bühnengeschehen bzw. mit ihm in Zusammenhang stehende Momente oder Phänomene. Auch wenn der Bezug der chorischen Partie zum dramatischen Rahmen nicht unmittelbar ersichtlich ist oder sich erst im Lauf des Liedes herauskristallisiert,5 ist bei unserem Dichter durchgängig ein Bezug der chorischen Reflexion zum Stückganzen bzw. zu entscheidenden Motiven festzustellen. Anders gesagt: Die chorische Reflexion steht immer in einem klar zu umreißenden Verhältnis zur eigentlichen Handlung oder zu ihr zu Grunde liegenden Motiven. Um den Nachweis der konkreten Anknüpfungspunkte und die Verortung der jeweiligen Chorpartien haben sich im Besonderen die dem (reinen) dramatis persona-Konzept verpflichteten Arbeiten verdient gemacht.6 Hinter die so deutlich vor Augen geführte Einbindung der chorischen Partien als Äußerungen einer dramatis persona zurückzufallen und, wie es die Sprachrohr-Theorie oder die Identifikation des Chors mit dem idealisierten Zuschauer insinuierte, die Chorpartien gänzlich von der Handlung zu trennen, ist auch angesichts der von der neueren Forschung betonten „otherness“ des Phänomens Chor und seiner Rekontextualisierung im politisch-kultisch-sozialen Umfeld nicht statthaft. Die Analysen des Hauptteils werden die chorischen Partien und ihre Reflexion dementsprechend immer als Äußerung der im Geschehen verorteten Choreuten verstehen.
Das Chorlied ist weiterhin, wie GRUBER formuliert, „der autonome Kommunikationsraum für die Lenkung der Perspektive des Zuschauers“.7 Dass den Liedern dabei genuin dramaturgische Funktionen wie die Steigerung oder Drosselung des dramatischen Tempos sowie die Gliederung und Strukturierung gewisser Abschnitte des Dramas oder des ganzen Stücks zukommen, ist folgerichtig; die Einzelinterpretationen des Hauptteils werden im Besonderen diese dramaturgischen Implikationen einer jeden Partie herauszustellen versuchen.
Bereits GRUBER gibt daraufhin einen kurzen Abriss verschiedener Punkte, die in der Reflexion des Chors eine Rolle spielen können: die Einblendung verschiedener Zeitebenen, die Eröffnung einer anderen Perspektive hinsichtlich des Handlungsraums sowie eine Interpretation des Geschehens nach „vertrauten Deutungsmustern“.8 Damit ist in aller Kürze bereits ein gewisses Panorama chorischer Reflexionsinhalte und -strategien umrissen, die sich auch bei unserem Autor finden. Um der tatsächlichen Fülle an reflektierenden Partien im Werk des Sophokles gerecht zu werden und angesichts der geradezu „chamäleongleiche[n] Multifunktionalität“, durch die sich nach WILLMS der Chor im attischen Drama auszeichnete,9 ist es geraten, der Untersuchung der einzelnen Dramen und Partien eine grundsätzliche Kategorisierung vorauszuschicken, die die zielgerichtete Untersuchung der Einzelpassagen und schließlich eine zusammenfassende Einordnung der behandelten Partien ermöglichen wird.
Mit den folgenden grundsätzlichen Überlegungen soll so ein theoretischer Rahmen eröffnet werden, der zum einen mögliche Vorgehensweisen chorischer Reflexion vorstellen, zum anderen ihre basale dramaturgische Funktionalisierung kurz anreißen wird. Mit Hilfe des so entwickelten Instrumentariums können die Analysen des Hauptteils die konkrete Ausprägung der hier allgemein entworfenen Sachverhalte untersuchen und ein detailliertes Bild der jeweiligen dramaturgischen Implikationen nachzeichnen.
Neben das bereits erläuterte und mit Blick auf die vorliegenden Tragödien konkretisierte Spektrum der Rollenidentität des Chors, in das die Person des Chors sowie seine Beziehung zu den Akteuren innerhalb des gesamten Stücks eingeordnet werden kann, treten dabei zwei weitere Spektren, die die Einordnung der Chorpassagen selbst ermöglichen sollen.
2. Spektrum II: Reflexionsstrategien
2.1 Begriffsklärung
Unter „Reflexionsstrategien“ soll der je eigene Zugang verstanden werden, den die Chorpartie bei der Beschäftigung mit ihrem Gegenstand beschreitet und der so die Chorpassage nicht nur in Bezug auf die in ihr verhandelten Momente der Handlung, sondern auch mit Blick auf ihre eigene sprachliche und poetische Gestalt maßgeblich prägt. Anders gesagt: Mit Reflexionsstrategie soll im Wesentlichen der Ansatz gemeint sein, der für die entsprechende Partie oder einen Teil derselben programmatische Bedeutung hat.
Mit Blick auf die Vielfalt und Verschiedenheit der chorischen Reflexionen unseres Autors lässt sich guten Gewissens keine Einteilung in fest umrissene Typen oder Kategorien vornehmen.1 Vielmehr soll hier versucht werden, das weite Spektrum verschiedener Reflexionsstrategien bzw. -ansätze zunächst von seinen Enden her aufzuzeigen. Diese im Folgenden aufgeführten Randpunkte verstehen sich dabei als geradezu theoretische Extreme, die sich einerseits gegenseitig kontrastiv definieren, andererseits in der konkreten Verwirklichung nie in Reinform auftreten; es wird daher den Einzelanalysen des Hauptteils zukommen, die jeweiligen Partien innerhalb dieses so umrissenen Spektrums einzuordnen.
Als Rahmenpunkte des Spektrums der Reflexionsstrategien sollen hier das Konzept einer thematisch-begrifflichen von einer imaginativ-visualisierenden Reflexion unterschieden werden. Diese Distinktion erfolgt dabei zwar zunächst abstrakt, versteht sich aber als an der Realität der Chorpassagen entwickelt.2 Mit Blick auf die Interpretationen des Hauptteils sind der Beschreibung des jeweiligen Reflexionsansatzes zudem einige die Interpretation leitende Fragen beigegeben; diese Leitfragen konstituieren so den methodischen Rahmen der Einzelanalysen.
2.2 Thematisch-begriffliche Reflexion
Unter thematisch-begrifflicher Reflexion verstehe ich eine chorische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen, der Handlung entspringenden bzw. mit ihr in Verbindung stehenden Gegenstand, die im Wesentlichen bestrebt ist, ein (oder mehrere) mehr oder minder abstraktes Thema (bzw. Themen) zu verhandeln. Ein solcher Ansatz bedient sich dabei gedanklicher und weitestgehend ungegenständlicher Konzepte: Geleitet von einer teils deskriptiven, teils argumentativen Logik versucht eine derartige Reflexion, durch den Aufweis von Gründen, Folgerungen, Einschränkungen, Beweisen u.Ä. das in Rede stehende Thema darzustellen, es argumentativ zu durchdringen und gegebenenfalls die Position des Chors dazu zu markieren.
Die Verbalisierung des Themas selbst kann dabei an verschiedenen Stellen innerhalb der reflektierenden Partie erfolgen, was den gedanklichen Aufbau der Passage wesentlich prägt. So kann eine Themenangabe durch ein Schlagwort bereits zu Beginn der Partie erfolgen,1 die Mitte der Ausführungen bilden oder das Ende der Reflexion markieren. Ebenso ist es möglich, geradezu leitmotivisch an verschiedenen Punkten der Passage das eigentliche Thema aufzurufen.
Das Thema selbst übt dabei wesentlichen Einfluss auf das Abstraktionsniveau und die sprachliche Gestaltung der Reflexion aus: So wird sich die Behandlung eines besonders unanschaulichen, spekulativen Themas (z.B. der Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals2 oder bestimmter menschlicher Grundeigenschaften3) von der eines dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung entnommenen Themas (z.B. der konkreten Unwirtlichkeit des Krieges4 oder der Schwierigkeiten des Überlebens unter widrigen Umständen5) hinsichtlich der gedanklichen Tiefe und der gewählten Formulierungen und Begriffe unterscheiden.
In welcher konkreten Beziehung das so behandelte Thema (und dementsprechend die gesamte Reflexion) zur dramatischen Handlung steht, kann dabei dezidiert ausgesprochen oder auch nur implizit angedeutet werden.6
Das Verständnis derartiger Reflexionen ist zunächst davon abhängig, das eigentliche Thema bzw. die Themen zu bestimmen bzw. zu umreißen. Die nachvollziehende Interpretation derartiger Partien legt ferner besonderen Wert auf das Verständnis der kausallogischen Verknüpfung der einzelnen Gedanken und das Erfassen der Gedankenbewegung, sowie gegebenenfalls auf die Rekonstruktion eines abstrakten, teils spekulativen Reflexionsrahmens, innerhalb dessen sich die konkrete Ausdeutung verorten lässt.
2.3 Imaginativ-visualisierende Reflexion1
Anliegen eines imaginativ-visualisierenden Reflexionszugangs ist es dagegen, ein möglichst plastisches, figuratives Bild zu entwerfen. Der dem dramatischen Geschehen entnommene Gegenstand der Reflexion wird so in eine oder mehrere imaginative bzw. visualisierende Szenen umgesetzt, die entweder detailliert und umfassend ausgestaltet oder im Sinne eines Schlaglichts kurz angerissen sein können. Dabei kann ein bildlich ausgestaltetes Motiv für eine Passage programmatische Wirkung haben und verschiedene Szenen miteinander verbinden.2
Es ist dabei von Zeit zu Zeit hilfreich, innerhalb dieses Reflexionsansatzes etwas weiter zu differenzieren: Unter Visualisierung soll das konkrete Sichtbarmachen eines der eigentlichen Handlung zugehörigen, den Rezipienten – d.h. dem Theaterpublikum – aber nicht erfahrbaren, weil hinterszenischen3 oder zurückliegenden4 Geschehens verstanden werden. Imagination meint dagegen die bildhafte Ausgestaltung eines der Handlung entsprungenen oder mit ihr in Zusammenhang stehenden Moments, das allerdings kein eigentliches zum engen Rahmen der Handlung gehörendes Geschehen darstellt. So kann beispielsweise eine der dramatischen Situation innewohnende Stimmung durch den Chor in einem Bild illustriert werden5 oder aber die Imagination von Orten oder Personen außerhalb des Handlungsorts zur Kontrastierung mit dem eigentlichen Geschehen erfolgen.6
Die Interpretation der durch den imaginativ-visualisierenden Reflexionszugang geprägten Partien hat ihr Augenmerk demnach im Speziellen auf die Gestaltung der poetisch-bildhaften Details zu richten und den Einsatz besonders prominenter poetischer Mittel (v.a. die Personifikation bzw. Prosopopoiie, gegebenenfalls die Narrativik der Passage) zu untersuchen. Gerade der Einsatz von Adjektiven, die Verortung des aufgeworfenen Bildes in Zeit und Raum (in Relation zum eigentlichen Bühnengeschehen) und das je eigene Verhältnis einzelner Bildebenen sind bei der nachvollziehenden Interpretation von besonderem Interesse.
3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung
3.1 Begriffsklärung
Dass den reflektierenden Chorpartien als Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers genuin dramaturgische Funktion zukommt, ist oben bereits angemerkt worden. Diese Arbeit verzichtet bewusst darauf, ein (theaterwissenschaftlich-)theoretisch fundiertes, modernes Konzept von Dramaturgie zu entwerfen. Was mit dem Begriff „Dramaturgie“ und der damit zusammenhängenden dramaturgischen Funktionalisierung bzw. den dramaturgischen Implikationen verstanden werden soll, muss dennoch in aller Kürze umrissen werden.
Dramaturgie meint im Rahmen dieser Arbeit die mit Blick auf die Lenkung der Aufmerksamkeit des Rezipienten vorgenommene Anordnung der einzelnen Formteile der Tragödie sowie ihre absichtsvolle Gestaltung im Einzelnen.1 Ganz vom jeweils dargestellten Mythos, dem Plot der Tragödie ausgehend, fragen die unter dem Schlagwort „Dramaturgie“ subsumierten Ansätze daher sowohl nach der Struktur der Tragödie im Ganzen, der Komposition ihrer Teile sowie der damit einhergehenden bzw. durch sie konstituierten Dramatisierung der eigentlichen Handlung bzw. der mit ihr in Zusammenhang stehenden Phänomene und Momente.
Entscheidende Untersuchungsgegenstände sind dabei unter anderem die Steuerung des dramatischen Tempos, d.h. der bewusste Wechsel von Partien, die die Handlung beschleunigen, und solchen, die den Fluss des Geschehens verlangsamen, sowie der Einsatz bestimmter Formelemente zur Strukturierung des Dramas. Der besondere Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf den Chorpartien sowie der chorischen Präsenz im Ganzen. Deren dramaturgischen Wert für das jeweilige Einzelstück herauszustellen sowie den Versuch einer Gesamtschau über die uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu umreißen, ist eine Hauptaufgabe der Untersuchung. Um den spezifischen dramaturgischen Wert einer untersuchten Chorpassage zu fassen, sollen dabei die durch ihre Gestaltung im Einzelnen sowie ihre Positionierung innerhalb des Stückganzen gegebenen dramaturgischen Implikationen aufgespürt werden. Konkret wird daher gefragt werden, wie einzelne poetische bzw. reflektierende Momente und Gestaltungsprinzipien dramaturgisch funktionalisiert werden. Im besten Fall lässt sich daraufhin die dramaturgische Funktion einer ganzen Partie möglichst konzise angeben.
Wie bereits bei den Reflexionsstrategien muss auch hier eine grundlegende Einordnung und Kategorisierung vorgenommen werden, die als Leitfaden für die Interpretation der Einzelpassagen dienen kann. Der Fülle an Ansätzen zur Reflexion sowie ihrer konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Chorpassagen steht auch hier eine besonders vielgestaltige und je im Einzelfall zu betrachtende Fülle an dramaturgischen Implikationen gegenüber. Wieder scheint es dabei geraten, von einem breitgefächerten Spektrum auszugehen, das am besten erneut über seine Ränder abgesteckt wird.
Da, wie eben ausgeführt, unter Dramaturgie im Wesentlichen die der jeweiligen Handlung angepasste, ihr entsprechende Komposition der einzelnen Formteile verstanden werden soll, spielt bei der Frage des Spektrums dramaturgischer Funktionalisierung das spezielle Verhältnis von chorischer Reflexion zu dramatischer Handlung eine entscheidende Rolle. Zwei Arten der Nutzbarmachung reflektierender Partien in Relation zur Handlung sollen dabei die Randpunkte des Spektrums bezeichnen. Wieder ist, wie oben, vorauszuschicken, dass diese beiden Punkte Extreme darstellen, die einzig den Rahmen umfassen, innerhalb dessen sich die konkreten, d.h. in den Stücken selbst zu erweisenden Funktionalisierungen und dramaturgischen Implikationen finden lassen. Inwieweit eine Realisierung des einen oder anderen Funktionalisierungskonzepts in Reinform anzutreffen ist, wird die Einzelanalyse ad locum zu ergründen versuchen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der beiden Funktionalisierungskonzepte untereinander und den Übergang von einem zum anderen. Auch diese Entscheidung muss jeweils in der Untersuchung der Einzelstelle bzw. der vorliegenden Tragödie erfolgen; eine Faustregel soll dabei erste Klarheit schaffen und den Blick auf die Problematik öffnen.
Im Bereich der möglichen Funktionalisierung chorischer Reflexion im Verhältnis zur Handlung sollen im Folgenden Fokussierung und Kontextualisierung2 als Eckpunkte des Spektrums unterschieden werden.3 Von der in diesem Spektrum verorteten dramaturgischen Funktionalisierung ist der jeweilige Rezeptionsansatz – thematisch-begrifflich oder imaginativ-visualisierend – dabei zunächst unabhängig. Das heißt, dass theoretisch eine thematisch-begriffliche Reflexion sowohl im Sinne einer Fokussierung als auch einer Kontextualisierung funktionalisiert sein kann; Entsprechendes gilt für imaginativ-visualisierende Reflexionen. Es ist die Aufgabe der Gesamtschau am Ende dieser Arbeit, auf Basis der Einzelanalysen das Verhältnis dieser beiden Spektren zueinander näher zu bestimmen; für den Moment, d.h. die theoretische Erarbeitung der als Instrumentarium der Analyse verstandenen Begriffe, interessiert diese Relation noch nicht.