Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 5

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3. praeliminaria
3.1 Datierung und Chronologie

Sowohl die relative wie auch die absolute Datierung der sieben uns erhaltenen Tragödien des Sophokles ist besonders umstritten.1 Der Mangel an äußeren Zeugnissen hat zur Folge, dass sich einzig die Aufführungen zweier Tragödien durch äußere Indizien sicher datieren lassen: Philoktet im Jahr 409, Oidipus auf Kolonos posthum im Jahr 401.2 Die Datierungsversuche der anderen fünf Stücke divergieren teils erheblich.3 Angesichts dieser grundlegenden Schwierigkeiten sowie der ohnehin dürftigen Kenntnis des Gesamtwerks unseres Dichters ist ZIMMERMANN zu Recht den Versuchen, Entwicklungslinien innerhalb der uns vorliegenden Stücke erkennen zu wollen, mit einiger Vorsicht entgegengetreten.4 Selbst aus der oft zu Rate gezogenen Stelle in Plutarchs de prof. in virt. (79 B), in der man ein verlässliches Selbstzeugnis des Sophokles über den Werdegang seiner Kunst gesehen hat,5 gewinnt man bei genauerer Untersuchung kein zufriedenstellendes Konzept, das aus sich heraus Anhaltspunkte für eine Chronologie der sieben uns erhaltenen Tragödien liefern könnte.6 Die Ansätze, aus den Tragödien selbst auf Basis innerer, d.h. sprachlicher, stilistischer,7 dramaturgischer oder sonstiger Kriterien eine Chronologie zu entwickeln,8 können daher keine letzte Gültigkeit beanspruchen.9 Auch die Datierung auf Grund von Anspielungen oder Reflexen auf außerdramatische Gegebenheiten innerhalb der Stücke ist letztlich nicht zwingend und vielfach äußerst spekulativ.10

Diese Arbeit will dementsprechend dezidiert keinen Beitrag zur Datierungsdebatte liefern. Es wäre methodisch völlig unhaltbar, aus der Untersuchung eines – wenn auch zentralen – Kompositionsmoments wie der dramaturgischen Einbindung und Funktionalisierung der Chorpassagen einen Maßstab gewinnen zu wollen, an dem sich die untersuchten Stücke chronologisch einordnen ließen.11 Angesichts der von ZIMMERMANN angedeuteten Gefahr von „Zirkelschlüssen“12 ist es zudem ratsam, den Einzelinterpretationen keine Vorstellungen von künstlerischer Entwicklung zu Grunde zu legen und so etwa von vorneherein davon auszugehen, der Gebrauch des Chors oder die dramatische Komposition der erwiesen späten Stücke Philoktet oder Oidipus auf Kolonos seien per se elaborierter als die der früheren Dramen.13

Da die vorliegende Arbeit alle sieben erhaltenen Stücke unseres Autors beleuchtet, muss eine Reihenfolge der Einzeluntersuchungen gefunden werden. Wie bereits angedeutet, ist dafür die Rollenidentität des Chors entscheidendes Ordnungsmoment; innerhalb der das Spektrum gliedernden drei Gruppen (wehrfähige Männer, Frauen, Greise) erfolgt die Reihenfolge der Einzelinterpretationen, wie oben bereits ausgeführt, dabei nach inhaltlichen Gesichtspunkten, die in der Gesamtschau ausgeführt werden sollen. Vergleiche oder kontrastive Gegenüberstellungen einzelner Stücke bzw. gewisser struktureller Momente werden sich dabei aus der Sache selbst ergeben und nicht allein auf Grund (angenommener) chronologischer Nähe ins Auge gefasst werden.

3.2 Text und Textkritik

Die lyrischen Partien der Tragödie gehören bereits auf Grund ihrer sprachlichen Schwierigkeit zu den textkritisch umstrittensten Abschnitten der jeweiligen Stücke. Während Gestalt und Sinn einzelner Abschnitte bereits innerhalb der hellenistischen Redaktion der Texte Anlass zu textkritischen Bemerkungen und vorgeschlagenen Änderungen boten (die uns zum Teil in den Scholien greifbar sind)1, ist im Besonderen die moderne Philologie von Beginn ihrer Beschäftigung mit Sophokles an den vielfältigen Schwierigkeiten des Texts zunehmend mit einer Flut an Konjekturen begegnet. Eine philologische, d.h. textnahe Auseinandersetzung mit den Tragödien und speziell den Chorpartien wird sich daher neben divergierenden Lesarten und größeren Textausfällen auch immer wieder den bald geglückten, bald zweifelhaften Rekonstruktionsversuchen moderner Gelehrter widmen müssen.

Nach PEARSON liegen mit der Ausgabe von LLOYD-JONES/WILSON die vollständig überlieferten Tragödien unseres Autors bereits in der zweiten Edition innerhalb der Oxford Classical Texts (OCT) vor. Als Zielpublikum ihrer Ausgabe (sowie der gesamten OCT) schwebt ihnen dabei „a wider circle of readers“2 vor, der sich nicht allein auf Mitglieder des akademischen Betriebs („professional scholars“) beschränke.3 Die selbstgestellte Aufgabe, diesem weiteren Adressatenkreis einen Sophoklestext zu bieten, der ohne größere Unterbrechungen gelesen werden kann,4 lässt die Herausgeber schließlich formulieren: „This policy has led us to adopt a number of emendations which may seem radical.“5 In der Tat zeigt sich bei der genauen Interpretation einiger (Chor-)Passagen, dass LLOYD-JONES/WILSON dazu neigen, sich gegen einen gut oder gar einhellig überlieferten Textbestand und für eine Konjektur oder einen anderen Eingriff in den Text zu entscheiden.6 Auch mit dem Setzen von cruces zur Bezeichnung verderbter Stellen sind sie bei weitem vorsichtiger als noch PEARSON,7 der im Ganzen gesehen einen wesentlich konservativeren, d.h. strenger am überlieferten Bestand orientierten Text bietet. Man fühlt sich daher gezwungen, der Kritik, die MARKANTONATOS grundsätzlich an modernen Editoren sowie im Speziellen an der Ausgabe von LLOYD-JONES/WILSON übt, zumindest in Teilen zuzustimmen:

It is sad that some modern editors of Sophocles have chosen to deviate from the time-honored paradosis, putting all their energies into proposing attractive but inessential changes so as to prove that the lectio tradita is incorrect. […] Lloyd-Jones and Wilson have produced a text which is more readable, but their willingness to accept uncertain readings as safe restorations of Sophoclesʼ words undermines their achievement.8

Die textkritischen Ausführungen im Rahmen der Einzelinterpretationen sollen dabei jeweils zum Verständnis der einzelnen Stelle beitragen; es ist dabei von Zeit zu Zeit geraten, dem Text von LLOYD-JONES/WILSON eine Alternative entgegenzusetzen. Im Umgang mit verderbten Stellen soll hier allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, letztgültige Entscheidungen zu fällen.

3.3 Abkürzungen, Zitation u.Ä.

Wie bereits in Teil A werden in den Einzelinterpretationen die zitierten Werke bei ihrer ersten Nennung mit vollem Titel zitiert, danach mit Verfassernamen und Jahreszahl.

Einschlägige Nachschlagewerke werden wie folgt abgekürzt:


LSJ A Greek-English Lexicon compiled by H.G. LIDDELL and R. SCOTT […] revised and augmented by H. St. JONES, 1961, Oxford.
KG R. KÜHNER/B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Satzlehre (zwei Bände) 41955, Hannover.
DKP Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Paulyʼs Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, bearb. und hrsg. v. K. ZIEGLER, W. SONTHEIMER und H. GÄRTNER, Stuttgart 1964–1975.
DNP Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. H. CANCIK/H. SCHNEIDER, Stuttgart 1996–2002.
RE Paulyʼs Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearb. beg. v. G. WISSOWA, fortges. v. W. KROLL u. K. MITTELHAUS, hrsg. v. K. ZIEGLER, Stuttgart u.a. 1893ff.
LIMC Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Zürich u.a. 1981ff.

B Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte

I. Chöre wehrfähiger Männer
1. Philoktet
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Neben dem Oidipus auf Kolonos ist die vorliegende Tragödie die einzige in Sophoklesʼ überliefertem Werk, deren Aufführung sich sicher, d.h. auf Basis externer Quellen, datieren lässt: Sie fand im Jahr 409 im Rahmen der städtischen Dionysien statt.1 Zunächst soll hier kurz die Handlung repetiert werden.

Philoktet, der vom sterbenden Herakles als Dank für letzte Dienste seinen Bogen samt Pfeilen geschenkt bekommen hatte, war den Griechen vor Troia zu einer unerträglichen Last geworden: Auf Grund eines Schlangenbisses am Fuß verletzt war er zum einen militärisch nicht mehr zu verwenden, zum anderen verhinderten seine Schmerzensäußerungen sogar die Durchführung kultischer Handlungen im Heereslager (vgl. v. 8f.). Die Atriden beschlossen daraufhin, ihn auf der Insel Lemnos auszusetzen, wobei Odysseus diese Aufgabe übernahm. Philoktet steht seitdem den militärischen Führern sowie insbesondere Odysseus mit besonderer Abneigung gegenüber.

Als die Belagerung Troias nach neun Jahren schließlich keinen erkennbaren Fortschritt mehr zeigt, erinnern sich die Griechen eines Orakels: Zur Eroberung der Stadt seien Philoktet, sein Bogen sowie die zugehörigen Pfeile notwendig.2 Auch die Rückholaktion übernimmt Odysseus, dem Neoptolemos, Achills Sohn, zur Seite gestellt ist. Das vorliegende Drama nun schildert beginnend mit der Ankunft dieser griechischen Gesandtschaft die Geschehnisse auf Lemnos selbst: Odysseus, der um Philoktets Groll gegen ihn weiß, kann Neoptolemos davon überzeugen, mit einer List das Vertrauen des Einsiedlers zu gewinnen, um so in den Besitz des Bogens zu kommen und die Rückführung nach Troia vorzube­reiten. Trotz seiner moralischen Vorbehalte willigt Neoptolemos ein und führt Odysseusʼ Plan zunächst zielstrebig aus, bis ein akuter Krankheitsausbruch bei Philoktet sein Mitleid erregt und er sich schließlich in offener Konfrontation mit Odysseus dazu durchringt, den zwischenzeitlich an sich genommenen Bogen an Philoktet zurückzugeben und ihm die Fahrt in die Heimat in Aussicht zu stellen. Erst der Auftritt des Herakles als eines deus ex machina kann Philoktet kurz vor der in Angriff genommenen Abfahrt davon überzeugen, sich dem Willen der Heeresführung zu beugen und mit Neoptolemos nach Troia zu segeln. Mit dem Auszug des Personals in Richtung Kriegsschauplatz endet die Tragödie.

Das vorliegende Drama ist, wie noch gezeigt werden wird, gerade in formaler Hinsicht bemerkenswert:3 Der im Rahmen der uns überlieferten Tragödien unseres Dichters einmalige Einsatz des deus ex machina,4 die fast ausschließliche Dialogisierung chorischer Partien und die besonderen Implikationen, die die von Odysseus erdachte Intrige sowie ihr Scheitern für den Ablauf des Stücks mit sich bringen, werden dabei im Folgenden besonders zu untersuchen sein. Eine Entscheidung unseres Dichters hebt sein Philoktet-Drama gegenüber den Bearbeitungen desselben Stoffs durch die beiden anderen Tragiker5 heraus: Sophokles lässt Lemnos unbewohnt sein, sodass Philoktet als Einsiedler sein Leben fristet.6 Den Chor, der so nicht aus Einwohnern der Insel bestehen kann, bilden, wie bereits erwähnt, die Schiffsleute des Neoptolemos, die zu ihrem Herrn in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber Philoktet allerdings eine je eigene Haltung an den Tag legen. Dass ihnen dabei einzig in der Mitte der Tragödie eine rein chorische Reflexion in Form eines Stasimons zukommt, ist ein besonders eigenwilliges Kompositionsmoment, dessen dramaturgische Implikationen zu beleuchten sein werden.

Zu den bereits erwähnten, genuin mythologischen Personen – d.h. solchen, die namentlich aus dem troianischen Sagenkreis bekannt sind – tritt des Weiteren ein Späher auf, dem als vermeintlichem Kaufmann in der durch Odysseus lancierten Intrige besondere Bedeutung zukommt.7

Interpretation
Prolog (v. 1–134)

Ausgangspunkt der Handlung ist die Ankunft von Odysseus und Neoptolemos auf der Insel Lemnos, die allein von Philoktet bewohnt wird. Odysseus informiert in einem Monolog (v. 1–25) seinen Begleiter – und damit auch das Publikum – über die wesentlichen Gegebenheiten, indem er den Ort der Handlung, die Vorgeschichte und die wissenswerten Umstände über die Zielperson Philoktet kurz thematisiert. Mit dem Auftrag, die Wohnhöhle des Gesuchten ausfindig zu machen, wendet er sich schließlich direkt an Neoptolemos (v. 16f.). Damit verbunden ist eine genauere Beschreibung der Lokalität, wie sie das Bühnenbild angedeutet haben wird. Die Höhle ist bald ausgemacht; die im folgenden kurzen Wechselgespräch (v. 26ff.) ausgetauschten Informationen machen deutlich: Dies ist ohne Zweifel die Wohnstätte Philoktets, der sie nur kurz verlassen zu haben scheint und sich wohl noch in unmittelbarer Nähe aufhält (v. 40ff.). Odysseus geht daraufhin dazu über, die eigentliche Mission sowie die anzuwendende Methode darzulegen:1 Auch wenn es für Neoptolemos eine schwierige, seiner Natur widerstrebende Aufgabe sei, müsse er die Seele des Philoktet geradezu mit Worten täuschen (v. 54f.), um ihn so zur Rückkehr ins Heerlager vor Troia zu bewegen. Neoptolemos solle angeben, er sei auf dem Rückweg vom Kriegsschauplatz, trage großen Groll gegen die Griechen, die die Waffen seines Vaters nicht ihm, sondern Odysseus übergeben hätten. Bei diesem Trugszenario, so Odysseus, könne er selbst auf Grund seiner Vergangenheit nichts ausrichten, Neoptolemos müsse es gelingen, die unbesiegbaren Waffen zu rauben (drastisch formuliert in der Wendung κλοπεὺς γενήσῃ v. 77f.). Auch wenn ihm diese Tat zunächst widerstreben sollte, so müsse er sie dennoch wagen; etwaige Bedenken hätten hier keinen Platz (v. 79–85).

Es folgt eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Prologsprechern, in der die von Odysseus intendierte Methode sowie deren moralische Einordnung diskutiert werden. Neoptolemos sei, so bekundet er, zwar bereit, Philoktet die Waffen unter Gewalt (πρὸς βίαν) zu entwenden, nicht aber durch List und Betrug. Odysseus argumentiert dagegen: Gewaltanwendung habe selbst gegen den invaliden Philoktet keine Aussicht auf Erfolg, und außerdem könne auch Neoptolemos, den ein Orakelspruch als Bezwinger Troias verheißen habe, ohne die in Frage stehenden Waffen sein Ziel nicht erreichen2. Achills Sohn ist schließlich überzeugt: Mit der Aussicht, bei Erfolg seines Plans sowohl „klug als auch gut“ genannt zu werden (σοφὸς κἀγαθός v. 119),3 gibt er alle moralischen Bedenken auf (πᾶσαν αἰσχύνην ἀφείς v. 120). Odysseus instruiert ihn abschließend (v. 123–132): Während Neoptolemos hierbleiben und Philoktet gegenübertreten solle, werde er selbst die Szenerie verlassen und, wenn die Zeit allzu lang zu werden drohe, den mitgebrachten Späher als Kaufmann verkleidet hinzuschicken. Mit einem Gebet um den Beistand von Hermes, Nike und Athene (v. 133f.) begibt sich Odysseus zu seinem Schiff und überlässt Neoptolemos die Situation. Mit Vers 135 beginnt daraufhin die Par­odos des Chors.

Folgendes soll zusammengefasst werden. Der vorliegende Prolog ist in dramaturgischer Hinsicht von herausragender Meisterschaft: Mit der Ankunft auf Lemnos beginnt das Drama mit dem natürlichen Anfangspunkt der darzustellenden Handlung; die Einführung in Ort, Zeit und Personal geschieht dabei ganz aus der dramatischen Fiktion heraus und bildet den Auftakt zur sich entspinnenden Bühnenhandlung. Gerade die Suche und Beschreibung der Wohnstätte des Philoktet ist von wirkungsvoller Drastik und sinnlicher Erfahrbarkeit; indem das Gespräch der beiden Akteure dabei den Schauplatz konkret ausleuchtet, bindet es die Handlung ganz intensiv an den Bühnenraum. Anders gesagt: Der in besonderer Weise gestaltete Bühnenraum ist selbst entscheidendes Moment der Handlung.

Der Hauptheld ist dabei zwar als Person nicht anwesend, aber dennoch durch die Beschreibung seines Lebensumfelds, der von ihm genutzten Werkzeuge und Einrichtungen sowie auf Grund der Annahme, er befände sich ganz in der Nähe, vor dem geistigen Auge der Akteure und des Publikums in hohem Maße präsent. Hier bereits wird der Auftritt des Prot­agonisten vorbereitet und rückt in den Erwartungshorizont der Rezipienten.

Mit den Instruktionen des Odysseus ist weiterhin der Ablauf des Stückes grob gezeichnet: Neben Philoktets Erscheinen ahnen Zuschauer (und Leser) ebenso mögliche Trugreden des Neoptolemos, den mit einiger Sicherheit erfolgenden Auftritt des Spähers und – als Kulminationspunkt – eine mögliche Konfrontation Philoktet-Odysseus bereits voraus.

Zugleich mit diesen dramaturgischen Implikationen zeichnet Sophokles im vorliegenden Prolog die Charaktere der beiden Akteure trennscharf und einfühlsam: Indem sich dabei über die moralische Bewertung der anstehenden Handlungen eine belebte Diskussion entwickelt (vgl. die Stichomythie der Verse 100–122), stellt schon der Prolog eine lebendige, konfrontativ-dialogisierende Szene dar; der Einstieg in das Drama präsentiert so nicht bereits fertige Ergebnisse in Form unwiderruflich feststehender Entschlüsse, sondern ist selbst schon Teil der dramatischen Problematisierung, der Auseinandersetzung mit einem der Handlung und der Personenkonstellation innewohnenden Sachverhalt.

Der Kunstgriff unseres Dichters, Philoktet auf einer unbewohnten Insel hausen zu lassen, wurde oben bereits erwähnt. Aischylos und Euripides folgten dagegen der Tradition4 und brachten in ihren Bearbeitungen die Einwohner von Lemnos gar als Chor auf die Bühne.5 Sophokles hat es dabei nicht versäumt, schon ganz zu Beginn der Tragödie auf diesen Umstand hinzuweisen (Odysseusʼ Feststellung über Lemnos: βροτοῖς ἄστιπτος οὐδʼ οἰκουμένη v. 2) und so die mögliche Erwartungshaltung des Publikums in besonderer Weise zu brechen. Nach dem innerdramatisch motivierten Abtritt des Odysseus, der in seinen Instruktionen den intendierten Gang der Handlung bereits insinuiert hatte,6 kann daher nicht der Auftritt der lemnischen Bevölkerung folgen. Die auf der Bühne präsente Personenkonstellation könnte sich daher einzig im Auftritt des Titelhelden selbst wesentlich öffnen, d.h. einen wirklichen Handlungsfortschritt inszenieren. Die ebenso der dramatischen Fiktion geschuldete andauernde Bühnenpräsenz des Neoptolemos macht darüber hinaus bereits vor dem Eintreffen des Chors deutlich, dass mit der Par­odosszenerie nichts unmittelbar Neues etabliert werden kann. Neoptolemos bildet in diesem Sinn geradezu die dramatische Brücke, die die beiden Formteile Prolog und Par­odos verbindet und so in einen durchgängigen Handlungsfluss einordnet.7

Par­odos bzw. Wechselgesang (v. 135–218)

Die Auftrittsszenerie des Chors1 gestaltet Sophokles an unserer Stelle als umfangreiche lyrische Partie, die die Formteile Par­odos und Kommos miteinander verknüpft und damit einen wirkungsvollen dramatischen Akzent setzt. Machen wir uns zunächst die formale Struktur des Ganzen klar, bevor wir die Passage im Einzelnen durchgehen.2

Das Wechselgespräch entwickelt sich zunächst in der Abfolge zweier Strophen des Chors (v. 135–143 sowie 150–185), auf die Neoptolemos in anapästischen Versen antwortet (v. 144–149 sowie 159–168, unterbrochen durch den Chor in Vers 161). Die folgenden zwei Strophenpaare des Chors (v. 189–190) werden durch Neoptolemos erneut in Anapästen kommentiert (v. 191–200), worauf sich wiederum ein Strophenpaar des Chors anschließt, das durch zwei kurze Zwischenfragen (v. 201 und 210) unterbrochen wird. Die folgende Tabelle soll dies verdeutlichen:


Sprecher Anzahl der Verse strophische Einordnung
Chor 9 „lyrisch“ Strophe A
Neoptolemos 6 anapästisch
Chor 9 „lyrisch“ Gegenstrophe Aʼ
Neoptolemos + Chor (!) 9 1 anapästisch anapästisch
Chor 11 „lyrisch“ Strophe B
Chor 11 „lyrisch“ Gegenstrophe Bʼ
Neoptolemos 10 anapästisch
Chor + Frage durch Neopt. 8 „lyrisch“ Strophe C
Chor + Frage durch Neopt. 8 „lyrisch“ Gegenstrophe Cʼ

Betrachten wir zunächst kurz diesen formalen Befund: Sophokles komponiert an unserer Stelle einen besonders vielfältigen Wechselgesang, der neben (lyrischer) Rede und (anapästischer) Gegenrede dem Chor Raum für eine ausführliche und ununterbrochene lyrische Ausleuchtung – geradezu eine Kurzode v. 169–190 – lässt und schließlich in ein bewegtes Vorausahnen des bevorstehenden Auftritts Philoktets mündet. Die Auftrittsszene des Chors zeichnet sich so – neben ihrer Länge von über 80 Versen – durch die Verbindung unterschiedlicher Formteile aus, mit der sich, wie der inhaltliche Durchgang zeigen wird, eine spezielle, gegliederte dramaturgische Wirkabsicht verbindet.

Die Passage soll im Detail nachvollzogen werden. Der Chor wendet sich mit seiner ersten Äußerung direkt an Neoptolemos, dem er als seinem „Herrn“ (δέσποτʼ) mit besonderer Verehrung gegenübersteht: Was, so fragen die Schiffsleute, müssen sie in der aktuellen Situation, d.h. als Fremde in der Fremde, verbergen, was dürfen sie gegenüber dem „argwöhnischen Mann“ (ἄνδρʼ ὑπόπταν) aussprechen (στέγειν ἢ λέγειν)? Neoptolemos soll ihnen dies darlegen, da er sich durch die spezifische Fähigkeit (τέχνα) eines Regenten in besonderer Weise auszeichne.4 Schließlich sei auf Neoptolemos, wenn auch jung (vgl. die Anrede ὦ τέκνον5), die gesamte altehrwürdige Macht (seines Vaters und von dessen Vorfahren) gekommen. Ein zweiter Imperativ schließt die Strophe ab und fordert den Angesprochenen erneut auf, darzulegen, wie der Chor ihm zur Seite stehen soll (ὑπουργεῖν).

Mit besonderen sprachlichen Mitteln gestaltet Sophokles einige zentrale Momente der Aussage. So prägt die Strophe ganz der emotional fragende Duktus des Chors: Das zu Beginn verdoppelte τί wird im folgenden Vers (136) wieder aufgegriffen und leitet zudem den letzten Vers (143) vor Neoptolemosʼ Antwort ein. Damit in Verbindung stehen die schon erwähnten zwei Imperative φράζε und ἔννεπε, einmal nach der durch τί eingeleiteten Frage, einmal davor. Das klangliche Spiel mit ξένᾳ ξένον spiegelt sich kurz danach in τέχνα τέχνας, was die beiden Pole des Reflexionshorizonts deutlich hervortreten lässt: auf der einen Seite die fremde und unbekannte Situation, auf der anderen die überlegene Qualität des Neoptolemos.

Der Angesprochene richtet den Blick des Chors in seiner ersten anapästischen Partie zunächst auf die Wohnstätte Philoktets (δέρκου θαρσῶν) und erbittet sich daraufhin vom Chor für den Fall von dessen Auftreten eine der Situation angemessene Unterstützung (τὸ παρὸν θεραπεύειν) unter seiner Anleitung (πρὸς ἐμὴν χεῖρα).

Der Chor unterstreicht in seiner Antwort (v. 150ff.) zunächst die enge Bindung zwischen ihm selbst und Neoptolemos: Gerade auf den Vorteil6 ihres Herrn bedacht zu sein, ist für die Schiffsleute schon lange (πάλαι) Gegenstand ihrer Sorge. Die Doppelung μέλον μέλημα bildet dabei (zusammen mit dem nachklappenden μοι) die sprachlich durch Alliteration und etymologisches Spiel herausgehobene Verbalisierung des innigen Vertrauensverhältnisses zwischen dem Chor und seinem jugendlichen Kapitän.7 Der Blick der Choreuten wendet sich im Anschluss erneut in die dramatische Gegenwart: Jetzt (νῦν δέ in Abgrenzung von bzw. Fortführung des πάλαι v. 150) solle Neoptolemos sie mit weiteren Informationen versorgen und ausführen, welche Behausung Philoktet genau bewohnt. Dies zu wissen sei sicherlich nicht unvorteilhaft (ἀποκαίριον), um nicht vom plötzlich heranstürmenden (προσπεσών) Einsiedler überrascht zu werden. Den Schluss der Gegenstrophe bildet die Aneinanderreihung von drei Fragen nach den genauen Umständen der Wohn- und Aufenthaltssituation Philoktets: „Um welchen Ort geht es genau, was ist sein genauer Wohnsitz, welchen Pfad benutzt er, d.h. wo ist er im Moment, in seiner Höhle oder außerhalb?“

Die referierte Passage spiegelt in gewisser Weise die erste Strophe wider und entwickelt sie auf Grund der bereits gegebenen Antwort weiter. Erneut ist die Äußerung des Chors, nach der Versicherung der Sorge um Neoptolemos, vom fragenden Duktus geprägt: Wurden bei der ersten Äußerung des Chors Instruktionen über das weitere Vorgehen erbeten, so steht hier nun die konkrete Information über die Zielperson und ihren Aufenthaltsort im Vordergrund. Wieder sind es vier durch eine Form von τίς eingeleitete Fragen, die sich um einen die Beantwortung erbittenden Imperativ gruppieren (λέγʼ v. 153).

Nachdem bereits Neoptolemos in Vers 146f. Philoktet zum Subjekt einer erwartbaren Handlung gemacht hat, tritt der Prot­agonist auch in der Gegenstrophe immer mehr in den Fokus der Betrachtung: War er zunächst nur reines Gegenüber (πρὸς ἄνδρʼ ὑπόπταν v. 136), so richtet sich das Interesse des Chors nun konkret auf sein Tun und seine Lebenswirklichkeit; Philoktet erscheint demgemäß als Subjekt der Fragen nach Wohn- und Aufenthaltsort (ναίει v. 154, ἔχει v. 154, 157), wobei sein Auftreten als konkrete Aussicht in die Reflexion einbezogen wird (προσπεσών v. 156).

Neoptolemos verweist zunächst wieder auf die „doppeltürige“ Behausung und wird daraufhin sogleich vom Chor unterbrochen, der sich nach dem aktuellen Aufenthaltsort Philoktets erkundigt (v. 161). Die Apostrophierung des Prot­agonisten in diesem Vers als ὁ τλήμων ist von besonderer Bedeutung: Zum ersten Mal innerhalb der lyrischen Partie wird die Figur des Haupthelden mit einem Adjektiv bedacht, das Mitleid und Anteilnahme von Seiten des Chors erkennen lässt. Der die Symmetrie der Sprecherverteilung (siehe Tabelle oben) brechende Vers enthält so eine Andeutung des im Folgenden bestimmenden emotionalen Blicks auf den Prot­agonisten; seine besondere Stellung korrespondiert mit der perspektivischen Verschiebung, die sich in den folgenden beiden Strophen des Chors (v. 169–190) zu einem ausgreifenden Panorama weiten wird.

Die Frage des Chors beantwortet Neoptolemos im Anschluss: Philoktet befinde sich, so viel sei ihm klar, in der Nähe auf Nahrungssuche; immerhin, so sage man (λόγος ἐστί), sei es die grundlegende Art und Weise seines Lebens,8 in mühseliger Weise mit seinen Pfeilen auf die Jagd zu gehen, wobei sich jedoch keine Linderung seiner Übel einstelle.

Die wesentlichen Fakten der dramatischen Situation sind so an den Chor weitergegeben; die Information über die aktuelle Lage hat damit ein Ende gefunden und ist, nach einer Bemerkung zum allgemeinen Zustand Philoktets, unversehens in die Imagination des von Schmerzen geplagten Jägers übergegangen. Gerade die eindrucksvolle Junktur στυγερὸν στυγερῶς bzw. σμυγερὸν σμυγερῶς9 sowie der Hinweis auf die fehlende – und damit impliziert: ersehnte – Heilung nehmen Abstand vom rein informierenden Sprachduktus und bieten der Ausgestaltung des konkreten Bildes den direkten Anknüpfungspunkt für die einsetzende Reflexion des Chors.10

So beginnt schließlich auch die zusammenhängende Passage chorischer Ausleuchtung mit der betonten Bekundung des eigenen Mitgefühls (v. 169). Dabei rahmen das Prädikat οἰκτίρω „Mitleid fühlen“ und das herausgehobene ἔγωγʼ „ich für meinen Teil“ das Objekt νιν, was die emotionale Nähe zwischen dem Chor und dem Prot­agonisten geradezu greifbar werden lässt. Grund und Gegenstand der Sympathie entfaltet das Folgende wortreich: Ohne je das vertraute Gesicht eines sorgenden Mitmenschen zu sehen, sei Philoktet zutiefst unglücklich und immerzu allein (δύστανος, μόνος αἰεί v. 172) – eine differenzierende und ausgestaltende Fortführung des so bedeutenden ὁ τλήμων aus Vers 161. Die eigentliche Ursache dieses Leidens benennt der Chor erneut unter betonter Stellung der Prädikate νοσεῖ und ἀλύει: Philoktet leide an einer bösartigen Krankheit und sei außer sich bei jeder neuen Anwandlung seiner Not. Der affektvollen Frage in Vers 175, wie Philoktet dem nur standhalten könne (πῶς ποτε πῶς ἀντέχει), antwortet ein gedoppelter Anruf (v. 177ff.) der Hände, d.h. der Macht und der Kunstgriffe, der Götter (παλάμαι θεῶν11) und der unglückseligen Menschengeschlechter, deren Leben das Normalmaß übersteigt (μὴ μέτριος αἰών). Damit schließt die Strophe nach der konkreten Mitleidsäußerung gegenüber Philoktet mit der Frage nach seiner augenscheinlich überragenden Leidensfähigkeit und einer generellen Einordnung in die moralisch-theologischen Kategorien von göttlichem Einfluss und menschlicher Maßüberschreitung.

Einen erneuten Blick auf den einsamen Helden wirft die Gegenstrophe. Unter der betonten Voranstellung des οὗτος – der Bezug ist jedem offensichtlich – entwickelt sie den Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit, den die Figur Philoktets in den Augen des Chors darstellt: Er stehe zwar hinsichtlich seiner Abkunft einem Spross vornehmer Familien in nichts nach, friste aber dennoch sein Leben aller Dinge beraubt (πάντων ἄμμορος), einsam und getrennt von anderen Standesgenossen unter wilden Tieren. Von Schmerzen und Hunger geplagt leide er so an nicht zu beschwichtigenden schweren Sorgen (ἀνήκεστʼ ἀμερίμνητα βάρη). Dabei begleite sein jammervolles Klagen (πικραῖς οἰμωγαῖς) das Echo.12

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