Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 7
Erstes Epeisodion (v. 219–675)1
Unter zwei Gesichtspunkten ist das folgende Epeisodion für unsere Untersuchung von Bedeutung: Zum einen überrascht seine ausgreifende Länge: Erst nach Vers 676 – also nach mehr als 450 Versen – werden mit Philoktet und Neoptolemos die zentralen Akteure die Bühne verlassen und der Chor sein (erstes) Stasimon beginnen.2 Das umfangreiche Epeisodion umfasst dabei das erste Gespräch zwischen Neoptolemos und dem aufgetretenen Philoktet, das Erscheinen und den Abtritt des von Odysseus bereits im Prolog angekündigten (vorgeblichen) Kaufmanns (v. 126 bzw. 627) sowie eine erneute Unterredung der beiden verbliebenen Personen. Sophokles lässt dabei Auf- und Abtritt des dritten Schauspielers zu einem wesentlichen Strukturmoment des Epeisodions werden, das die Handlung bedeutend voranbringt: Die durch den Kaufmann intendierte Eile (vgl. v. 620) prägt das weitere Geschehen und bietet zur vorangegangenen Unterredung zwischen Neoptolemos und Philoktet in ihrer ausgreifenden Weitschweifigkeit einen wirkungsvollen und dynamischen Gegenpol.
Von besonderem Interesse sind weiterhin die im besten Sinne sparsam,3 aber mit besonderer Absicht eingebundenen chorischen Äußerungen innerhalb des ersten Epeisodions. Neben der standardisierten Auftrittsankündigung v. 539ff. und der kurzen, aber bedeutsamen Kommentierung v. 317f. fallen dabei besonders die beiden metrisch korrespondierenden Strophen v. 391–402 sowie 506–518 ins Auge. Machen wir uns vor einer kurzen Analyse dieser Partien den Ablauf der Situation überblicksartig klar.
Mit dem Auftritt des Protagonisten in Vers 219 entspinnt sich zwischen ihm und Neoptolemos eine erste Unterredung, in der die beiden Gesprächspartner die nötigen Informationen untereinander austauschen. Zunächst ist es an Philoktet, Herkunft, Namen und Zielort seines Gegenübers zu erfahren: Die Freude, Griechen getroffen zu haben (v. 234f.), wird dabei durch die Überraschung, gerade den Sohn Achills vor sich zu wissen, noch übertroffen (v. 242) und findet im Erstaunen über die Teilnahme des jungen Mannes am Kriegszug gegen Troia seinen Höhepunkt (v. 246). Neoptolemos – ganz seiner Rolle innerhalb der Intrige gemäß – gibt sich unwissend (v. 253) und bietet so dem Protagonisten die Möglichkeit zu einer umfangreichen Vorstellung seiner Person, der Vorgeschichte und der momentanen Situation (v. 254–316). Schon oben wurde auf die besondere Einbindung dieses Monologs in den Ablauf der expositorischen Teile des Dramenbeginns hingewiesen. Es reicht daher, Folgendes zu bemerken: Die Zuschauer – ebenso wie die an der Szene beteiligten dramatischen Personen – erfahren aus dem Mund Philoktets keine wesentlichen neuen Informationen; die emotionale Ausgestaltung der sogar Neoptolemos bereits bekannten Fakten (Philoktets Identität, seine Krankheit, Aussetzung, Ernährung auf der Insel sowie deren Beschaffenheit und die daraus folgende Einsamkeit) lässt allerdings aufhorchen. Indem hier der Betroffene selbst zum ersten Mal umfangreich seine Perspektive der Dinge darlegt, wird aus dem bisher maßgeblichen Reden über den Protagonisten die Selbstdarstellung des entscheidenden Charakters. Dass mit den Ausführungen Philoktets die Imagination des Chors in gewisser Weise gespiegelt bzw. beantwortet wird, ist oben schon erwähnt worden.
Es überrascht daher nicht, dass die erste Kommentierung des Monologs (v. 317f.) gerade dem Chorführer zufällt; vielmehr ist dieser anscheinend standardisierte Hinweis auf die Sympathie mit dem Sprechenden bewusst in den Zusammenhang eingepasst.4 Machen wir uns klar: Philoktet hatte zum Abschluss seiner Ausführungen dargelegt, wie zufällig und unfreiwillig auf Lemnos Gelandete ihn zwar mit Worten bedauerten, ihm Essen und Kleidung bereitstellten, ihn jedoch trotz seiner Bitten nicht nach Hause brächten (v. 305ff.). Nach einer zusammenfassenden Verfluchung der aus Sicht des Protagonisten für seine Leiden verantwortlichen Heerführer bekundet schließlich der Chor sein Mitgefühl: „Auch ich scheine gleich den hier angekommenen Fremden dich zu bemitleiden, Sohn des Poias“ (v. 317f.). Bemerkenswert ist dabei der Rückgriff auf den Beginn des zweiten Strophenpaars: Hatte dort die zweite Strophe in Vers 169 mit den Worten οἰκτίρω νιν ἔγωγʼ – also der betonten Formulierung einer eigenen Position – begonnen, so bietet die Formulierung an unserer Stelle κἀγὼ ἐποικτίρειν σε sogar eine wörtliche Reminiszenz. Die kurze, formal dem Standard chorischer Kommentierung folgende Äußerung ruft so erneut die ausgreifende Imagination und deren emotionale Färbung ins Gedächtnis; die Ausführungen des Protagonisten werden endgültig zur lyrischen Partie vom Eingang des Stücks in Beziehung gesetzt, geradezu gerahmt und damit fest im motivischen Ablauf der einzelnen Teile verortet.
Die Frage, ob der Chor an unserer Stelle echtes Mitleid bekundet oder geradezu heuchelnd zum Mitspieler der Intrige wird, ist so schwierig wie umstritten – und für die vorliegende Untersuchung von geringer Bedeutung. Ein rascher Blick auf die gängigen Ansichten soll genügen: Während BURTON bemerkt „the coryphaeus comments on Philoctetesʼ speech with an expression of pity“5 und KAMERBEEK vorsichtig anmerkt: „some irony is perhaps to be perceived“,6 ist sich SCHMIDT sicher:
Es bleibt völlig im Unklaren, ob er [sc. der Chor] wirklich beeindruckt und von echtem Mitleid erfaßt ist oder ob ihn der Einsame nur wie die vorher Angekommenen dauert, die ihm kleine Trostgaben zukommen ließen. […] Nach den bewegenden Strophen in der Parodos läßt sich eine herzliche Teilnahme an den Klagen des Ph[iloktet] erwarten, wie sie einige Interpreten deshalb auch gefunden haben. Statt dessen reagieren die Seeleute jedoch mit allem Bedacht verstellt!7
Sicherlich weist SCHMIDT dazu mit Recht auf die „geschraubte Formulierung“ hin, „die, in sich schon zweideutig und vage, durch das ἔοικα noch halb wieder zurückgenommen wird“.8 Ob man allerdings dem Chorführer eine innere Anteilnahme gänzlich absprechen kann, scheint mit Blick auf die Reminiszenz an Vers 169 und der dort ausgedrückten emotionalen Einbindung fraglich. Die durch die Formulierung intendierte Ambivalenz ist zwar offenkundig, lässt sich allerdings aus der dramatischen Situation heraus als ein vorsichtig abwartendes und dennoch strategisch kluges Herantasten an die beherrschende Figur des Protagonisten deuten.9 Der Wahrheitsgehalt der Mitleidsbekundung steht dabei zunächst nicht zur Debatte. Anders gesprochen: Die kurze Kommentierung durch den Chor(-führer) bietet den Auftakt für die sich anschließende Unterredung zwischen Philoktet und Neoptolemos und ist zu diesem Zweck so unverfänglich wie möglich.10 Ob dabei einem Gefühl der Anteilnahme Ausdruck verliehen wird oder die Bemerkung als reine Verstellung zu werten ist, bleibt zunächst unbeantwortet, ja wird bewusst in der Schwebe gehalten. Solange die sicherlich intendierte Ambivalenz der Aussage vom Rezipienten wahrgenommen wird und so ihre Wirkung entfaltet, ist eine Diskussion der inneren Beweggründe des Akteurs von geringerer Bedeutung.
Zunächst sollen die weiteren Äußerungen des Chors innerhalb des Epeisodions betrachtet werden. Dem kurzen Wechselgespräch der beiden Akteure in den Versen 319–342, in dem der Protagonist mit der Nachricht vom Tod des Achill konfrontiert wird, schließt sich die ausführliche Trugrede des Neoptolemos an (v. 343–390). Wortreich schildert er darin seine (angebliche) Kränkung durch Odysseus und die Atriden, die ihm die Waffen seines verstorbenen Vaters vorenthielten. Wirkungsvoll wird dabei die erfundene Situation durch die scheinbar wörtlich wiedergegebenen Reden der Beteiligten (Atriden, Neoptolemos selbst sowie Odysseus) ausgestaltet (v. 364–367, 369f., 372f. und 379–381). Diese heftige Auseinandersetzung, so Neoptolemos, sei der Grund für seine Abreise von Troia gewesen (v. 383). Letztlich mache er jedoch nicht Odysseus, sondern die Atriden für die erlittene Entehrung verantwortlich; deswegen sei ihm selbst und den Göttern jeder willkommen, der den in Rede stehenden Anführern feindlich gesonnen sei (v. 385–390). Dabei bildet diese implizite Verfluchung den Schlusspunkt der Ausführungen, der durch das vorgeschaltete λόγος λέλεκται πᾶς (v. 389) besonders herausgehoben ist. Der über die Intrige informierte Zuschauer und Leser hört den jungen Mann an dieser Stelle geradezu aufseufzen: Er hat sich bei seiner ersten Begegnung mit Philoktet bewährt, seine moralischen Zweifel überwunden und eine überzeugende Trugrede dargeboten, die ihre Wirkung nicht verfehlen wird.
Von besonderer Bedeutung für unsere Untersuchung sind die folgenden Verse 391–402. Sophokles lässt auch hier auf einen wichtigen Monolog eine kurze Kommentierung durch den Chor folgen, erweitert allerdings den standardisierten Doppelvers11 (vgl. v. 317f.) hin zu einer vollklingenden Orchestration der verklungenen Rhesis des Akteurs. Der formalen Analyse der Passage wird ihr inhaltlicher Nachvollzug und ihre motivische Einordnung folgen.
Eingeschaltet ist an unserer Stelle eine im Wesentlichen in iambischen und dochmischen Versen12 komponierte Strophe,13 die ihre metrische Entsprechung in den Versen 507–518 finden wird. Diese – zumindest in den Tragödien unseres Dichters14 – einmalige Konstruktion15 eines durch Sprechpartien der Akteure geteilten Strophenpaars stellt zunächst ein wesentliches und wirkungsvolles Strukturmoment der Szene dar. Die Einschaltung der lyrischen Partie bedeutet in diesem Sinn in beiden Fällen zunächst eine Unterbrechung des Handlungsflusses; Zuschauer und Leser sind sich gleich mit dem Strophenbeginn der besonderen Aufmerksamkeit bewusst, die der aktuellen Szenerie durch die lyrische Zäsur beigelegt wird. Der Grund dieser herausgehobenen Gestaltung an unserer (ersten) Stelle ist offensichtlich: Wie schon ausgeführt, hat der Monolog des Neoptolemos die Realisierung der im Prolog geplanten Intrige geleistet.16 Die umfangreiche Schilderung Philoktets in den Versen 254–316 hat damit ihre Beantwortung gefunden: Nachdem der Protagonist seine Vorgeschichte detailliert vorgebracht hatte, referierte Neoptolemos mit der fiktiven Streitszene das angeblich ausschlaggebende Ereignis der momentanen Situation. Die Vorstellung der beiden Akteure ist damit beendet, beide sind über den Hintergrund, die aktuelle Situation und die Absichten bzw. Wünsche des jeweils anderen informiert. Die mutwillige Täuschung des Protagonisten durch seinen Gesprächspartner und die damit forcierte Informationsungleichheit zwischen Philoktet und den restlichen Akteuren sowie den Rezipienten erfüllt die Szenerie dabei mit enormer Brisanz.
Wenden wir uns dem Inhalt der Partie zu. Die gesamte Strophe ist eine Anrufung der Erde (Γᾶ), deren Rang als Göttermutter ihr eine besondere Verehrung zukommen lässt. Die Ansprache der Gottheit im ersten Vers ist dabei durch zwei der Namensnennung vorangehende Adjektive sowie eine folgende Angabe zur genealogischen Einbindung ausgestaltet, die drei besondere Eigenschaften der Gottheit vor Augen führen und damit die Identifikation mit drei göttlichen Personen ermöglichen: Γᾶ hat eine besondere Beziehung zu Bergen (ὀρεστέρα), ist „allnährend“ (παμβῶτι) und zudem, wie der zweite Vers darstellt, die Mutter des Zeus. Damit sind drei Gottheiten – Gaia, Kybele und Rhea – zu einer umfassenden göttlichen Person vereinigt,17 die geradezu als Übergottheit das Pantheon der olympischen Götter mit ihrem Oberhaupt Zeus zu überbieten scheint. Es passt dabei ins Bild, dass als göttliche Macht ausschließlich Zeus bisher vom Chor namentlich erwähnt wurde (v. 140); unsere Stelle kontrastiert in ihrer ausgreifenden Hinwendung zu einer göttlichen Person so mit der bisherigen Zurückhaltung des Chors.
Ganz in der Form eines traditionellen Götteranrufs18 schließt sich an die namentliche Nennung der Gottheit ein Relativsatz mit der Angabe eines bevorzugten Herrschaftssitzes an: Hier ist es der große, goldführende Fluss Paktolos in Kleinasien (τὸν μέγαν Πακτωλὸν εὔχρυσον), den Gaia bewohnt (νέμεις). Die eigentliche invocatio der Göttin ist damit abgeschlossen; es folgt die Erinnerung an eine bereits erfolgte Anrufung, wobei Ort und Anlass dieses (fiktiven) Gebets die logische Verbindung zur dramatischen Situation schaffen. Dort nämlich (κἀκεῖ) – gemeint ist, wie aus dem Folgenden hervorgeht, das Heerlager vor Troia – habe der Chor sich schon einmal an die Gottheit gewandt (σὲ ἐπηυδώμαν), als nämlich (ὅτʼ) die gesamte Hybris der Atriden seinen Herrn, d.h. Neoptolemos, getroffen hatte. Ein zweiter, ebenfalls durch ὅτε eingeleiteter Temporalsatz konkretisiert die erlittene Schmach und wiederholt den unerhörten Sachverhalt: Die Waffen seines Vaters (τὰ πάτρια τεύχεα) seien nicht Neoptolemos, sondern Odysseus zugesprochen worden. Eingebettet in diese Ausführung ist ein erneuter, emotional aufseufzender Anruf (ἰὼ μάκαιρα) der herrschaftlich thronenden Gottheit.19 Betont nimmt die Bezeichnung σέβας ὑπέρτατον – „Gegenstand allerhöchster Verehrung“ – für die in Frage stehenden Waffen20 die Schlussstellung der Strophe ein. So abrupt wie die Strophe begann, schließt sie an diesem Punkt; Philoktet meldet sich zu Wort und bekundet seine Sympathie mit dem entehrten Neoptolemos.
Machen wir uns rückblickend bewusst: Mit dem Bezug auf die Erzählung des Neoptolemos sind die Choreuten ganz im eigentlichen Thema angelangt. Während der Anruf der Gaia zu Beginn der Strophe noch überraschend und im Kontext der Szene zunächst fremd wirkte, hat die Passage in Vers 396f. ihre thematische (und arithmetische) Mitte erreicht. Ein doppeltes Hinweisen prägt diese Zentralpartie der Strophe, bettet sie in die aktuelle Situation ein und macht ihr spezifisches Zeitverhältnis deutlich: Während das Demonstrativpronomen τόνδʼ (v. 396) auf den präsenten Neoptolemos verweist und ihn erneut als Opfer der Entehrung in den Vordergrund rückt, weist die dreimalige Konkretisierung der Szene des Waffenstreits in die Vergangenheit. Schrittweise führt der Chor dabei zum Kern der Situation: Das noch unbestimmte κἀκεῖ (v. 395) wird durch die beiden Temporalsätze mit Leben gefüllt, die Schlusspartie der Strophe wiederholt in unvermittelter Abfolge mit dem erneuten Anruf der Göttin sowie der Angabe des Nutznießers Odysseus und des Streitgegenstandes drei wesentliche inhaltliche Momente. Die Anmaßung der Atriden als ausschlaggebendes Moment nimmt dabei die Mitte der Ausführungen ein (ὕβρις in v. 397). In diesem Sinne ist die Strophe des Chors eine komprimierte, emotionale Ausleuchtung der entscheidenden Motive des vorangegangenen Monologs; sie unterstreicht die Opferrolle des Neoptolemos, hebt die Verantwortlichkeit der Atriden heraus und bekundet die – vom Standpunkt des über die Intrige informierten Zuschauers und Lesers – doppelbödige Verstrickung des Chors in den Handlungsablauf.
Versuchen wir weiterhin, die Partie im Ganzen zu überblicken und einzuordnen. Die Passage führt in geradezu exemplarischer Weise einzelne Formteile eines klassischen Gebetshymnos vor Augen: namentliche Invokation der Gottheit, genealogische Angabe, Hinweis auf eine bevorzugte Kultstätte sowie die Ausgestaltung einer bereits erfolgten Anrufung.21 Der Verzicht auf eine verbalisierte Aktualisierung (precatio, eingeleitet durch καὶ νῦν22 oder ähnliches), d.h. auf eine konkrete Bitte in der momentanen Situation, ist dabei genauso absichtsvoll auf die dramatische Einbindung abgestimmt wie die Erwähnung der einzelnen, formal traditionellen Motive. Wie gesehen, stellen die Kompilation der drei Gottheiten zur angerufenen Mutter Erde und der betonte Hinweis ihrer genealogischen Einordnung eine Überbietung der bisher durch den Chor getätigten theologischen Aussagen dar. Die Erwähnung des Paktolos als eines kleinasiatischen Flusses mag des Weiteren der groben geographischen Hinführung zur entscheidenden Szene dienen, während die Angabe κἀκεῖ sowie die zwei ὅτε-Sätze das von Neoptolemos referierte Geschehen direkt in den Blick nehmen. Der Chor projiziert sich dabei in die fragliche Situation zurück und gibt an, was er damals tat bzw. sagte. Indem er so seinen Beitrag in Erinnerung ruft, verortet er sich im vergangenen Geschehen, komplettiert Neoptolemosʼ Schilderung der angeblichen Entehrung und reichert sie durch eine theologische Note an. Dass dabei die in Rede stehende Situation mitsamt der Götterinvokation fiktiv ist und als Bestandteil der Intrige zur Täuschung des Protagonisten beiträgt, verleiht der dramaturgischen Eingliederung und Nutzbarmachung der traditionellen Motive eine nicht zu überbietende dramatische Brisanz.
Sophokles lässt also den Chor an unserer Stelle eine in hohem Maße konventionelle Strophe singen, deren einzelne Motive allerdings passgenau in den dramatischen Kontext eingearbeitet und auf Grund der speziellen Situation geradezu pervertiert sind. Er kappt dabei das gewohnte Schema des Gebetshymnos und lässt die aktuelle Bitte ersatzlos wegfallen, da ganz allein die imaginierte und fiktive Szene der Vergangenheit im Fokus steht. Mit Blick auf diese Engführung der standardisierten Form liegt nur der Rumpf eines eigentlichen Gebetes vor. Die ins Zentrum gerückte Erinnerung an eine bereits erfolgte Invokation der Gottheit nimmt dabei die im vorangegangenen Monolog beschrittene Methode der Situationsausdeutung wieder auf: Indem der Chor sich die (fiktive) Szene vergegenwärtigt und sich in dieser verortet, setzt er Neoptolemosʼ Herangehensweise fort; die lebhafte Wiedergabe der wörtlichen Reden aus den Versen 364ff. wird so an unserer Stelle durch den emotionalen Einwurf des Chors gespiegelt.
Mit Blick auf die Rolle des Chors lässt sich dabei festhalten: Die Schiffsleute erweisen sich in der Anwendung des typisch chorischen Schemas23 der Vergegenwärtigung und Selbstverortung als treue Diener ihres Herrn; sie lassen ihm zudem gerade durch das Fehlen einer dezidiert aktuellen Bitte an die Gottheit alle Möglichkeiten, die Unterredung mit Philoktet im Folgenden nach seinen Maßstäben zu gestalten.
Die kommentierende Strophe des Chors lässt so Neoptolemosʼ Monolog mehr als nur nachklingen, sie orchestriert ihn im Sinne einer Coda und ist zum Fortgang der Handlung hin offen. Der bisher spannungsreichste Moment der Tragödie – die seit dem Prolog erwartete Konfrontation des Protagonisten mit der Intrige – hat damit eine besonders wirkungsvolle Ausgestaltung erfahren, deren formale Einzigartigkeit die Wichtigkeit des dramatischen Moments widerspiegelt. SCHMIDTs geradezu überschwängliches Lob der kurzen Partie mit Blick auf die Gestaltung als Lügenrede („Diese Chorstrophe ist ein wahres Meisterstück! Die Mittel sind so vorzüglich gewählt, der Ton so echt, daß von daher die Lüge nicht mehr greifbar wird“24) lässt sich aus der Perspektive dieser Untersuchung nur wiederholen: Die vorliegende Passage zeigt zum einen exemplarisch, wie präzise die einzelnen, formal durchaus unterschiedenen Teile der Tragödie motivisch und dramaturgisch ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind. Zum anderen demonstriert sie – wie der Überblick über das gesamte Epeisodion noch fundierter zeigen wird – die bewusste, ökonomische und wirkungsvolle Handhabung traditioneller chorischer Gattungen, Motive und Methoden durch den Dichter sowie deren Kombination und Umdeutung mit Blick auf ihre Funktionalisierung in der jeweiligen dramatischen Situation.
Eine volle Würdigung der chorischen Präsenz im vorliegenden Epeisodion lässt sich jedoch erst unter Einbeziehung der zweiten eingeschobenen Strophe (v. 507–518) erreichen. Die weitere Handlungsentwicklung soll rasch überblickt werden.
Philoktet zeigt sich von Neoptolemosʼ Erzählung und der chorischen Intervention beeindruckt: Er ist überzeugt, Leidensgenossen vor sich zu haben, die wie er Opfer der Atriden und des Odysseus geworden sind.25 Aus Philoktets Erstaunen, wie der große Aias (Αἴας ὁ μείζων v. 411) die Entehrung des Neoptolemos nur hinnehmen konnte, entwickelt sich ein Zwiegespräch, in dessen Verlauf Neoptolemos den Protagonisten über die Verfassung einiger bedeutender Griechen informiert. Entsetzt muss Philoktet dabei erfahren, dass gerade die von ihm hochgeschätzten Mitstreiter entweder bereits gestorben sind oder schwere Schicksalsschläge erleiden mussten.26 Dagegen ist, nach Neoptolemosʼ Auskunft, der verhasste Thersites noch am Leben, was Philoktet schließlich zu einer Klage über die Ungerechtigkeit göttlichen Wirkens hinreißt (v. 446–452). Neoptolemos bekundet daraufhin, Troia und die Atriden nun gänzlich hinter sich lassen zu wollen; seine Heimatinsel Skyros genüge ihm vollkommen (ἐξαρκοῦσα v. 459), da auch er die Überlegenheit der moralisch Schlechten über die Guten – wie sie im griechischen Heerlager herrsche – nicht ertragen könne.
Mit dem betonten νῦν δʼ setzt Neoptolemos in Vers 461 einen neuen dramatischen Impuls, der die Erfüllung seiner Mission vorantreiben soll: Nun werde er sich zu seinem Schiff begeben, um sich dort auf die Abfahrt von Lemnos vorzubereiten. Nach einer ersten Verabschiedung (καὶ σύ, Ποίαντος τέκνον, χαῖρʼ ὡς μέγιστα) und der erstaunten Nachfrage Philoktets („Schon brecht ihr auf?“ v. 466), bekräftigt er erneut seine feste Überzeugung, nun sei der richtige Moment gekommen, die Insel zu verlassen (καιρὸς γὰρ καλεῖ). Mit der mit Vers 468 einsetzenden Rede Philoktets schließt sich der dritte umfangreiche Monolog des Epeisodions an, an dessen Ende erneut eine Kommentierung durch den Chor erfolgt. Vergegenwärtigen wir uns Inhalt, Aufbau und Motivik der mehr als 35 Verse umfassenden Rhesis.
Unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel fleht Philoktet sein Gegenüber an, ihn nicht auf Lemnos zurückzulassen. Auch wenn ihm dabei klar sei, welche Schwierigkeiten mit dem Transport des Schwerkranken verbunden seien (δυσχέρεια τοῦδε τοῦ φορήματος v. 473f.), stellt er Neoptolemos, sollte er sich seiner erbarmen, eine wesentliche Vermehrung seines Ruhms in Aussicht (πλεῖστον εὐκλείας γέρας v. 478). Neoptolemos solle es wagen (τόλμησον) und ihn dabei an der Stelle auf seinem Schiff unterbringen, wo er den Mitreisenden am wenigsten zur Last falle (v. 481ff.).
Unter Anruf des Zeus (πρὸς αὐτοῦ Ζηνὸς ἱκεσίου v. 484) bittet Philoktet, Neoptolemos solle ihn entweder zu sich nach Hause oder nach Euboia bringen; von dort habe er es nicht mehr weit in seine Heimat, wo er seinen Vater wiederzusehen hoffe. Schon lange habe er zudem die Sorge, sein Vater sei gestorben: Denn trotz wiederholter Nachrichten, die er den zufällig auf Lemnos Gelandeten mitgab, sei noch keine Antwort eingetroffen. Vielleicht, so die Überlegung des Protagonisten, sei dieser Umstand allerdings auch den Boten geschuldet, die, ohne sich um ihn zu kümmern, nur auf ihre eigene Heimfahrt bedacht gewesen seien (v. 488ff.). Jetzt aber (νῦν δʼ v. 500) sei es an Neoptolemos, ihn zu retten und sich seiner zu erbarmen (σὺ σῶσον, σύ μʼ ἐλέησον v. 501). Eine allgemeine Überlegung schließt den Monolog ab: Vor dem Hintergrund des gefahrenreichen menschlichen Lebens sei es geboten, dass gerade diejenigen, die vom Leid unberührt sind, aufmerksam auf das Unheil anderer achten, um nicht unversehens selbst zu Grunde zu gehen (v. 502ff.).27
Der von Neoptolemos in Vers 461 gesetzte Impuls hat seine Wirkung nicht verfehlt: Nachdem der Handlungsfluss in der Heldenschau der Verse 412ff. zu einem Ruhepunkt gekommen war, beschleunigt und emotionalisiert sich das Bühnengeschehen an unserer Stelle erneut. Bestimmendes Moment des vorliegenden Monologs ist dabei die gehäufte Verwendung von Imperativen, die bald positiv – θοῦ με v. 473, τλῆθι v. 475, ἴθʼ v. 480, τόλμησον und ἐμβαλοῦ v. 481 usw. (besonders beachtenswert: ἔκσωσον v. 488 wieder aufgegriffen in σῶσον v. 501) – bald verneint – μὴ λίπῃς v. 470, μή μʼ ἀφῇς v. 486 – der Szene ungeahnte Intensität und Dynamik verleihen. Die Berufung auf Zeus in seiner Schutzfunktion gegenüber Bittflehenden in Vers 484 sowie die kurze allgemeingültige und geradezu warnende Ausführung zur Wandelbarkeit des menschlichen Glücks v. 502ff. erfüllen eine doppelte Funktion: Zum einen unterstreichen sie die Emotionalität der Ausführungen und führen die Verzweiflung Philoktets vor Augen, der beim Versuch, Neoptolemos zu überzeugen, buchstäblich sämtliche Register zieht. Zum anderen ermöglichen sie trotz ihrer streiflichtartigen Kürze Philoktets Situation innerhalb eines allgemeineren, theologischen Kontextes zu verorten. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Strophe wird diese Andeutung aufgreifen.
Nach der Schilderung seines Elends im ersten ausgreifenden Monolog des Epeisodions (v. 254–316) hat sich der Protagonist an unserer Stelle zum zweiten Mal ausführlich zu Wort gemeldet. Zugleich bildet die vorliegende Rhesis nach der eingeschalteten Lügenrede des Neoptolemos (v. 343–390) den dritten umfassenden Wortbeitrag der Szene. Von besonderem Interesse ist für die vorliegende Untersuchung die sich nun anschließende (dritte) Kommentierung durch den Chor. Wie schon angesprochen folgt in Vers 507 das metrische Pendant zur Chorstrophe v. 391–402. Vollziehen wir zunächst Inhalt und sprachliche Gestaltung nach, bevor wir eine motivische und dramaturgische Einordnung versuchen.
Wie schon der Protagonist in seinem eben verklungenen Monolog, so wendet sich auch der Chor direkt an Neoptolemos: Der Imperativ οἴκτιρ(ε) mit dem angeschlossenen Vokativ ἄναξ („Hab Erbarmen, Herr!“) eröffnet die Strophe volltönend. Parataktisch angeschlossen folgt als Begründung der emotionalen Involvierung der Verweis auf Philoktets herausragendes Schicksal: Das Maß an leidvollen, unerträglichen Torturen (δυσοίστων πόνων ἆθλʼ),28 das Philoktet geradezu „gesammelt“ (ἔλεξεν) habe, wünscht der Chor keinem seiner Freunde.
Wenn, so der Chor in erneuter Hinwendung an seinen Herrn (ἄναξ v. 510), Neoptolemos Hass gegen die Atriden hege, so würde er selbst (der Chor) die üble Tat der griechischen Feldherren zu Philoktets Vorteil umdeuten,29 diesen auf dem Schiff dahin bringen, wohin es ihn verlange, und so einer göttlichen Vergeltung entfliehen (θεῶν νέμεσιν ἐκφυγών).
Der Aufbau und die sprachliche Gestaltung der wiedergegebenen Konditionalperiode sind dabei sprachlich besonders ausgefeilt: Während der konditionale Vordersatz – eingeleitet durch ein fortführendes δέ – sich der Gefühlsregung des angesprochenen Akteurs versichert, entwickelt der Hauptsatz den Vorschlag der Choreuten. Dabei wird das Prädikat (πορεύσαιμʼ ἄν) durch zwei Partizipien gerahmt, von denen das erste (μέγα τιθέμενος) die beabsichtigte Rettung als Umdeutung der Verhältnisse interpretiert, das zweite (ἐκφυγών) einen Nebenzweck des Vorhabens angibt. Die betonte Selbstverortung des Chors (ἐγὼ μέν, „ich für meinen Teil“ v. 511) auf der einen, die vorsichtig-höfliche Formulierung auf der anderen Seite (Verwendung des potentialen Optativs30) unterstreicht dabei den Vorschlag des Chors als selbstbewussten Diskussionsbeitrag, illustriert jedoch gleichzeitig das Verhältnis der Schiffsleute zu ihrem Herrn. So wird auf ein mit Vers 511 korrespondierendes und damit inhaltlich kontrastierendes δέ bewusst verzichtet: Die Strophe bleibt in diesem Sinne offen und fordert Neoptolemosʼ Antwort geradezu heraus. Dass dabei die Erwähnung der θεῶν νέμεσις das Ende der Strophe bildet, ist freilich nicht zufällig: Der Chor konkretisiert damit die moralisch-theologischen Streiflichter des vorangegangenen Monologs – v.a. die Berufung auf Zeus v. 484 – und lässt so hinter seinem Vorschlag, Philoktet nach Hause zu bringen, die Drohkulisse einer möglichen göttlichen Vergeltung aufscheinen. Zum eingeforderten Mitleid (v. 507) und dem Hass auf die Atriden (v. 510) gesellt sich so die Furcht vor einer derartigen Bestrafung als drittes Argument für ein beherztes Einschreiten von Seiten des Neoptolemos und seiner Mannschaft; als drastischster Beweggrund nimmt es dabei die Schlussstellung innerhalb der Partie ein.
Wie lässt sich die Strophe in den dramatischen Kontext einordnen? Die Partie bietet ein konzentriertes Abbild der aktuellen Situation sowie der involvierten Personen: Sie führt erneut Philoktets Leid vor Augen, leistet die Selbstverortung des Chors im dramatischen Diskurs und zielt auf Neoptolemosʼ Antwort sowie sein aktives Einschreiten. Damit kommt ihr eine besondere Übergangsfunktion zu: Indem der Chor vor der entscheidenden Antwort seines Herrn auf Philoktets Bitte die Situation pointiert zusammenfasst und selbst engagiert Partei ergreift, markiert er eine brisante Gelenkstelle der Handlung. Anders gesprochen: Sophokles zögert an diesem Punkt der Tragödie den Fortgang der Geschehnisse erneut für einen Moment heraus; statt Neoptolemos sofort zu Wort kommen zu lassen, rekapituliert der Chor den erreichten Status und vertieft den Eindruck des verklungenen Monologs.
Wie ist die Strophe nun konkret in den Kontext eingepasst, welche Methode wendet Sophokles zur Vertiefung des dramatischen Moments an? Aufschlussreich ist der Beginn der Partie: War schon in Philoktets Monolog der Imperativ das zentrale sprachliche Phänomen, so setzt auch die Strophe des Chors diese Anrede an Neoptolemos fort und reiht sich damit in die Gesprächssituation ein. Mit dem Sprecherwechsel ist dabei freilich eine Perspektivverschiebung verbunden: Aus dem Reden des Protagonisten wird erneut ein Hinweisen auf und Sprechen über ihn. Ein grundlegendes Moment der vorangegangenen Rhesis ist damit wieder aufgenommen und dient unter veränderten Vorzeichen als Auftakt der chorischen Kommentierung. Dass dabei gerade der Aufruf zum Mitleid diese herausgehobene Stellung einnimmt, ordnet die Strophe in den motivischen Horizont der Choräußerungen ein: Die erste ausführliche Leidensschilderung innerhalb der Parodos mit ihrem betonten οἰκτίρω (v. 169) wird an unserer Stelle durch den Imperativ οἴκτιρε wieder aufgerufen; das zentrale Motiv des Mitleids ist so im aktuellen Kontext verankert und erscheint mit Blick auf die im Raum schwebende Täuschungsabsicht des Neoptolemos geradezu pervertiert.31 Aus dieser Perspektive nimmt weiterhin die begriffliche Reminiszenz aus Vers 318 (ἐποικτίρειν σε) eine Mittelstellung ein.