Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 8

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Weiterhin leistet die kurze Strophe schon mit dem Verweis auf die Leiden des Prot­agonisten sowohl die Selbstverortung des Chors als auch eine persönliche Emotionalisierung: Dem konstatierenden Ausruf, Philoktet habe ein hohes Maß an Leid zu ertragen, folgt der Wunsch nach Verschonung der eigenen Freunde. Indem der Chor so das vor Augen liegende Elend Philoktets bis zu einem gewissen Grad in Beziehung zu sich und seiner eigenen Lebenswirklichkeit setzt, bekundet er (erneut) seine emotionale Involvierung.

Gerade der Bezug auf die korrespondierende Strophe v. 391–402 ergibt so eine grundlegende strukturelle Parallele: Hatte sich der Chor dort in die von Neoptolemos entworfene (fiktive) Szenerie der Vergangenheit zurückprojiziert und damit seine aktive Rolle am damaligen Geschehen bekundet, so verorten sich die Schiffsleute an unserer Stelle ganz bewusst in der dramatischen Realität. War im ersten Fall ein konkreter Bezug auf die Gegenwart oder die Zukunft bewusst ausgeblieben, so leistet die zweite Strophe genau dies: Sie wirkt in ihrer Konzentration bündelnd und stellt mit dem Vorschlag der Choreuten einen möglichen Fortgang der Handlung in Aussicht. In beiden Fällen setzen die Strophen dabei Strukturen und Motive des jeweils vorangegangenen Monologs fort und orchestrieren diesen durch den Wechsel von Sprecher und Perspektive.

Als verbindendes Motiv der beiden Strophen fallen bei näherer Betrachtung zudem die Atriden, ihr Handeln und die Reaktion darauf ins Auge: War dabei in der ersten Strophe die Hybris der Feldherren (v. 395f.) unmittelbarer Grund des referierten Götteranrufs, so ist der Hass auf Agamemnon und Menelaos (v. 510) in der zweiten Strophe emotionales Ausgangsmoment der ausgesprochenen Empfehlung.32

Betrachten wir an diesem Punkt kurz den Fortgang des Epeis­odions, um abschließend zu einer Einordnung und Bewertung der chorischen Präsenz im Ganzen zu kommen.

Neoptolemos tritt im Anschluss an die Chorstrophe in ein kurzes Gespräch mit dem Chorführer ein. Dieser versichert ihn, trotz der möglichen Belästigungen durch Philoktets Krankheit zu seinem eben vorgebrachten Vorschlag zu stehen. Neoptolemos gibt sich daraufhin überzeugt und willigt ein, den Kranken auf seinem Schiff mitzunehmen. Philoktet ist von Freude und Dankbarkeit überwältigt: Vor der Abfahrt lädt er seinen „Retter“ ein, die Höhle in Augenschein zu nehmen, in der er sein Dasein in den letzten Jahren gefristet hat. So könne Neoptolemos seine Leidensfähigkeit und Duldsamkeit erst recht bemessen; denn, so der Prot­agonist, keiner, der auch nur den Anblick der Behausung erlebt habe, könne wohl das ertragen, was er selbst ausgehalten habe (v. 536f.). Er allerdings habe gezwungenermaßen33 gelernt, sich auch mit Üblem zufrieden zu geben (v. 538).

Bevor sich die Akteure daraufhin in das Bühnengebäude zurückziehen, unterbricht der Chor die angestoßene Aktion: In einer drei Verse umfassenden Auftrittsankündigung (v. 539–541) weist er auf zwei sich der Szenerie nähernde Schiffsleute hin, von denen der eine der Mannschaft des Neoptolemos angehört, der andere den Choreuten unbekannt (ἀλλόθρους) ist. Diese, so die Aufforderung, sollten vor dem Eintritt in die Höhle erst angehört werden. In Vers 542 entfaltet der aufgetretene Kaufmann in direkter Ansprache an Neoptolemos schließlich den Grund seines Kommens.

Zuschauer und Leser sind sich dabei freilich bewusst, dass Odysseus seine Ankündigung aus dem Prolog verwirklicht hat: Der zur Szene gestoßene Kaufmann ist in Wahrheit der in den Versen 127ff. vorgestellte Späher, dessen Auftrag es ist, Neoptolemos geeignete Argumente für seine Mission zu liefern und so den Fortgang der Intrige zu beschleunigen.

Der Chor folgt der Szene im Weiteren wortlos: Sowohl in die Unterhaltung der drei Akteure (v. 542–627) als auch in das sich anschließende erneute Zwiegespräch zwischen Philoktet und Neoptolemos (v. 628–675) mischt er sich nicht mehr ein. Erst nach deren endgültigem Abtritt beginnt der Chor sein Stasimon in Vers 676. Der Inhalt der Kaufmannszene und des angeschlossenen Dialogs soll daher hier zunächst nicht ausgeführt werden; vor der Behandlung des Standliedes wird eine kurze Rekapitulation die entscheidenden Momente herausarbeiten. An dieser Stelle soll zunächst ein Überblick über das gesamte Epeis­odion in seiner formalen Gestaltung erfolgen.

Machen wir uns dazu Folgendes bewusst: Die ausgreifende Szene zerfällt in drei Teile: kurzer Wortwechsel zwischen Neoptolemos und Philoktet, Kaufmannszene sowie anschließender Austausch der auf der Bühne Verbliebenen. Der Auftritt des Kaufmanns in Vers 542 unterbricht den von den Akteuren auf der Bühne intendierten Fortgang der Handlung und stellt nach Neoptolemosʼ Ankündigung aus Vers 461ff., Lemnos verlassen zu wollen, einen zweiten dramatischen Impuls dar, der den bis dahin entwickelten Status der Handlung in eine neue Richtung lenkt. War die Szenerie nach Neoptolemosʼ Einwilligung und Philoktets euphorischer Reaktion in Vers 538 zu einer ersten Auflösung gelangt, so steigert der Auftritt des Kaufmanns – und damit das hinterszenische Eingreifen des Odysseus – die dramatische Brisanz erneut. Nach dem Abtritt des dritten Akteurs in Vers 627 hat sich erneut eine dem ersten Teil des Epeis­odions vergleichbare Gesprächssituation eingestellt: Wieder stehen sich Neoptolemos und Philoktet gegenüber, wieder scheint die Abreise von Lemnos unmittelbar bevorzustehen. Während dabei der Chor dem zweiten und dritten Teil des Epeis­odions still folgt, ist seine Präsenz bis zum Auftritt des dritten Schauspielers von entscheidender struktureller und motivischer Bedeutung. Die drei ausführlich besprochenen Äußerungen des Chors markieren dabei jeweils das Ende wichtiger Monologe und reflektieren formal wie inhaltlich das unmittelbar Vorausgegangene. Sie sind, wie gezeigt wurde, passgenau in den dramatischen und motivischen Kontext eingearbeitet: Gerade die Reaktion auf Philoktets ersten Monolog (v. 317f.) war trotz ihrer standardisierten Form bereits von besonderer Brisanz geprägt gewesen, hatte sie doch zum einen die Ambivalenz der chorischen Haltung vor Augen geführt, zum anderen in besonderer Weise auf das bereits entfaltete Mitleidsmotiv angespielt.

Besonderes Augenmerk verdienen indes die beiden lyrisch komponierten Äußerungen des Chors innerhalb der Szene: Indem Sophokles hier den konventionellen Doppelvers der chorischen Kommentierung in einer (für uns) beispiellosen Komposition an zwei Stellen durch korrespondierende Strophen ersetzt, schafft er einen besonderen Akzent. Für die Dramaturgie der Szene ist damit zweierlei gewonnen: Zum einen ist die Fülle chorischer Präsenz innerhalb der Szene punktuell nutzbar gemacht; zum anderen sind die lyrischen Passagen so fest im dramatischen Ablauf eingebunden, dass sie die Handlung nicht unterbrechen, sondern geradezu fortsetzen und intensivieren. Dass an den entsprechenden Stellen kein Spannungsabfall eintritt, ist der Fortführung struktureller und sprachlicher Motive aus dem unmittelbar Vorangegangenen in den Strophen selbst geschuldet.

Anders gesagt: Sophokles integriert die chorische, d.h. lyrische Ausdeutung der Situation, wie sie im Regelfall ein strophisches Chorlied (oder ein lyrischer Wechselgesang) leistet, mitsamt der einhergehenden Bühnenwirkung (Musik, Tanz) in die Szene selbst und macht sie zudem zum strukturellen Bestandteil des Epeis­odions.34 Die metrische Korrespondenz der beiden Strophen ist dabei ein entscheidendes Moment: In den Trachinierinnen ist das Lied des Chors im ersten Epeis­odion (v. 205–224) – formal die am ehesten vergleichbare Stelle unseres Dichters – ein spontaner, nicht strophisch komponierter Freudenausbruch.35 Hier ist der Eindruck ein anderer: Die Komposition trägt zur Strukturierung der Passage bei und stellt eine Verbindung zwischen den beiden Strophen her. Sie sind in besonderer Weise aufeinander abgestimmt, nehmen dabei unterschiedliche inhaltliche Momente und Zeitebenen in den Blick und geben so der gesamten Szene einen strukturellen Rahmen.

Stasimon (v. 676–729)1

Der Fortgang des ersten Epeis­odions nach dem Auftritt des angeblichen Kaufmanns wurde bereits angedeutet. Hier soll ein kurzer Überblick zur Einordnung genügen.

In seiner Unterredung mit Neoptolemos entfaltet der aufgetretene Akteur den (vorgeschobenen) Grund seines Kommens: Er sei hier, um Neoptolemos zur Eile zu mahnen, denn Phoinix und die Söhne des Theseus verfolgten ihn bereits (διώκοντες v. 561). Odysseus und Diomedes seien dagegen bestrebt, Philoktet zu fassen und ihn nach Troia zu bringen. Unmittelbarer Beweggrund der angestoßenen Rückholaktion sei ein Orakelspruch des Seher Helenos: Ohne Philoktet in ihren Reihen sei es den Griechen nicht möglich, Troia einzunehmen. Odysseus habe sich daher bereiterklärt, den vormals Ausgesetzten nötigenfalls mit Gewalt ins Heerlager zu bringen. Nach Philoktets entsetztem Aufschrei, er werde gezwungen werden, gleich einem Toten erneut ans Licht zu kommen (v. 622–625), verlässt der Kaufmann zügig die Bühne.

Philoktet ist sich im Folgenden der gebotenen Eile voll und ganz bewusst; er fordert Neoptolemos nachdrücklich auf, sich gleich in Bewegung zu setzen (χωρῶμεν v. 635, ἴωμεν v. 637). Dieser verweist auf die Notwendigkeit günstigen Windes und schlägt seinem Gesprächspartner vor, gemeinsam in der Höhle die Dinge zusammenzusuchen, die Philoktet am nötigsten hat. Neben einem bestimmten Kraut (φύλλον τι v. 649), das zur Schmerzlinderung beiträgt, findet dabei der Bogen Philoktets besondere Erwähnung. Neoptolemos, der sich aus den Belehrungen des Odysseus der überragenden Bedeutung dieser Waffe bewusst ist (vgl. v. 68, 77f., 113), fragt mit ehrfurchtsvoller Scheu nach der Erlaubnis, das Requisit berühren, ja, es sogar einem Gott gleich küssen und verehren zu dürfen (v. 656f.). Philoktet gestattet seinem zukünftigen Retter freimütig den Umgang mit seinem ganzen Besitz – im Besonderen mit seinem Bogen, den er als Lohn für eine gute Tat erhalten habe (v. 667ff.). Vor dem gemeinsamen Abtritt in die Höhle bekundet schließlich Neoptolemos seine enge Bindung zum Prot­agonisten: Es betrübe ihn nicht, Philoktet kennen gelernt und als Freund gewonnen zu haben; denn einer, der nach erlittenen Widrigkeiten gutes Verhalten an den Tag legt, sei als Freund nützlicher als jeder Besitz.2 Nach Vers 676 verlassen die Akteure schließlich den für das Publikum sichtbaren Teil der Bühne, worauf der Chor sein Standlied beginnt.

Machen wir uns die Situation kurz bewusst. Der Auftritt des Kaufmanns hat der Szene ungeahnte Dynamik verliehen: Vor der durch das doppelte Verfolgungsszenario aufgebauten Drohkulisse zeichnet sich der baldige Aufbruch von Lemnos als unvermeidlicher nächster Schritt innerhalb der Intrige lebhaft ab. Die Thematisierung des Orakels ruft dabei – wie bereits erwähnt – bei Neoptolemos und dem Publikum die Ausführungen des Odysseus vom Beginn der Tragödie ins Bewusstsein. Dem über die wahren Zusammenhänge informierten Leser und Zuschauer ist damit erneut vor Augen geführt, dass die Einnahme Troias als Endzweck hinter den Maßnahmen zur Täuschung des Prot­agonisten steht. Das Bühnengeschehen rund um die Akteure Philoktet und Neoptolemos ist damit schlagartig in den größeren Zusammenhang der gesamten Intrige gerückt. Anders gesagt: Der durch den Auftritt des dritten Schauspielers erfolgte Impuls hat die Perspektive des Geschehens geweitet und dabei grundlegende Momente der Handlung (den Orakelspruch, die beabsichtigte Einnahme Troias sowie Odysseusʼ hinterszenischen Einfluss) überdeutlich ins Gedächtnis gerufen.

Ihre bühnenwirksame Umsetzung in dramatische Handlung erfährt die in der Kaufmannsszene angerissene Thematik schließlich im Spiel um den Bogen in den Versen 652ff., das einen Kulminationspunkt des bisherigen Handlungsverlaufs darstellt: Als Moment höchster Vertrautheit zwischen Philoktet und Neoptolemos führt die Szene zugleich das Zielobjekt der Intrige mitsamt ihrem Endzweck – der Einnahme Troias – geradezu handgreiflich vor Augen.3 Dabei steht der Bogen zugleich sinnbildlich für die aktuelle Lage des Prot­agonisten, der auf seinen Einsatz als Jagdwaffe angewiesen ist (vgl. Neoptolemosʼ Vermutungen v. 165 sowie Philoktets eigene Ausführungen 287 v.). In diesem Sinn laufen beide motivische Linien – der Bogen als Waffe zur Eroberung Troias auf der einen, als notwendiges Jagdinstrument Philoktets auf der anderen Seite – an diesem Punkt zusammen und konzentrieren die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Kern der dramatischen Situation.4

Halten wir daher fest: Die Aussendung des Kaufmanns durch Odysseus hat ihren innerdramatischen Zweck erfüllt und die beteiligten Akteure in betriebsame Eile versetzt. Dramaturgisch gesehen macht sie die enorme Brisanz der Bühnensituation deutlich: Sie ruft die hinterszenische Präsenz des Odysseus sowie den von ihm intendierten Fortgang der Geschehnisse erneut ins Gedächtnis und bietet die Gelegenheit, in einer motivischen Engführung den Bogen als zentrales Utensil des Intrigenkomplotts (vgl. v. 113) zu inszenieren.5

Mit dem Abtritt der beiden Akteure nach Vers 676 kommt die dramatische Spannung zu einem vorläufigen und vordergründig harmonischen Ruhepunkt. Die augenfällige Intimität zwischen Neoptolemos und Philoktet schließt den ersten Teil der Intrige und damit der gesamten Handlung: Das Vertrauen des Prot­agonisten ist erlangt, die anfängliche Fremdheit und Unsicherheit im Umgang miteinander ist einem freundschaftlichen Austausch gewichen, dem weiteren Ablauf der Intrige scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Seinen sinnfälligen Ausdruck findet der erreichte Status der Handlung in einem bis dahin nicht genutzten Effekt: Zum ersten Mal innerhalb der Tragödie – also seit mittlerweile über 670 Versen – leert sich die Bühne vollständig, worauf der Chor ungestört die dramatische Situation reflektiert.6

Das Lied entfaltet in zwei Strophenpaaren eine Gesamtschau der bisher entwickelten Handlung, wie sie sich vor den Augen der Choreuten abgespielt hat. Erneut steht dabei die Figur des Prot­agonisten im Mittelpunkt, dessen leidvoller Vergangenheit der Chor eine hoffnungsfrohe Zukunftsaussicht entgegenstellt.

Das Lied beginnt mit einem sprachlich scharf gezeichneten Kontrast:7 Der Chor habe durch Erzählung (λόγῳ) zwar gehört, jedoch nie mit eigenen Augen gesehen (ὄπωπα δʼ οὐ μάλα), wie Zeus seinen ehemaligen Lagergenossen an einem umlaufenden Rad gefangen hielt (δέσμιον ἔλαβεν). Der mythologische Bezug ist durch die Erwähnung der Einzelheiten – Teilhabe am Lagerplatz der Götter sowie das drehende Rad als Folterinstrument – auch ohne namentliche Nennung des Helden8 klar: Die Rede ist von Ixion, der als Strafe für die missbrauchte Gastfreundschaft des Göttervaters an ein drehendes (Sonnen-)Rad geheftet wurde.9

Der Bezug zum unmittelbar Vorangegangenen innerhalb der dramatischen Handlung ist dabei an unserer Stelle noch nicht klar,10 das plötzliche mythologische Schlaglicht wirkt überraschend. Dagegen lässt der Hinweis auf die mangelnde Augenzeugenschaft hinsichtlich der Ereignisse um Ixion eine Kontrastierung mit tatsächlich Erlebtem erahnen, zumal die Formulierung des ersten Verses (676) besonderen Nachdruck auf diesen Umstand legt: Das zunächst völlig unbestimmte λόγῳ eröffnet das Stasimon und erweist sich sogleich als genauere Bestimmung des folgenden Prädikats ἐξήκουσα, dem das kontrastierende ὄπωπα direkt folgt. Von besonderem Interesse sind die Tempora der beiden Formen: Drückt der Aorist ἐξήκουσα das (einmalige) Hören der Ixion-Geschichte in der Vergangenheit aus, so forciert das negierte Perfekt ὄπωπα die fehlende Kenntnis aus eigener Erfahrung. Nach der betont an den Schluss der Periode gestellten Subjektsangabe des ὡς-Satzes – παγκρατὴς Κρόνου παῖς – setzt das folgende Perfekt οἶδα den spezifischen Tempusgebrauch des Eingangs fort. In den beiden Partizipien κλυών und ἐσιδών findet zudem die Begrifflichkeit „Hören und Sehen“ aus dem ersten Vers des Liedes eine Fortsetzung. Der Chor konstatiert, er kenne sonst keinen anderen Menschen, der mit einem feindlicheren Los zusammengetroffen sei, als es das Schicksal dieses (τοῦδʼ v. 681) Menschen ist.11 Der sich anschließende Relativsatz klärt den vielleicht zunächst missverständlichen Bezug des Demonstrativpronomens: Der in Rede Stehende hat niemandem etwas zu Leide getan, niemanden getötet, sondern ist als Gleicher unter Gleichen (ἴσος ἐν ἴσοις) so unverdient zu Grunde gegangen (ὤλλυθʼ v. 685). Gemeint ist damit freilich Philoktet, wobei eine Namensnennung, wie schon bei Ixion zu Beginn der Strophe, nicht nötig ist.

In Analogie zu τοῦδʼ v. 681 sticht auch hier das hinweisende ὧδʼ (v. 685) hervor.12 Es lohnt dazu erneut ein Blick auf den Tempusgebrauch: Der demonstrative Aspekt verbindet sich mit dem Aorist ὤλλυθʼ und schildert so ein Geschehen aus der Vergangenheit. Anders gesagt: Der Chor ist nach dem mythologischen Schlaglicht an unserer Stelle zwar bei Philoktet als der für die Reflexion entscheidenden Person, allerdings explizit (noch) nicht in der dramatischen Gegenwart angekommen; was sich im Folgenden anschließt, versteht sich dezidiert als Blick in die Vergangenheit. Dem entspricht der konsequente Gebrauch der verbalen Vergangenheitsformen (Indikativ der Nebentempora sowie iterative Aoriste) im Folgenden.

Ein weiteres Demonstrativpronomen markiert den Fortgang der Reflexion: Dieser staunenswerte Umstand (τόδε θαῦμα v. 686) hält den Chor in seinem Bann: Wie nur, so die angeschlossene Frage, konnte Philoktet, der doch ganz alleine das Brausen der Brandung hört, so sein tränenreiches Leben behaupten (κατέσχεν v. 690)? Auch hier gesellt sich zum Demonstrativpronomen τόδε (v. 686) mit οὕτω (v. 689) ein hinweisendes Adverb, das den Blick deutlich auf die geradezu vor Augen liegenden Lebensumstände des Prot­agonisten lenkt. Unter Rückgriff auf den Beginn des Stasimons hat sich bereits hier ein Kreis geschlossen: War dort die fehlende Augenzeugenschaft inhaltlich ein bestimmendes Moment, so macht die Häufung der Demonstrativa an unserer Stelle klar, dass der Chor in Philoktets Fall auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann und sich diese unter Verweis auf die Bühnensituation und das eben Erlebte aktuell ins Bewusstsein ruft. Der thematisch-perspektivische Rahmen ist damit abgesteckt: Es folgt ein erneuter Blick auf die Lebensumstände des Prot­agonisten, der unter der Leitmotivik vom Beginn des Stasimons zum Panorama des feindlichen Schicksals (v. 681f.) Philoktets wird, das – und das ist die Besonderheit dieses Liedes – aus Sicht des Chors der Vergangenheit angehört.

Die Gegenstrophe nimmt dementsprechend Philoktet selbst (αὐτός v. 691) in den Blick und stellt syntaktisch die Fortführung der bereits begonnenen Periode dar: Mit ἵνα (v. 691), „wo“, ist auf das konkrete Umfeld des Helden, seine Umwelt und damit die erlebte Bühnensituation verwiesen. Der ausgreifende Nebensatz präzisiert damit das „tränenreiche Leben“ (v. 659), erfüllt den abstrakten Begriff mit Leben und setzt die demonstrativen Gesten der vorangegangenen Strophe fort.

Zunächst erfährt Philoktets Einsamkeit (und in Verbindung damit seine furchtbare Krankheit) ihre poetische Ausgestaltung: Der Heros sei alleine gewesen (ἦν) und habe weder Zugang zu einem Nachbarn13 noch einen Einheimischen als Leidensgenossen gehabt, bei dem er seine Krankheit hätte beweinen können. Die konkrete Ausgestaltung dieser Passage ist von herausgehobener und bisher ungekannter Drastik: Folgen wir dem Text von LLOYD-JONES/WILSON (1990), so kommen der Krankheit (νόσον) als dem Gegenstand von Philoktets Klage die Adjektive βαρυβρῶτα und αἱματηρόν – „tief nagend“ und „blutenden“ – zu, während das Stöhnen selbst (στόνον) als ἀντίτυπον – „widerhallend“ – charakterisiert wird.14 Damit ist eine Funktion des nicht vorhandenen Leidensgenossen bestimmt: Er hätte als Gegenüber des gequälten Helden zu dessen Tröstung beitragen können. Damit nicht genug: Die in αἱματηρόν angerissene Blutmotivik erhält im folgenden, mit οὐδʼ ὅς angeschlossenen Relativsatz (v. 696ff.) ihre konkrete Ausgestaltung: Philoktet habe niemanden gehabt, der den aus seinem Fuß hervorbrechenden warmen Blutstrom mit aufgehobenen Blättern hätte stillen können. Das Lied hat hier seinen Höhepunkt an anschaulicher und wortgewaltiger Schilderung gefunden. Dabei ist die Darstellung des Krankheitsanfalls keineswegs Selbstzweck und erschöpft sich nicht in der reinen Wiedergabe möglichst abstoßender Details. Sie ist vielmehr eingebunden in die Einsamkeitsthematik und stellt mit der Schilderung eines Anfalls (σπασμός15 v. 699) den bitteren Alltag des einsamen Helden dar: Als Mittel der äußersten Drastik entwirft der Chor das Bild des einsamen Philoktet, dem nicht nur kein Gesprächspartner zur Verfügung stand, sondern der seinen Krankheitsanfällen hilflos ausgeliefert war.16

Vom fehlenden Eingreifen eines Nachbarn wendet sich der Blick in Vers 701 wieder auf Philoktet selbst, wobei der Subjektswechsel durch δʼ forciert wird: Der Held kroch hin und her und wandte sich dabei wie ein der Amme entrissenes Kind zu den Plätzen, wo sich auf Grund der Beschaffenheit des Weges Erleichterung einstellte (πόρου εὐμάρεια), sobald die Not nachließ. Der eingebundene Vergleich des Prot­agonisten mit einem Knaben (παῖς v. 703) variiert das Motiv der unbedingten Hilflosigkeit und Einsamkeit unter anderen Vorzeichen und findet nach der farbigen Schilderung des Krankheitsanfalls ein intimeres, aber nicht weniger eindrucksvolles Sprachbild. Durch δακέθυμος ἄτα (v. 705) schließt die Gegenstrophe den Blick auf die Beschwernisse des Helden mit einem gewichtigen Begriff, der die umfassende Leidensthematik des Stasimons in dessen Mitte verbalisiert.

Syntaktisch schließt die zweite Strophe an das Vorangegangene an und setzt die umfangreiche Periode mit Philoktet als ihrem Subjekt fort. Thematisch hat sich der Fokus allerdings verschoben: Nicht mehr die umfassende Einsamkeit und Hilflosigkeit des von seinem Leiden geplagten Helden, sondern sein entbehrungsreicher Lebenswandel hinsichtlich der Ernährung steht nun im Blick der chorischen Reflexion. So habe der Heros als Nahrung keine Saat der Erde aufgesammelt (ἱερᾶς γᾶς σπόρον v. 707) noch irgendetwas anderes, von dem sich die betriebsamen Menschen sonst ernähren; einzig die Jagd mit Pfeil und Bogen habe es ihm gestattet, seinem Bauch etwas Nahrung zu verschaffen (ἀνύσειε γαστρὶ φορβάν v. 711).

Die Mitte der Strophe nimmt darauf ein mitleidsvoller Ausruf ein:17 ὦ μελέα ψυχά (v. 712) – „Oh elendes Leben/oh elender Mensch!“18 Die lebhafte Imagination des Prot­agonisten gipfelt an unserer Stelle in einer direkten Ansprache, die keinen Zweifel an der emotionalen Verfasstheit des Chors zulässt.19 Ein fol­gender Relativsatz bringt den Blick auf die Vergangenheit des Prot­agonisten zu seinem Abschluss und reichert die Nahrungsthematik der Strophe um ein weiteres konkretes Bild an: Philoktet hat über die Dauer von zehn Jahren keinen Wein mehr genossen, sondern stehende Gewässer genutzt. Der Aorist ἥσθη (v. 715) ist dabei bewusst gesetzt: Er kontrastiert mit dem folgenden, die Gewohnheit Philoktets verbalisierenden Imperfekt προσενώμα (v. 717) und macht so überdeutlich, dass dem Helden im angegebenen Zeitraum von zehn Jahren selbst einmaliger Weingenuss versagt blieb.

Vor dem Hintergrund der Imagination des am Boden kriechenden Helden aus der ersten Gegenstrophe ergibt sich auch hier ein eindrucksvolles und lebhaftes Bild: So hielt Philoktet zunächst Ausschau (λεύσσων), um eine geeignete Wasserstelle ausfindig zu machen, und bewegte sich dann darauf zu (προσενώμα).

Machen wir uns im Überblick klar: Das Motiv „Nahrung“ rahmt den ersten Teil der Strophe durch die Klammerstellung von φορβάν v. 707 sowie 711 begrifflich. Die Verbindung zur vorangegangenen Gegenstrophe ist dabei von assoziativer Bildhaftigkeit: War schon in der Krankheitsschilderung die Rede vom Aufnehmen der Blätter und Kräuter von der nährenden Erde (φορβάδος τι γᾶς v. 700), so nutzt die zweite Strophe die verwendeten Begrifflichkeiten zur poetischen Umsetzung der Nahrungsthematik. Kontrastiert werden dabei, ähnlich wie in der zweiten Gegenstrophe, zunächst ein Mangel bzw. eine nicht an den Tag gelegte Verhaltensweise sowie die tatsächlichen Handlungen bzw. Zustände des Helden. Der zweite Teil der Strophe (v. 714ff.) thematisiert in ähnlicher Gegenüberstellung die Einschränkungen Philoktets hinsichtlich seines Trinkverhaltens, wobei, wie SCHMIDT zu Recht anmerkt, der Mangel an Weingenuss die Implikation der Ausgeschlossenheit von menschlicher Gesellschaft beinhaltet.20

Eingebunden in dieses letzte Moment der Vergangenheitsbetrachtung ist dabei der betonte Hinweis auf die Dauer der Entbehrungen (δεκέτει χρόνῳ v. 715). Die mehr oder minder unbestimmten Angaben des Liedes werden so mit einer konkreten Zahl unterfüttert, deren Nennung gerade am Schluss des Leidenspanoramas einen wirkungsvollen Kontrast zum sich anschließenden νῦν δʼ herstellt.21

Ein betontes, die abschließende Gegenstrophe einleitendes „jetzt aber“ (v. 719) bildet das Gegengewicht zum ausführlichen Blick in die Vergangenheit, wie ihn die ersten Strophen dargeboten haben. An unserer Stelle ist der Chor explizit in der Gegenwart, d.h. beim momentanen Stand der Dinge angekommen. Nun, da Philoktet auf den Sohn „anständiger“ Männer (ἀνδρῶν ἀγαθῶν) getroffen sei, werde er glücklich und groß (εὐδαίμων καὶ μέγας v. 720) aus jenen Übeln (ἐκ κείνων) hervorgehen.22

Auf den angesprochenen „Sohn“ (παῖς v. 719) bezieht sich der folgende Relativsatz: Dieser bringe Philoktet nach der Dauer vieler Monate23 auf dem Schiff zurück in dessen thessalische Heimat. Deren „mythologisch“24-geographische Bestimmung bildet den Schluss des Stasimons. Konkret spricht der Chor dabei von der heimatlichen Wohnstatt der maliadischen Nymphen (πατρίαν αὐλὰν Μηλιάδων νυμφᾶν) und den Ufern des Spercheios (Σπερχειοῦ ὄχθαι) – dem Ort, wo Herakles – der „Mann mit dem ehernen Schild“ (ὁ χάλκασπις ἀνήρ) – seine Apotheose erlebt und sich als Gott (θεός),25 hell erleuchtet von göttlichem Feuer, den Göttern genähert habe. Die erneut geographische Angabe Οἴτας ὑπὲρ ὄχθων – „über den Hügeln des Oita“ – schließt die Gegenstrophe ab.

Die Interpretation der Gegenstrophe ist in mancher Hinsicht problematisch. Die mit νῦν δʼ eingeleitete Periode bietet einen Blick in die Zukunft: Das Futur ἀνύσει steht zu den Vergangenheitsformen der verklungenen Strophen in augenfälligem Kontrast und bildet geradezu den Fluchtpunkt der gesamten Gedankenbewegung (vgl. ἐκ κείνων). Dabei verbalisiert das Partizip ὑπαντήσας (im Kontrast zum vorigen οὐκ ἔχων v. 691) den der positiven Zukunftsaussicht zu Grunde liegenden Umstand. Vor dem Hintergrund der im Lied entfalteten Vergangenheit des Prot­agonisten ist damit die radikale Wende für Philoktet dargestellt: War gerade seine Einsamkeit und die daraus resultierende absolute Hilflosigkeit das bestimmende Moment seines Daseins auf Lemnos, so ist es die Begegnung mit dem namentlich ungenannten Neoptolemos, die sein „tränenreiches Leben“ (v. 689) zu Glück und Größe wenden wird.

Wie schon in den vorherigen Strophen (v. 684, 694, 696, 713) konkretisiert daraufhin ein Relativsatz die aufgeworfene Thematik und schildert die unmittelbar bevorstehende Überführung Philoktets in dramatischer Vergegenwärtigung als bereits gegenwärtiges Ereignis (ἄγει). Mit der mythologischen Ausleuchtung der geographischen Angaben löst sich das Stasimon an seinem Ende (scheinbar) aus der unmittelbaren Fokussierung auf Philoktet zu Gunsten eines farbig ausgestalteten Schlaglichts auf die Apotheose des Herakles. Wie schon zu Beginn des Liedes, so scheint sich auch hier sein Ende vom unmittelbaren Zusammenhang innerhalb der Handlung abzuheben.26

Ich gehe aus den gegebenen Gründen (kontrastierender Tempusgebrauch, syntaktische Parallelen zwischen den Strophen, Bündelung der entfalteten Motive in der zweiten Gegenstrophe sowie strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Beginn und Ende des Liedes), wie auch SCHMIDT, grundsätzlich von der „einheitlichen Konzeption“27 des Stasimons aus.

Das augenscheinliche Auseinanderfallen des vom Chor gezeichneten positiven Bildes der bevorstehenden Heimholung Philoktets und der tatsächlichen dramatischen Situation28 gab Anlass zu vielfältigen Lösungsvorschlägen. Die von VISSER erstellte kenntnisreiche Übersicht29 lässt dabei zwei Grundpositionen deutlich hervortreten: Während auf der einen Seite versucht wird, die Aussage des Chors dramenimmanent, d.h. als dezidierte Ausdeutung der Situation aus der Perspektive der Choreuten zu verstehen – wobei im Besonderen der mögliche Wiederauftritt bzw. das Erscheinen der abgetretenen Akteure bereits in Vers 719 in Erwägung gezogen wird –, plädiert man auf der anderen Seite für eine Herauslösung der Partie aus dem unmittelbaren Kontext. So seien hier wahlweise die Erwartungen Philoktets, die Gedanken des Neoptolemos oder die auf das Ende der Tragödie hinweisende Stimme des Dichters zu vernehmen. Eine ausführliche Diskussion dieser Positionen soll hier nicht erfolgen, ebenso wenig eine favorisierende Übernahme einer Ansicht. Man wird sich VISSER anschließen, wenn sie zugibt:

Eine Entscheidung zwischen den Möglichkeiten (1) und (2) [d.h. der dramenimmanenten Interpretation der Gegenstrophe oder ihrer Herauslösung aus dem Kontext] scheint mir hier – allein von der Basis des Textes aus – nicht mehr möglich zu sein.30

Demgegenüber will die vorliegende Interpretation versuchen, auf der Basis des durchaus ambi- und polyvalenten Texts einige genuin dramaturgische Implikationen des Liedes herauszustellen, die seine Positionierung, Gestaltung und Funktion erhellen.31 Ich gehe dabei mit BURTON davon aus, dass sowohl ein Wiederauftritt von Philoktet und Neoptolemos vor dem eigentlichen Ende des Liedes, d.h. in Vers 719,32 als auch die Annahme, die Choreuten sprächen in der Meinung, zumindest von den Akteuren gehört zu werden,33 nicht notwendig sind, um das Stasimon mitsamt seiner zweiten Gegenstrophe zu verstehen – ja dass sogar ein Wiederauftritt vor Vers 730 den intendierten Kontrasteffekt im Übergang vom Lied zur Szene mindern, wenn nicht gar zerstören würde.34

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