Kitabı oku: «Die Magie von Winterhaus», sayfa 2

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KAPITEL 3
EINE GABE SUCHT IHRESGLEICHEN

Die Lobby des Hotels Winterhaus war so riesig und so elegant, dass Elizabeth jedes Mal beim Hereinkommen beeindruckt war, obwohl sie mittlerweile täglich mehrmals hier durchging. Die Kandelaber, die glänzend polierten Holzpaneele, der dicke weiche Teppich mit dem Rautenmuster, die Gemälde und Elchköpfe an den Wänden, die sanfte Musik des Streichquartetts aus den Lautsprechern und das Aroma von Feuerholz, gemischt mit dem zuckersüßen Duft des weltberühmten Winterhaus-Konfekts, der «Flurschen». All das verzauberte Elizabeth immer wieder aufs Neue.

«Es gibt keinen besseren Ort auf der Welt», sagte Hyrum, während er die Mütze abnahm und seine feuchten Haare schüttelte. Er und Elizabeth hatten die Skier neben der Eingangstür stehen lassen und waren in die Lobby gegangen. Hyrum blickte zu der hohen Decke empor und lächelte. «Du hast echt Glück, dass du hier wohnen darfst.»


Elizabeth wollte ihm gerade beipflichten, als Sampson, ein Page, der kaum älter war als Hyrum, sie lautstark begrüßte. «Die weltberühmte Langläuferin Elizabeth Somers ist zurückgekehrt!», rief er von seinem Pagentisch aus und zeigte mit einem breiten Grinsen seine Hasenzähne.

«Hallo Sampson», sagte Elizabeth. Sampson war in ihren Augen nicht nur einer der besten, sondern auch der freundlichste Page im Winterhaus.

«Und Ihnen ein herzliches Willkommen, Mr. Hyrum Crowley», sagte Sampson. «Schön, Sie zu sehen. Ich bin froh, dass Sie und Elizabeth es noch vor dem Sturm ins Hotel geschafft haben.»

«Hey, Sampson», sagte Hyrum und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. «Da draußen schneit es schon tüchtig. Ist Mr. Fowles bereits eingetroffen?»

Sampson spähte durch das Glas der Eingangstüren. «Wir erwarten ihn jeden Moment.»

«Es wird auch mit jeder Minute kälter», setzte Elizabeth hinzu, doch ihr Blick wurde schon von einer Ecke der Lobby angezogen, wo auf einem langen Tisch das riesige Puzzle lag, dem der große, kahlköpfige Mr. Wellington und der kleine, rundliche Mr. Rajput in den vergangenen Monaten unendlich viele Stunden ihrer Zeit gewidmet hatten. Die beiden Männer kehrten mit ihren Ehefrauen drei- oder viermal im Jahr jeweils für zwei Wochen im Hotel ein und verbrachten dann die meiste Zeit damit, nach passenden Puzzleteilchen zu suchen. Das letzte Mal waren sie an Weihnachten da gewesen und hatten große Fortschritte an dem Motiv gemacht, das einen Tempel im Himalaja darstellte, wo Nestor Falls, der Gründer von Winterhaus, einmal gelebt hatte. Mittlerweile konnten sie es kaum noch abwarten, das Puzzle endlich fertigzustellen. Elizabeth half ihnen, sooft sie konnte – zum einen, weil sie Puzzles liebte, zum anderen, weil sie die geradezu unheimliche Gabe besaß, in Windeseile die passenden Puzzleteile zu finden. Mr. Wellington und Mr. Rajput waren immer dankbar, wenn sie sich zu ihnen gesellte.

Zu Elizabeths Überraschung standen die beiden Männer jetzt neben dem Tisch (ohne ihre Frauen, die sie nirgends entdecken konnte) und betrachteten das unfertige Puzzle, als ob sie bereits seit Stunden darüber brüten würden. Dabei hatten Elizabeth und Hyrum sie doch eben erst das Hotel betreten sehen. Es kam ihr merkwürdig vor, dass Mr. Wellington und Mr. Rajput sich sofort nach ihrer Ankunft an die Arbeit machten, ohne überhaupt ihre Zimmer aufgesucht zu haben.

«Ich wusste gar nicht, dass sie heute kommen wollten», sagte Elizabeth zu Sampson und deutete auf den Puzzletisch.

Er beugte sich zu ihr. «Es kam auch für uns unerwartet», sagte er mit gesenkter Stimme. «Mr. Wellington war ganz aufgeregt, wieder hier zu sein. Er hat Mr. Rajput angetrieben, er solle sich beeilen, damit sie mit dem Puzzle weitermachen können, und dann sind sie geradewegs zum Tisch gegangen, als ob sie es gar nicht abwarten könnten.»

Hyrum drehte sich zu Elizabeth um und warf ihr einen Blick zu, der besagen sollte: Wie seltsam! Doch dann zuckte er mit den Achseln und bedeutete Elizabeth mit einer Kopfbewegung, ihn zu den beiden Männern zu begleiten. «Wollen wir sie begrüßen?»

Sie schlenderten zum Puzzletisch, aber Mr. Wellington und Mr. Rajput schienen sie gar nicht zu bemerken, so sehr waren sie in die Puzzlestücke vertieft, die vor ihnen lagen.

«Hallo Mr. Wellington», sagte Elizabeth. «Hallo Mr. Rajput.»

Die Köpfe der beiden Männer ruckten hoch. Sie wirkten nicht nur überrascht, Elizabeth zu sehen, sondern auch leicht verdattert, wie jemand, der einer Person begegnet und weiß, dass er diese Person kennt, sie aber nicht einordnen kann.

Nach einer kleinen Weile kehrte der typische leutselige Ausdruck auf Mr. Wellingtons Gesicht zurück. «Ach ja!», sagte er überschwänglich. «Die liebe Elizabeth! Wie schön, dich zu sehen!» Er trat zu ihr und schüttelte ihr die Hand. Dann wandte er sich Hyrum zu. «Und unser junger Lehrer! Freut mich, freut mich, Sir!» Er drehte sich zu Mr. Rajput um, der zögernd vortrat. «Nun machen Sie schon, Mr. Rajput, kommen Sie und begrüßen Sie unsere Freunde!»

Der kleinere Mann hatte seine übliche freudlose Miene aufgelegt, als ob er gerade eine übergroße Enttäuschung erlebt hätte und jeden an seinem Gefühlsleben teilhaben lassen wollte. Er streckte Elizabeth die Hand hin. «Wir sind immer hocherfreut, wenn unser Wunderkind sich zu uns gesellt», sagte er. Sein Blick unter den schweren Lidern wandte sich Hyrum zu. «Auch wenn ich vermute, dass sie bereits den Nachmittag mit jugendlichen Vergnügungen verplant hat und sich nicht in der Lage sieht, hier bei uns zu verweilen, während wir auf unserem mühseligen – sehr mühseligen! – Weg voranschreiten, um dieses …»

«Mr. Rajput!», fiel ihm Mr. Wellington ins Wort und deutete auf Hyrum, um seinen Puzzlepartner aufzufordern, auch ihm die Hand zu geben. «Hören Sie doch auf zu murren!» Er lächelte Elizabeth zu. «Wir freuen uns, wieder hier zu sein, und wir konnten es gar nicht erwarten, unsere Arbeit an dem Puzzle aufzunehmen.»

«Das sehe ich», sagte Elizabeth und betrachtete das Puzzle auf dem Tisch. Die beiden würden noch einen oder zwei weitere Besuche hier im Hotel benötigen, um es zu vollenden, schätzte sie. Obwohl sie den Männern gerne half, wenn sie hier im Winterhaus waren, vermied sie es, in ihrer Abwesenheit auch nur ein einziges Puzzleteil anzurühren, aus Respekt Mr. Wellington und Mr. Rajput gegenüber. Es war deren Projekt. Wenn die beiden nicht da waren, stand sogar ein Schild auf dem Tisch – Mr. Rajput und Mr. Wellington, die seit Monaten an diesem Puzzle arbeiten, halten sich derzeit nicht im Hotel auf. Bitte lassen Sie das Puzzle unberührt! Vielen Dank. Mr. R und Mr. W –, das jede Ambition von Außenstehenden im Keim erstickte. So merkwürdig es Elizabeth auch vorkam, kein einziger Gast schien jemals Anstalten zu machen, die Bitte zu ignorieren oder auch nur infrage zu stellen. Viele Leute bewunderten das Puzzle, aber noch nie hatte sie gesehen, dass jemand versuchte, selbst ein Teil einzupassen.

«Nun, Sie beide verschwenden wirklich keine Zeit», sagte Hyrum.

Mr. Wellington wandte sich mit strahlenden Augen zu Mr. Rajput um. «Wir sind entschlossen, bis Ostern fertig zu werden», sagte er. «Wir hatten ursprünglich vor, erst nächsten Mittwoch herzukommen, doch dann haben Mr. Rajput und ich nach eingehender Beratung beschlossen, unseren Zeitrahmen zu erweitern, um den Fertigstellungstermin halten zu können.» Er beugte sich vertraulich vor und sagte munter: «Wenn wir jeden Tag vor dem Frühstück anfangen und bis spät abends dranbleiben, dann bin ich zuversichtlich, dass wir es innerhalb der nächsten zwei Wochen schaffen können! Wir haben keine Zeit zu verlieren, was, Mr. Rajput?»

Mr. Rajput zuckte müde die Schultern und ging zum Puzzle zurück. «Ich bin nicht derjenige, der meine Zeit mit einem Schwätzchen vergeudet», sagte er düster.

Elizabeth, die das Puzzle betrachtet und sich – nicht zum ersten Mal – darüber gewundert hatte, dass diese riesige Kiste und die vielen tausend Puzzleteile überhaupt existierten, spürte ein vertrautes Ziehen in ihrem Inneren.

«Hey!», sagte sie fröhlich und deutete auf ein Teil neben Mr. Rajputs Hand. «Ich glaube, ich weiß, wo das hingehört.»

Mr. Wellington schaute Hyrum an und machte ein Gesicht wie jemand, der gerade einen Zwanzig-Dollar-Schein auf dem Teppich gefunden hat. «Sie ist schon erstaunlich, ohne Frage», sagte er. «Wir wissen ja, was jetzt kommt.»

«Eins muss man der jungen Dame lassen», setzte Mr. Rajput hinzu. «Sie hat eine ganz außerordentliche Begabung für das Puzzeln.»

Das Teil, das Elizabeth entdeckt hatte, war ganz und gar blau – ein Stück des aus tausenden Teilen bestehenden Himmels –, aber etwas an seiner Form oder an der Art, wie es auf dem Tisch lag, erweckte das Gefühl in ihr. Sie nahm es, ging zu einer Gruppe von zusammengefügten Teilen am oberen Rand des Bildes und setzte es ein. Es passte perfekt.

«Genau dahin!», sagte sie triumphierend. Sie hatte keine Ahnung, wieso sie das konnte. Sie wusste nur, dass sie oft diese Intuition hatte, wenn sie den beiden Männern half. Sie spürte förmlich, dass ein bestimmtes Teil an eine bestimmte Stelle gehörte. Aber diesmal, als alle drei Männer sie bewundernd betrachteten, empfand sie eine ungewöhnliche Befriedigung darüber, dass sie ein passendes Teil gefunden hatte, eine Freude, wie sie sie vorher noch nie verspürt hatte.

«Wow!», sagte Hyrum. «Das ist wirklich eine Begabung.»

«Nein, eine Gabe», sagte Mr. Wellington. «Sie hat eine Gabe

«Und in einer Stunde hat sie eine Verabredung mit Mr. Falls», sagte jemand.

Elizabeth drehte sich um und sah Jackson hinter sich stehen, den ersten Pagen und Norbridges rechte Hand. Er sah wie immer tadellos und adrett aus in seiner roten Livree und mit der roten Kappe auf dem Kopf, den Messingknöpfen und dem Namensschild – ebenfalls aus Messing –, beides blitzblank poliert. Jackson war der erfahrenste und fähigste Angestellte des Hotels, und er genoss Norbridges und Elizabeths vollkommenes Vertrauen.

«Hallo Jackson», sagte sie, und Hyrum begrüßte ihn auch. Die beiden Männer am Tisch traten vor und schüttelten Jackson die Hand.

«Mr. Wellington, Mr. Rajput», sagte Jackson erfreut. «Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.» Er schaute sich um. «Sind Ihre Gattinnen mit eingetroffen?»

Mr. Wellington deutete die Treppe hinauf. «Sie sind schon nach oben gegangen.»

Jackson lächelte herzlich. «Wir sind überglücklich, Sie wieder als unsere Gäste begrüßen zu dürfen.» Er wandte sich an Hyrum. «Und Sie ebenfalls, junger Herr. Schön, Sie zu sehen. Ihr Schuldirektor, Mr. Fowles, wird sicher gleich da sein. Zum Abendessen gibt es Forelle und Süßkartoffeln, und dann wird Miss Sunny Chen ein Violinkonzert im Saal der Künste geben, um acht Uhr. Sie spielt die Vinteuil Sonata. Ich bin sicher, das wird Ihnen gefallen.» Er nickte Elizabeth zu. «Und wie Miss Somers ja weiß, gibt es morgen eine Aufführung des Theaterstücks Isfaheen, die schwimmende Stadt, gefolgt von einem Vortrag über die Kunst der Verstellung der Stimme von dem berühmten Bauchredner Isaac Igbinedion. Sie sollten sich nichts davon entgehen lassen.»

«Der Aufenthalt im Winterhaus ist immer ein Vergnügen, Jackson», sagte Hyrum. «Aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne der Bibliothek einen Besuch abstatten. Es gibt da ein paar Bücher, die ich für den Unterricht nächste Woche brauche.»

«Gerne», sagte Jackson. «Das Abendessen wird um halb sieben serviert.»

Hyrum salutierte und lächelte den anderen zu. «Bis nachher», sagte er und wandte sich ab.

Eine unbehagliche Stille senkte sich über Elizabeth und die drei Männer, als sie Hyrum hinterhersahen. Elizabeth hatte den Verdacht, dass Mr. Wellington und Mr. Rajput es nicht erwarten konnten, sich wieder dem Puzzle zu widmen.

Jackson räusperte sich. «Gentlemen», sagte er gütig, «da Sie bereits mit Miss Somers’ Hilfe ein Puzzleteil gefunden haben, könnten Sie sich vielleicht überreden lassen, auf Ihre Zimmer zu gehen und sich vor dem Abendessen etwas auszuruhen. Das Puzzle wird auch später noch auf sie warten.»

Mr. Rajput schaute Mr. Wellington schulterzuckend an. «Möglicherweise sollten wir seinen Rat beherzigen. Denn da unsere junge Helferin nicht bleiben kann, sind unsere Aussichten, heute Nachmittag noch Fortschritte zu machen, äußerst gering. Wir sind beide aus der Übung.» Er rieb sich die Stirn. «Und ich bin müde.»

Mr. Wellingtons Blick huschte eilig über die Puzzleteile, die verstreut auf dem Tisch lagen. Dann strich er sich über das Kinn und lächelte Jackson an, woraufhin er tief Luft holte.

«Sie haben recht, Jackson», sagte er. «Eine kurze Unterbrechung wird wohl nichts schaden. Nun denn, auf in unsere Zimmer!» Er winkte Mr. Rajput, ihm zu folgen, und die beiden Männer gingen in Richtung Fahrstuhl. «Auf dass wir unseren Aufenthalt im Winterhaus genießen, wie immer.» Er drückte den Knopf und wandte sich noch einmal zu Jackson und Elizabeth. «Bis heute Abend.»

Mr. Rajput wedelte lustlos mit der Hand, als sich die Fahrstuhltür öffnete. «Wir sehen uns beim Abendessen, vorausgesetzt, uns stößt bis dahin kein Ungemach zu.»

«Sir!», protestierte Mr. Wellington, als er mit seinem Freund in den Fahrstuhl trat. «Natürlich sehen wir sie beim Abendessen. Und dann machen wir uns gleich wieder an die Arbeit an …»

Die Tür schloss sich. Elizabeth starrte sie an, als ob die beiden Männer ihre Meinung ändern und wieder zurückkommen würden. Dann blickte sie zu Jackson, der ebenfalls die Fahrstuhltür nicht aus den Augen ließ.

«Die beiden sind ja ganz wild darauf, das Puzzle fertigzukriegen», sagte sie.

«Das Reisen kann manche Leute ziemlich durcheinanderbringen», sagte Jackson mit hochgezogenen Augenbrauen.

Er schaute sich in der Lobby um. An einem Samstagnachmittag vor drei Monaten, in der geschäftigen Vorweihnachtszeit, wäre hier einiges los gewesen: Leute, die in alle Richtungen eilen – Angestellte bei den Vorbereitungen für die Festessen und Konzerte und Gäste auf dem Weg hinaus zum Schlittschuhlaufen oder hinein für eine Tasse heiße Schokolade im Wintersaal. Dann wirkte Winterhaus wie ein Bahnhof im Berufsverkehr. Aber jetzt, an einem dunklen Tag Mitte März, zwei Wochen vor Ostern, war das Hotel nur zur Hälfte ausgebucht, und die Abende verbrachte man im hoteleigenen Kino oder bei stillen Konzerten. Elizabeth liebte die Weihnachtszeit im Winterhaus, aber sie merkte, dass sie jetzt, da sie hier im Hotel wohnte, auch die ruhigeren Zeiten schätzte.

«Du sagtest, dass Norbridge mich sehen will?»

«Um vier Uhr im Observatorium.»

Das Observatorium befand sich im dreizehnten Stock, ganz oben, wo Norbridge ein kostbares Teleskop auf einem überdachten und von Fenstern eingefassten Balkon aufbewahrte, sodass es möglich war, die Welt rings um Winterhaus bei Tag und die Sterne und Planeten in der Nacht zu beobachten. Dort befand sich auch ein Büro, in dem er die wichtigsten Angelegenheiten des Hotels regelte.

«Ich glaube», sagte Jackson, «es geht um Elana.»

Elizabeth erschauerte. Elana. Es war in der Silvesternacht gewesen, in den düsteren Tunneln unter dem Winterhaus, dass Elana Vesper – oder besser gesagt Elana Powter, wie Elizabeth jetzt wusste – ein tragisches Schicksal ereilt hatte. Elana war von ihren Eltern, die mit Gracella unter einer Decke steckten, gezwungen worden, gegen Elizabeth zu intrigieren, um Gracella wieder zu ihrer alten Stärke zu verhelfen. Dazu wollte sich Gracella Elizabeths neu gewonnener Macht bedienen, doch Elizabeth entschloss sich dazu, diese Macht für sich zu behalten, und besiegte die böse Zauberin. Aber in der Schlacht in den verschlungenen Minengängen unter dem Hotel hatte Gracella in einem letzten, verzweifelten Versuch, sich selbst zu retten, Elanas Körper ihre Lebensjahre entzogen, mit dem Ergebnis, dass die zwölfjährige Elana nun eine schwache und runzelige alte Frau von neunzig Jahren war. Eine entsetzliche, erschreckende Tragödie, umso mehr, als sich herausstellte, dass Elana ein unschuldiges Bauernopfer ihrer eigenen hinterhältigen Familie war. Nach den dramatischen Ereignissen in der Silvesternacht waren Elanas Eltern und ihr Bruder verschwunden und hatten Elana allein zurückgelassen.

Elizabeth fühlte sich elend bei dem Gedanken an Elanas Unglück. Sie fand, dass das andere Mädchen viel schlimmer bestraft worden war, als sie es für die wenigen Hilfestellungen, die sie ihren Eltern bei ihrem üblen Plan geleistet hatte, verdiente. Wenn es irgendetwas gab, das ihr helfen konnte, wollte Elizabeth es ausfindig machen. Sie wusste, dass Norbridge genauso dachte. Im Augenblick wohnte Elana in einem Zimmer im vierten Stock, das sie nie verließ. Sie befand sich in einem Zustand permanenter Trauer und Verwirrung, und es war schwer zu sagen, ob sie überhaupt verstand, wo sie war oder was mit ihr geschehen war. Manchmal fragte sich Elizabeth, ob Elanas Geist sich durch die Ereignisse dauerhaft umnachtet hatte. So traurig es auch war, möglicherweise gab es keine Hoffnung mehr für sie.

«Ist etwas mit ihr geschehen?», fragte Elizabeth.

«Ich glaube, sie möchte mit dir und Norbridge reden», sagte Jackson. «Soweit ich das mitbekommen habe, geht es ihr besser. Hoffen wir, dass sie über den Berg ist.»

Diese Nachricht kam überraschend für Elizabeth und sie freute sich sehr darüber. «Das klingt ja großartig!» Sie schaute zu der Uhr auf dem Pagentisch. «Ich werde pünktlich um vier oben sein.»

«Wunderbar», sagte Jackson. Er nickte und wandte sich dem Tisch zu, wo Sampson ein paar Unterlagen durchblätterte. Dann ging er auf ihn zu. «Machen Sie keinen Buckel, Sir!», rief er. «Das ist schlecht für den Rücken und schlecht für die Wirbelsäule. Aufrecht stehen! Aufrecht!»

Elizabeth wollte sich schon der Treppe zuwenden, als ihr Blick wie von selbst noch einmal zu dem Puzzle wanderte und sie den unwiderstehlichen Drang verspürte, weitere passende Teile zu finden. Sie betrachtete den Tempel auf dem Motiv und das Wort, das in einer ihr unbekannten Sprache über den Türen eingemeißelt war. Mr. Wellington hatte ihr einmal erzählt, es bedeute «Glaube», und jedes Mal, wenn Elizabeth daran dachte, überkam sie ein tröstliches Gefühl. Mit einem Finger fuhr sie über die Buchstaben, als würde sie ein Blatt Papier glätten, und legte dann den Finger auf ihren Pullover, auf die Stelle, unter der sich der Anhänger mit demselben Wort darauf befand.

Ein Schauer überlief sie, ganz ähnlich wie das Gefühl, aber merkwürdig kalt und scharf. Ohne nachzudenken, nahm sie ein Puzzleteil in die Hand – wieder ein Stück des blauen Himmels – und starrte es an. Nach einem prüfenden Blick über die Schulter, ob nicht etwa Jackson, Sampson oder sonst jemand herübersah, steckte sie das Puzzleteil in ihre Tasche, holte tief Luft und ging dann zur Treppe, hinaus aus der Lobby.

Sie hatte gerade eins der fünfunddreißigtausend Teile von Mr. Wellingtons und Mr. Rajputs Puzzle gestohlen.


KAPITEL 4
WOHIN DIE SEELE SENDEN?

Elizabeths Zimmer mit der Nummer 301 befand sich im dritten Stock und war so hell und freundlich, wie das Zimmer bei ihrer Tante und ihrem Onkel in dem schäbigen Haus in Drere düster und trüb gewesen war. Man muss sich vorstellen, in einem Hotel zu leben, wo für alles gesorgt und alles erledigt wird, aber mit all den Dingen, die einem lieb und teuer sind: die eigenen Bücher auf einem großen Regal aus Eichenholz, die eigenen Kleider in einem Kirschbaumschrank, die eigenen Poster an den Wänden – Huskies vor einem Schlitten, der junge Artus, der Excalibur aus dem Stein zieht, das Cover von Der Herr der Diebe, das Schnabeltier aus dem dritten Cattle-Battle Film Die Rückkehr der Heifers – und Ketten mit Glitzerkram, kleinen Fähnchen und Lichtern kreuz und quer über der Decke. So sah es in Elizabeths Zimmer aus. Sie liebte es. Und manchmal konnte sie kaum glauben, dass all das ihr gehörte. Am liebsten saß sie auf dem Sofa, schaltete die Tiffany-Lampe ein und las stundenlang. Wenn die Vorhänge offen waren und den Blick freigaben auf den Winterhimmel, den Lake Luna und die Berge dahinter, umso besser. Aber eine dunkle Nacht mit einem Halbmond war auch nicht zu verachten. Ihr zweiter Lieblingsort, gleich nach dem gemütlichen Lesesofa, war der kleine Schreibtisch neben dem Bett, an dem sie ihre Hausaufgaben erledigte, Bilder malte oder eine der Listen vervollständigte, die sie in ihrem Notizbuch anlegte. Erst kürzlich waren einige neue hinzugekommen: «Gründe, warum die Havenworth Akademie besser ist als die Mittelschule in Drere», «Die besten Vorträge im Winterhaus in diesem Jahr», «Lieder, die ich auf der Gitarre spielen werde, wenn ich Gitarrespielen gelernt habe», «Tattoos, die ich mir nie machen lassen würde, selbst wenn ich jemals auf die Idee kommen sollte, ein Tattoo zu tragen». Es fiel ihr leicht, sich an diesem Schreibtisch zu konzentrieren, ganz anders als in ihrem Zimmer in Drere, wo sie ihre Mathehausaufgaben hatte machen müssen, während nebenan der Fernseher ihrer Tante plärrte (Car Crash Chaos oder Wir lachen über die anderen! gehörten zu ihren Lieblingssendungen) oder sie sich die endlosen Klagen ihres Onkels über seinen Job anhören musste. Das Leben im Zimmer 301 des Hotels Winterhaus war ein wahr gewordener Traum.

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