Kitabı oku: «Die Magie von Winterhaus», sayfa 3
Aber als sie an diesem Nachmittag die Tür hinter sich abschloss und ihre Skikleidung auszog, fanden ihre Gedanken keine Ruhe. Sie musste ständig an den unheimlichen Mineneingang denken, an das merkwürdige Verhalten der Männer am Puzzletisch, an Elanas Zustand. Vor allem aber beschäftigte sie die Frage, warum sie ein Puzzleteil gestohlen hatte. Sie holte das kleine hölzerne Plättchen aus ihrer Tasche, legte es auf den Schreibtisch und betrachtete es: ganz und gar blau, die Ränder geschwungen und präzise ausgesägt, wie all die anderen Teile des Puzzles. Völlig normal. Was nicht normal gewesen war, war die Tatsache, wie schwer es ihr gefallen war, die Lobby zu verlassen, als sich das Teil in ihrer Tasche befand. Elizabeth vermutete, dass es an dem schlechten Gewissen lag, das an ihr nagte, aber sie hatte auch den seltsamen Eindruck gehabt, dass sie gegen eine Art Widerstand ankämpfen musste, als ob ein unsichtbares Band sie wieder zum Tisch ziehen würde.
Ich bringe es bald zurück, dachte sie und schob die Frage, was sie überhaupt dazu bewogen hatte, es mitzunehmen, beiseite. Sie legte das Holzplättchen in die oberste Schublade ihres Schreibtischs, duschte schnell und setzte sich dann hin, um das zu tun, was sie an den Samstagnachmittagen am liebsten tat: sich in ihren neuen Laptop einzuloggen, den Norbridge für sie gekauft hatte und den zu benutzen sie sich selbst nur dreimal in der Woche für eine halbe Stunde gestattete, um mit ihrem besten Freund Freddy Knox E-Mails auszutauschen.
Elizabeth mochte die Arbeit in der Bibliothek, wo sie Leona mindestens drei Nachmittage in der Woche und meistens auch an den Wochenenden half; bereitwillig führte sie samstagvormittags interessierten Gästen eine Stunde lang die Camera obscura im dreizehnten Stock vor, die Freddy repariert hatte. Sie hatte ihm versprochen, sich darum zu kümmern. Sie mochte auch ihre Schule und hatte sich sogar mit ein paar Kindern angefreundet. Aber worauf sie sich am allermeisten freute, war, einmal in der Woche eine Nachricht von Freddy zu bekommen, mit dem sie in den zwei vorangegangenen Weihnachtsferien etliche Abenteuer erlebt hatte und der in fünf Tagen zusammen mit seinen Eltern im Winterhaus eintreffen würde, um hier die Osterfeiertage zu verbringen.
Freddy war ein Jahr älter als Elizabeth. Seine ungeheuer wohlhabenden Eltern hatten allerdings viel mehr Interesse an den Dingen, die sie kauften, und an den Orten, zu denen sie reisten, sodass Freddy für sie immer erst an zweiter oder dritter Stelle kam. Vier Jahre lang hatten sie ihn ausgerechnet in der Zeit, in der die meisten Familien versuchten, zusammen zu sein, allein im Winterhaus gelassen. Freddy machte das nichts aus, denn er liebte das Hotel genauso, wie Elizabeth es tat. Was Elizabeth besonders an Freddy mochte, war der Umstand, dass er trotz des Reichtums seiner Eltern nicht hochnäsig und arrogant war, sondern im Gegenteil sehr nett und außerdem unglaublich intelligent. Er war ein erstklassiger Erfinder, der nicht nur die Camera obscura wieder zum Laufen gebracht, sondern auch im Jahr zuvor das «WalnussWunderWarm» erfunden hatte, ein brennbares Scheit aus gepressten Walnussschalen. Elizabeth fand, dass sie und Freddy sich in vielerlei Hinsicht ähnelten – hauptsächlich, weil sie beide von Natur aus neugierig und ganz verrückt waren nach allem, was mit Anagrammen, Codes, Rätseln und allerlei Wortspielen zu tun hatte. Sie waren schon im ersten Jahr im Winterhaus beste Freunde geworden.
Als sie ihren Laptop einschaltete, schaute sie zum Fenster, an dem die Vorhänge zurückgezogen waren. Im Schein der Lampen vor dem Hotel schwebte der Schnee durch das nachmittägliche Zwielicht wie Gischt von der Brandung einer Atlantikküste. Die Flocken waren überall, sausten in dichten Wolken durch den dunkler werdenden Himmel. Der Wind drückte gegen die Fensterscheibe, und Elizabeth zog ihren Pullover enger über die Schultern und wandte sich ihrem Computer zu, um Freddys E-Mail zu lesen:
Ihr obenauf stellend! Ähm, ich meine natürlich: Hallo beste Freundin! (Nur für den Fall, dass du das Anagramm nicht selbst lösen konntest …) Ich hoffe, deine Woche war besser als meine. Am Montag habe ich meine Brille zerbrochen. Am Dienstag sollte mich mein Dad eigentlich zu einem Hockeyspiel mitnehmen, aber dann sagte er, er könnte nicht mitkommen, also musste ich stattdessen mit unserem Chauffeur gehen. Aber das war lustig. Jacques ist ein echt netter Kerl, und wir haben jede Menge Popcorn gegessen, und ich habe drei Eiscreme-Sandwiches gefuttert. Aber die Albatrosse haben im Penaltyschießen verloren, was nicht so gut war. Und am Mittwoch habe ich eine Erkältung bekommen. Wenigstens war gestern ein guter Tag; wir haben unsere Halbjahresnoten bekommen, und ich habe überall eine 1. Manche Dinge ändern sich nie. Sollte ein Scherz sein! (Na ja, eigentlich stimmt es ja, zumindest in dieser Beziehung. Was macht denn bei dir die Schule?)
Und wie läuft es im Winterhaus? Klappt alles mit der Camera obscura? Hast du mittlerweile sechstausend von den Büchern der Bibliothek gelesen oder erst fünftausend? Geht es Norbridge gut? Und Leona? Und allen anderen? Ich bin immer noch ziemlich neidisch, dass du da wohnen darfst, aber ich freue mich auch für dich. Vielleicht kannst du Norbridge fragen, ob ich auch bei euch einziehen darf. (Wink mit dem Zaunpfahl: Oh bitte, ja, ja. Machst du das? Bitte?!?)
Ich habe ein bisschen geforscht, und hier sind ein paar Updates für dich. Mach dich bereit, vor Ehrfurcht auf die Knie zu sinken: Fred – Rufe – Kufe – Fuge – Flug – Klug. Du weißt, was ich meine, nicht wahr? Aber mal was anderes: Ich habe mir diese Website über Ahnenforschung angeschaut, von der ich dir erzählt habe – wogenauduherkommst.com –, um herauszufinden, ob es zwischen den ganzen Leuten, die Gracella geholfen haben, irgendwelche Verbindungen gibt. Also, wir wissen Folgendes: Riley Granger (oder, wie ich ihn nenne: «Der Typ, der vor langer, langer Zeit all die verrückten und rätselhaften Dinge im Winterhaus erschaffen hat, nur um uns in den Wahnsinn zu treiben») war der Vater von Ruthanne Sweth Granger, die Monroe Hiems heiratete. Ihr Sohn war Marcus Hiems (der aus diesem Grund die Geschichten über das Buch kannte) und der wiederum Gracellas Tochter Selena Winters heiratete. Außerdem heiratete Rileys Cousine Jenora Sweth einen Kerl namens Peter Powter, und die beiden bekamen einen Sohn, Ernest Powter, den Vater von Rodney und Elana. Die Powters sind mit Selena verwandt, weshalb sie so gut über Winterhaus Bescheid wussten. Aber ich habe Neuigkeiten: Peter Powter hatte eine Schwester namens Patricia, und sie war diejenige, deren Namen du in dem alten Gästebuch gefunden hast! Du weißt schon, die Frau, die mit dem alten Riley Granger im Winterhaus war. Unheimlich, was? Und interessant!
Und noch etwas habe ich herausgefunden. Zwar hatte ich keinen Erfolg in meiner Recherche über die Dredforth-Methode, aber vor ein paar Tagen bin ich auf einer Website mit dem Titel «Der blutrote Skarabäus» gelandet. Ich weiß nicht, wer das ganze Zeug zusammengestellt hat, aber es geht von vorne bis hinten nur um Magie. Ich habe dir das Wichtigste rausgeschrieben:
Der schottische Scharlatan und Bösewicht Aleister Winters deutete wiederholt an, dass er und sein Zirkel das Geheimnis des ewigen Lebens durch ein Ritual ergründet hätten, das er die «Dredforth-Methode» nannte. Winters glaubte, dass sich Seelen von menschlichen Körpern lösen und später wieder in sie einkehren könnten, wenn die Umstände optimal seien. Aber Winters behauptete, dass im Falle eines Todes die «unbehauste Seele» spätestens am Abend des dritten Vollmonds nach dem Dahinscheiden der Person mit dem Körper wieder vereint werden müsse, ansonsten sei sie für immer verloren. Der Schriftsteller Damien Crowley, der in den 1950ern dem Einfluss von Aleister Winters erlag, soll angeblich das Geheimnis der Dredforth-Methode in einem unveröffentlichten Roman verraten haben. Die meisten Wissenschaftler halten die ganze Geschichte um Winters und Crowley für reinen Humbug.
Irre, oder? Im Grunde genommen ist es so, dass Gracellas Mann diese magische Zeremonie entwickelt hat, über die wir beide mehr erfahren wollen, und dann hat Damien Crowley ein Buch darüber geschrieben. Wir müssen dringend miteinander reden, findest du nicht auch?
Okay, ich muss los. Oh, und bitte lass mir ein paar Flurschen übrig. Ich hoffe, meine Eltern ändern nicht wieder in letzter Minute ihre Meinung, wie an Weihnachten. Aber selbst wenn, dann werde ich dafür sorgen, dass sie wenigstens mich kommen lassen!
Bis bald,
Freddy.
PS: Ich hoffe wirklich, dass es Elana besser geht.
Elizabeth war sprachlos. Sie hatte zum ersten Mal in einem Brief, den sie vor zwei Jahren im Hotelzimmer von Selena Hiems gefunden hatte, über die Dredforth-Methode gelesen. Unterschrieben war der Brief nur mit dem Buchstaben D. Und obwohl sie keine Ahnung hatte, was es mit dieser Methode auf sich hatte, wusste sie genau, dass es sich um eine Magie handelte, mit der man Seele und Körper einer Person voneinander trennen konnte, um beides zu erhalten, wenn auch in einem geschwächten und beschränkten Zustand. Elizabeth hatte die halbe Bibliothek auf den Kopf gestellt, ohne dass es ihr gelungen war, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Schneefall schien noch dichter geworden zu sein. Sie zog die Vorhänge zu und kehrte zu ihrem Laptop zurück, um eine Google-Suche nach dem aktuellen Mondzyklus zu starten. Auf dem Bildschirm erschien eine Tabelle mit Daten, und es dauerte nicht lange, da dämmerte ihr eine schreckliche Erkenntnis: Der dritte Vollmond nach Gracellas Tod ist in zwei Wochen – in der Nacht vor Ostern.
Am liebsten hätte sie Freddy eine Antwort geschrieben und seine Entdeckung kommentiert und ihm außerdem erzählt, was sie an der Mine erlebt hatte und wie froh sie war, dass er bald hier sein würde. Aber sie wollte sich nicht verspäten. Sie konnte kaum erwarten zu erfahren, was mit Elana los war, und sie musste Norbridge unbedingt von dem roten Schimmer berichten, den sie im Schnee über der verlassenen Mine beobachtet hatte.
Und auch von der Dredforth-Methode, dachte sie. Ich werde Norbridge erzählen, was Freddy herausgefunden hat.
Sie klappte den Computer zu, stand auf und machte sich auf den Weg zum dreizehnten Stock.
KAPITEL 5
EINE RÜGE FÜHLT SICH UNGERECHT AN
Elizabeth klopfte an die Tür des Observatoriums, und als sie ein herzliches «Herein!» hörte, trat sie ein. Das Zimmer war klein und nur spärlich möbliert, doch das Messingteleskop auf dem verglasten Balkon war sehr beeindruckend. Norbridge hatte Elizabeth schon alles Mögliche gezeigt, von den Ringen um den Saturn bis zum weit entfernten Berg Mount Arbaza. Der aufregendste Anblick durch das Teleskop war für Elizabeth aber immer noch die Statue von Winifred, ihrer Mutter, auf der anderen Seite des Lake Luna. Der Weg dorthin war noch nicht frei, aber Elizabeth hoffte, dass sich das bald ändern würde. Sie konnte es kaum erwarten.
«Elizabeth, meine Liebe!», sagte Norbridge, der durch die Tür am Ende des kurzen Flurs trat, gleich neben dem Wohnzimmer. Er trug sein übliches Wolljackett, ein weißes Hemd, eine schwarze Fliege und schwere Stiefel. Sein schneeweißer Bart war so sorgfältig gestutzt wie immer. Das Gesicht mit den roten Wangen und den fröhlich funkelnden Augen wirkte so gut gelaunt, wie Elizabeth es von ihm kannte.
Norbridge breitete die Arme aus. «Da bist du ja!»
Elizabeth lächelte. «Jackson sagte, du wolltest mich sprechen.»
«Das ist richtig.» Er lockte sie mit dem Finger, ehe er sich abwandte und sagte: «Hier hinein, bitte. Ich muss ein paar Dinge mit dir besprechen.»
Auf dem Boden von Norbridges Büro lag ein silberschwarzer Navajo-Teppich. Der Raum wurde von zwei Lampen erleuchtet, und an den Wänden standen Vitrinen und Regale und ein unordentlicher Schreibtisch. Bodentiefe Fenster gaben den Blick frei auf den dunklen Himmel. Aber das Bemerkenswerteste an dem Raum waren die glänzenden Wandbilder aus blauen und weißen Fliesen, die Szenen aus der bewegten Geschichte des Hotels zeigten: beachtliche Leistungen im Bergsteigen, Skifahren oder sonstige Aktivitäten der Falls-Familie, daneben Ereignisse wie zum Beispiel die Landung des berühmten Ballonfahrers Hector Velasquez neben dem Lake Luna am Ende seiner faszinierenden Tour «Mit dem Luftschiff durch den ganzen Kontinent» oder den Abend, als die unvergleichliche Fado-Sängerin Helena Ferreira ihr melancholisches Live-Album «Ich sehne mich nach dem Puderzucker meiner Jugend» im voll besetzten Saal der Künste aufnahm, während das Publikum andachtsvoll lauschte und dabei Flurschen naschte. Das Album hatte es an die Spitze der Charts geschafft. Dutzende solcher Szenen schmückten die Wände in Blau auf Cremeweiß. Elizabeth fand, diese Fliesenbilder waren das Allerschönste im Winterhaus. Es gab sogar ein Bild ihrer Mutter als junges Mädchen. Der jüngste Mensch, der je den Mount Arbaza bestiegen hat: Die abenteuerlustige und furchtlose Winifred Falls, 11 Jahre alt lautete die Inschrift unter dem Bild, auf dem Winnie in einem dicken Parka auf dem Gipfel des Berges stand. Jedes Mal, wenn sie dieses Bild anschaute, war Elizabeth tief bewegt: Sie fühlte sich stolz und energiegeladen und gleichzeitig traurig, dass sie ihre Mutter vor acht Jahren verloren hatte.
Abgesehen von seiner Schönheit besaß der Raum allerdings noch eine andere, tiefere Bedeutung. Als Norbridge Elizabeth vor ein paar Monaten hierhergebracht hatte, war sie erst die fünfte Person, die diesen Raum betrat, nach Norbridges Großvater Nestor, Nestors Sohn Nathaniel, Norbridge selbst und Winnie. Die ersten drei waren die Männer, die das Winterhaus in seiner 120jährigen Existenz geleitet hatten, und die vierte Person war die Tochter, die dazu bestimmt gewesen war, das Hotel eines Tages zu übernehmen, ehe sie verschwand und frühzeitig den Tod fand. Und schließlich Elizabeth selbst. Sie erinnerte sich an Hyrums Frage von vorhin, ob sie eines Tages von Norbridge das Zepter übernehmen würde.
Norbridge lud Elizabeth mit einer Handbewegung ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf einen ausladenden Eichenholzstuhl und betrachtete sie einen Moment. Dann fragte er: «Wie war das Skilaufen heute?»
«Mir ist etwas Komisches passiert», antwortete sie, und dann erzählte sie ihm, was vorgefallen war, nachdem sie das rote Taschentuch am Baum entdeckt hatte. Norbridge lauschte aufmerksam, nickte hin und wieder und stellte die eine oder andere Frage. Als Elizabeth erwähnte, dass sie unterwegs Hyrum getroffen habe, starrte Norbridge zu Boden und strich sich über den Bart.
«Hm, das alles beunruhigt mich», sagte er. «Diese Mine ist seit 1887 versiegelt, und von dem Ende aus, das du gefunden hast, führt kein Weg hinein …» Er schaute nachdenklich zu dem hohen Fenster und strich wieder über seinen Bart. «Und du sagst, dass du wieder dieses seltsame Gefühl hattest? Und dass du einen roten Schimmer im Schnee gesehen und gespürt hast, wie der Boden erbebte?»
«Genauso war’s», sagte Elizabeth. Sie wusste, dass ihr Bericht besorgniserregend war. Deshalb hatte sie Norbridge ja so schnell wie möglich einweihen wollen. Als sie jetzt erkannte, wie sehr ihn das Ganze aufwühlte, wurde sie noch nervöser. Aber ein Teil von ihr war auch hocherfreut, dass er sie ernst nahm. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie sich sehr über Norbridge geärgert hatte, weil er ihre Befürchtungen stets abgewiegelt hatte. Dass er nun wirklich und wahrhaftig in Sorge war und nicht den leisesten Zweifel daran hegte, dass ihre Wahrnehmung korrekt war, erfüllte Elizabeth mit Dankbarkeit.
«Was, wenn Gracella noch einmal versucht, zurückzukommen?», fragte Elizabeth. Sie dachte an das rote Taschentuch, das ganz offensichtlich mit einer bestimmten Absicht dort festgebunden worden war. «Und was, wenn jemand versucht, ihr zu helfen?»
Norbridge zögerte. «Aber dann stellt sich die Frage: Wer?»
Darüber hatte Elizabeth auch schon nachgedacht, und zwar seit sie der versiegelten Mine den Rücken gekehrt hatte. So viele Verdächtige gab es nicht. Gracellas Tochter Selena war in den unterirdischen Gängen gestorben, als Gracella Elana die Lebensjahre ausgesaugt hatte, und Elanas Eltern und ihr Bruder waren gleich darauf aus dem Hotel geflohen. Norbridge hatte seine Fühler ausgestreckt, um sie aufzuspüren, aber außer einem vagen Bericht über einen befreundeten Hotelier auf Malta, dass eine Familie, auf den die Beschreibung der Powters passte, in einer Ferienanlage namens Malstella Villa in der Nähe von Venedig gesehen worden sei, hatte er nichts zutage fördern können. Außer Elanas Familie fiel Elizabeth niemand ein, der Gracella wieder zum Leben erwecken wollte.
«Ich weiß es wirklich nicht», sagte sie. «Aber Freddy hat etwas über die Dredforth-Methode herausgefunden.» Sie erzählte ihm von dem «Blutroten Skarabäus», und Norbridge beugte sich interessiert vor.
«Vielleicht kannst du mir nachher helfen, diesen Internet Webplatz aufzurufen», sagte er. «Sagt man das so? Internet Webplatz?»
Elizabeth lächelte. «Sag einfach Website.»
Norbridge schwieg. Er deutete nur mit zwei gespreizten Fingern auf seine Augen, als ob er sagen wollte: Wir müssen beide Augen offen halten.
«Nun zu etwas ganz anderem», sagte er. «Ich wollte dir eine Neuigkeit mitteilen. Du weißt ja, dass ich mir große Sorgen um Elana mache und mir den Kopf zerbrochen habe, wie wir ihr helfen können. Idealerweise versetzen wir sie wieder in das Alter von zwölf Jahren, aber das ist nicht so einfach, wie es klingt.»
Elizabeth runzelte die Stirn. «Also, für mich klingt das ganz und gar nicht einfach.»
«Vollkommen richtig», sagte Norbridge. «Was es noch schwieriger macht, diese Nuss zu knacken. Wir sind wie ein Boot auf einem Fluss, ohne Paddel, wie ein Schneeball im Feuer von …» Er verstummte und wedelte seufzend mit der Hand, als wollte er die kleinen Metaphern vertreiben, die er so mochte und die Elizabeth so amüsant fand. «Ich weiß mir keinen Rat. Und da ich im Augenblick den Alterungsprozess nicht umkehren kann, wollte ich eine Möglichkeit finden, Elanas Traurigkeit etwas zu mildern und ihr zu helfen, wieder etwas munterer zu werden. Und ich bin sehr glücklich, dass sich diese Veränderung nun von selbst einzustellen scheint.» Norbridge beugte sich noch ein Stück weiter vor und musterte Elizabeth mit ernster Miene. «Ich habe heute Morgen eine Stunde mit ihr gesprochen und sie scheint endlich ein bisschen mehr sie selbst zu sein, nach all diesen Wochen. Sie ist verständlicherweise sehr traurig, aber immerhin kommuniziert sie wieder.»
«Das ist ja großartig!», sagte Elizabeth, nicht ohne sich gleichzeitig zu fragen, ob es auch eine Kehrseite zu Elanas Munterkeit gab. Vielleicht würde sie nun noch klarer begreifen, wie ausweglos ihre Situation war. «Ich wünschte, ich könnte etwas für sie tun.»
«Nun, ich denke, das kannst du. Sie möchte nämlich mit dir reden. Heute Abend, nach dem Abendessen, werden wir beide sie besuchen. Du kannst bestimmt helfen, sie ein wenig aufzurichten.»
Elizabeth war sich nicht sicher, ob das eine so gute Idee war. Sie war schon mehrmals bei Elana gewesen – aber nur, während sie schlief –, um ein Gebet zu sprechen, oder zwei oder drei, für irgendeine Art der Genesung.
«Meinst du wirklich?», fragte Elizabeth.
Norbridge hob die Hand. «Ich bin mir vollkommen sicher. Aber ich will dir zuerst etwas sagen. Sie weiß über vieles Bescheid, was für dich und mich wichtig ist. Ihre Eltern hatten keine Geheimnisse vor ihr, und Elana hat gut zugehört. Sie hat mir bestätigt, dass Gracella tatsächlich für den Tod deiner Eltern verantwortlich ist.» Er senkte den Blick und fuhr mit leiser Stimme fort: «Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen. Ich weiß, wie schmerzhaft das für dich ist – genauso schmerzhaft wie für mich.» Norbridge legte einen Moment lang die Hand vor den Mund, ehe er fortfuhr. «Tatsache ist, dass Gracella deine Mutter und deinen Vater aufspürte und ihr Auto mit schwarzer Magie von der Straße drängte. So jedenfalls erzählte es mir Elana.»
Elizabeth fühlte, wie ihr Magen nach unten sackte. Während der letzten Weihnachtsferien hatte Norbridge ihr erzählt, was er über den Tod ihrer Eltern, Winnie und Ferland Somers, herausgefunden hatte. Sie waren bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben gekommen, als Elizabeth vier Jahre alt war.
«Auf ein Detail, das Elana mir anvertraute, wäre ich niemals von selbst gekommen», fuhr Norbridge fort. «Sie sagte mir, dass Gracella ihre Lebenskraft dann am besten auffrischen kann, wenn sie … nun, es gibt keine Möglichkeit, die Sache zu beschönigen … wenn sie das Leben eines Mitglieds der Falls-Familie auslöscht. Ich dachte, sie sei einfach nur eine skrupellose Mörderin, die ihre Macht dadurch behält, dass sie wahllos andere tötet. Aber es stellt sich heraus, dass jemand mit dem Blut ihrer eigenen Familie für sie das ideale Opfer darstellt.» Norbridge schloss die Augen und erschauerte. «Allein darüber nachzudenken ist schrecklich, geschweige denn, darüber zu reden.»
Elizabeth schlug die Hände vors Gesicht. Sie dachte an ihre armen Eltern, an das Feuer und die Geräusche des Unfalls; die Erinnerung daran war nur verschwommen in ihrem Geist.
Sie ließ die Hände wieder sinken. «Warum bin ich nicht auch gestorben?»
Norbridge hob einen Finger und hielt für einen Moment inne. «Vielleicht, weil du die Letzte oder die Jüngste bist oder aus einem anderen Grund, der mir noch nicht klar ist. Aber sie konnte dich nicht zusammen mit deinen Eltern vernichten. Im Gegenteil: Als sie ihre Macht einsetzte, um euch alle drei loszuwerden, wäre sie dabei fast umgekommen. Im letzten Moment hat sie sich selbst gerettet, und zwar mit …»
«… der Dredforth-Methode?», fiel ihm Elizabeth ins Wort.
«Korrekt. Gracellas Helfershelfer – und ich bin mir ganz sicher, dass Selana und ihr Ehemann an vorderster Front standen – haben ihren Körper bewahrt. Elana erklärte mir auch, wie ihre Familie versuchte, dich dazu zu bringen, die Macht deiner Halskette für ihre Zwecke zu aktivieren.» Er tippte sich an die Schläfe. «Wir haben Glück, dass du nicht nur clever bist, sondern auch die Willenskraft hattest, allen Attacken zu widerstehen. Du hast Winterhaus schon zum zweiten Mal gerettet.»
Elizabeth fühlte, wie ihre Traurigkeit einer unbändigen Wut wich. Sie stellte sich vor, wie Gracella, Selena und all die anderen ihre bösen Pläne schmiedeten, einzig zu dem Zweck, sich einen Vorteil zu verschaffen und Winterhaus sowie die Menschen, die Elizabeth liebte, ins Unglück zu stürzen.
«Aber ich konnte meine Eltern nicht retten», sagte sie scharf.
«Du warst vier Jahre alt. Und Gracella war eine mächtige Zauberin.»
«Ich bin die einzige Überlebende.» Elizabeth hob die Stimme ein wenig und starrte Norbridge an. «Und vielleicht ist Gracella immer noch nicht wirklich tot.»
Norbridges Miene wurde ganz ruhig und seine Stimme sanft. «Elizabeth», flüsterte er.
Aus irgendeinem Grund regte sie das noch mehr auf, und trotz des Versuchs ihres Großvaters, sie zu trösten und zu beruhigen, geriet ihr Blut in Wallung. Das Gefühl erhob sich – ungebeten, wie es manchmal passierte, wenn sie es nicht kontrollieren konnte –, und sie lenkte ihren zornigen Blick auf ein Buch auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa. Mit einem Aufbrausen flog das Buch vom Tisch und knallte links von Elizabeth gegen die Wand, ehe es auf den Teppich fiel. Elizabeth hatte das nicht kommen sehen und war erschrocken – aber ein Teil von ihr war auch sehr zufrieden mit sich selbst. Dieses Gefühl von Macht war erregend. Mit einem erwartungsvollen, triumphierenden Gesicht schaute sie Norbridge an, obwohl sie den Vorfall nicht bewusst ausgelöst hatte.
Er allerdings blickte sie streng an, die Stirn drohend gerunzelt. Warnend richtete er einen Finger auf sie. «Tu das nicht!», fuhr er sie heftig an.
Elizabeth war wie vor den Kopf gestoßen. «Aber ich …»
«Ich sagte: Tu das nicht!», wiederholte Norbridge, noch lauter diesmal. «Du musst dich beherrschen. Zu jeder Zeit!»
Die Heftigkeit von Norbridges Reaktion verunsicherte Elizabeth, aber das Gefühl von Zufriedenheit über ihre eigene Macht war immer noch nicht gewichen. «Worüber regst du dich so auf?», fragte sie.
«Weil mir das nicht gefällt», sagte Norbridge und hob die Hand. «Meine Schwester hat solche Dinge getan, als sie in deinem Alter war. Ich mochte es bei ihr nicht, und bei dir mag ich es noch viel weniger.» Wieder hob er warnend die Hand. «Sie hat sich hinreißen lassen.»
Elizabeth verspürte den Drang zu erklären, dass er unmöglich diese Befriedigung verstehen konnte, die sie empfunden hatte, als sie das Buch gegen die Wand geschleudert hatte. Etwas an diesem Gefühl weckte in ihr beinahe eine Art Verständnis dafür, warum Gracella sich hatte «hinreißen lassen».
«Du hast mir gesagt, dass niemand im Winterhaus ihr zugehört hat», sagte Elizabeth mit mehr Erbitterung, als sie beabsichtigt hatte. «Vielleicht war sie bloß …» Elizabeth bereute die Worte, sobald sie ausgesprochen waren, auch wenn sie den Satz nicht vollendete. Norbridges Stirn legte sich in noch tiefere Falten, und er bedachte sie mit einem Blick, als würde er sie nicht wiedererkennen. Schweigen hing zwischen ihnen, dann stand Norbridge auf und ging zu dem Buch, das noch immer auf dem Boden lag. Langsam bückte er sich, hob es auf und legte es vorsichtig wieder auf den Tisch, mit der Vorderseite nach oben. Der Titel lautete Die Chroniken von Nord-Sembla.
«Ich werde vergessen, was eben vorgefallen ist», sagte er. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und widmete sich ein paar Unterlagen, ohne Elizabeth noch einmal anzuschauen. «Wir treffen uns um halb acht vor Elanas Zimmer.» Plötzlich schien er sehr beschäftigt zu sein.
Nach einer ganzen Weile, in der niemand mehr etwas sagte, stand Elizabeth auf und verließ schweigend das Zimmer.