Kitabı oku: «Die Magie von Winterhaus», sayfa 4

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KAPITEL 6
EIGENE WEGE HEIMLICH GEHEN

Elizabeth war verwirrt – sie schämte sich und fühlte sich gleichzeitig ungerecht behandelt –, und als sie vom dreizehnten Stock über die Treppe nach unten ging, war sie sich nicht schlüssig, was sie am meisten aufwühlte: die unangekündigte Manifestation ihrer Macht, die Aussicht auf ein Gespräch mit Elana oder die Neuigkeiten über ihre Eltern. All das hatte sie tief getroffen, besonders nach dem merkwürdigen Ereignis an der Ripplington Mine.

Aber musste Norbridge gleich so wütend werden?, dachte sie. Natürlich hatte sie ihn schon früher zornig erlebt, aber diesmal schien es ernster zu sein als sonst.

Sie grübelte weiter darüber nach und merkte, wie sich ihre Laune immer mehr verschlechterte. Den Rat, den Leona ihr einmal gegeben hatte – dass nicht andere ihre Gefühle kontrollieren, sondern nur sie selbst –, ließ sie nicht an sich heran. Und dann, als sie in den Flur im dritten Stock trat, sah sie, dass Freddys Werkstatttür offenstand. Abrupt blieb sie stehen, schaute sich um und überlegte, was es bedeuten konnte, dass ein Zimmer, das seit der Silvesternacht verschlossen gehalten wurde, plötzlich wieder zugänglich war. Vor fast drei Monaten war sie zum letzten Mal in der Werkstatt gewesen, als sie und Freddy den vierten und letzten Eingang in die geheimen Gänge unter dem Hotel hinter einer Wand aus Kisten gefunden hatten. Durch diesen Eingang hatten sich Gracella, Selena und Elana in die Tunnel geschlichen.

Elizabeth stand da und lauschte. Dann ging sie leise weiter, ohne den Blick von der Werkstatttür abzuwenden. Von drinnen kam kein Geräusch, und sie verspürte auch keinen Hauch des Gefühls in sich. Sie berührte leicht den Türgriff und trat dann in den Raum, der noch genauso aussah wie beim letzten Mal: eine Werkbank in der Mitte, die Werkzeuge an den Wandhaken, jede Menge Holzplanken und Sägeböcke und überall Schränke und Regale. Die einzige Veränderung war, dass der vierte Eingang nun vollkommen zugemauert war. Elizabeth starrte die Wand an: Wenn irgendjemand noch einmal versuchen sollte, in die Tunnel zu gelangen, dann garantiert nicht von hier aus.

Sie ging zu der Stelle, wo sich die Tür befunden hatte, und fuhr mit den Händen über die rauen Backsteine. Dann klopfte sie leicht dagegen, als wollte sie überprüfen, ob sie auch echt waren. Aus einem Impuls heraus legte sie das Ohr gegen die Wand und lauschte, genauso, wie sie es vor drei Monaten getan hatte. Damals hatte sie ein weit entferntes Summen gehört und war diesem Geräusch gefolgt, bis sie tief unter dem Winterhaus auf eine rätselhafte Eisskulptur gestoßen war, die ihr geholfen hatte, die Macht in ihrer Halskette zum Leben zu erwecken. Und als sie jetzt ihr Ohr gegen die Wand drückte, erkannte sie zu ihrer großen Überraschung, dass das Geräusch immer noch da war! Sie hielt den Atem an und schloss die Augen. Das Summen war so leise, dass sie es kaum hören konnte – aber es gab keinen Zweifel: das gleiche Summen wie an Weihnachten.

Mit einem Ruck wich Elizabeth von der Wand zurück und schaute sich hektisch um. Sie erinnerte sich an etwas, und ohne darüber nachzudenken, was sie vorhatte, ging sie zu den Haken an der Wand, an denen die Werkzeuge hingen. Rechts davon, etwa in Hüfthöhe, hing ein silberner Generalschlüssel – jener Schlüssel, mit dem Elizabeth vor zwei Jahren die Tür zu Gracellas Zimmer aufgeschlossen hatte. Sie warf einen Blick zu der offenen Tür, dann nahm sie den Schlüssel vom Haken und verließ den Raum. Mit schnellen Schritten marschierte sie durch den Gang und bog dann links ab, zu Zimmer 333. Einen Augenblick später stand sie vor Gracellas Tür.

Zimmer 333 war eine Absonderlichkeit im Winterhaus, und es war der eine Ort, vor dem Elizabeth zurückschauderte, seit sie hier wohnte. Das Zimmer befand sich am Ende eines dunklen Korridors, von dem keine weiteren Türen abgingen, als ob der Gang von vornherein als Sackgasse geplant gewesen war, nur für dieses einzelne Zimmer. Die Deckenlampe vor der Tür leuchtete stets etwas trüber als alle anderen Lampen des Hotels, und auf einem kleinen Zettel neben dem Schloss an der Tür stand ZUTRITT VERBOTEN. Alles an Zimmer 333 wirkte düster, und oft konnte Elizabeth kaum glauben, dass sie einmal den Mut aufgebracht hatte, hineinzugehen. Jetzt ignorierte sie all ihre Befürchtungen; sie sagte sich, dass sie lediglich wissen wollte, ob das Anna Lux-Buch noch dort lag, wo sie es zurückgelassen hatte.

Elizabeth schloss die Tür auf und trat ein, wobei sie das Licht einschaltete. Es hatte sich nichts verändert: ein Bett in der Ecke, mit einer Wolldecke und blauen Kissen, ein klobiger Schreibtisch, ein leeres Bücherregal und ein paar Stühle. Alles war so schlicht und uninteressant wie damals, als sie das erste Mal in diesem Zimmer gewesen war.


Sie ging direkt zum Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf – und dort lag das Buch: grau, schmucklos, fest gebunden, als ob es all die Monate nur auf sie gewartet hätte, Die geheime Unterweisung der Anna Lux.

Genau da, wo es die ganze Zeit war, dachte Elizabeth.

Das Gefühl summte durch sie hindurch. Sie griff sich das Buch, schlug das erste Kapitel auf und las den ersten Satz – Worte, die sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten: Es war einmal ein Mädchen, das so sehr von Magie und Zauberei und allerlei rätselhaften Dingen fasziniert war, dass es beschloss, eine Hexe zu werden.

Sie wollte das Buch zurücklegen und das Zimmer verlassen, aber aus irgendeinem Grund blätterte sie zum Vorsatzpapier ganz vorne im Buch. Und dort fand sie eine Widmung, geschrieben mit schwarzer Tinte und in einer ordentlichen Handschrift: Für Gracella – eines Tages wirst du allen zeigen, was sie nicht erkannt haben. Damien Crowley.

Elizabeth legte die Hand an die Stirn. Jemand näherte sich. Rasch legte sie das Buch zurück, schloss die Schublade und durchquerte mit schnellen Schritten den Raum. Sie lugte durch die Türöffnung, sah niemanden im Gang, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer. In dem Moment, als sie die Tür abschloss, kam Sampson um die Ecke.

«Elizabeth!», rief er. «Was machst du da?»

«Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört.» Elizabeth schaute hinter sich zu Gracellas Tür.

Sampson kam zu ihr und blieb neben ihr stehen. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er die Tür, als ob er allein durch die Macht der Konzentration herausfinden könnte, ob sich jemand in dem Zimmer befand. Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Elizabeth und sagte: «Vielleicht hast du nur den Sturm draußen gehört. Der Raum ist verschlossen.»

Zögernd erwiderte sie sein Lächeln. «Das wird es sein. Der Sturm.»

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über den Gang.

«Sag mal, war die Werkstatttür offen?», fragte Elizabeth. Der Schlüssel in ihrer Tasche fühlte sich bleischwer an, und ihr wurde klar, dass sie ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurückbringen musste.

«Ganz richtig», grinste Sampson. «Mr. Norbridge will, dass ich …» Er schlug die Hand vor den Mund, ließ sie wieder sinken und sagte: «Nun, das wirst du schon bald sehen. Meine Lippen sind versiegelt.»

Elizabeth lachte erleichtert. Sie war froh, dass sie nicht länger über Zimmer 333 redeten.

«Ich verstehe schon, Sampson», sagte sie. «Hier ist doch ständig irgendwas los.»

Er nickte ihr zu. «Da hast du recht.» Und mit einem letzten Blick auf Zimmer 333 sagte er: «Aber jetzt muss ich mich wieder an die Arbeit machen. Und du solltest dich nicht in diesem Gang herumtreiben.»

«Einverstanden. Ich folge dir», sagte sie leichthin. Und als sie hinter Sampson durch den Korridor ging und er ihr erklärte, wie herrlich das Osterfest im Winterhaus werden würde, kreiselte ein einziger Gedanke durch Elizabeths Kopf: Damien Crowley hatte das Buch für Gracella dort hingelegt. Unter diesem Gedanken lag ein anderer, tieferer, einer, der nicht so leicht zum Schweigen gebracht werden konnte, weil er den Worten, die sie sich selbst oft sagte, einfach zu ähnlich war: Eines Tages wirst du allen zeigen, was sie nicht erkannt haben.


KAPITEL 7
ES SENKT SICH ERSCHROCKENE STILLE ÜBER DEN SAAL

Der Wintersaal sah wie immer festlich und fröhlich aus. Auf den mit blütenweißen Tischdecken überzogenen runden Tischen waren glänzende, edle Porzellanteller gedeckt, und die Kronleuchter funkelten wie Sternenhaufen, die hoch oben an der Decke schwebten. Die großen Fenster spiegelten so viel Licht und Farbe wider, dass der weitläufige Saal endlos erschien. Das Einzige, was auffiel, war der Umstand, dass nicht jeder Platz besetzt war. Wenn jemand daran gezweifelt hätte, dass Mitte März für das Hotel und seine Angestellten die ruhigste Zeit des Jahres war, hätte er sich mit einem Blick in den Wintersaal selbst davon überzeugen können. Im Kamin am vorderen Ende des Raums prasselte zwar ein fröhliches, nach Tannenholz duftendes Feuer und die wohlklingenden Töne von Bachs Goldberg-Variationen plätscherten aus unsichtbaren Lautsprechen in den vier Ecken des Saals, aber trotzdem konnte nichts darüber hinwegtäuschen, dass der Raum nur halb voll war.

Elizabeth trat durch eine kleine Seitentür und betrachtete die üppig gedeckten Tische. Sie aß alle Mahlzeiten hier, wenn sie nicht in der Schule war, aber der Anblick – und vor allem der Gedanke, dass dieses großartige Hotel jetzt ihr Zuhause war und sie nie wieder nach Drere zurückkehren musste – fühlte sich immer noch neu und fantastisch an. Sie zupfte ihren Pullover zurecht und horchte auf, als der wütende Sturm gegen die Fenster des Saals drückte. Während der vergangenen Stunde hatte sie sich allmählich dazu durchgerungen, jeden Groll gegen Norbridge beiseite zu lassen, und sie beschloss, zumindest für den Augenblick nicht mehr daran zu denken, dass sie sich in Gracellas Zimmer geschlichen hatte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr Geist überquoll vor Grübeleien, und sie wollte einfach nur das Abendessen im Wintersaal genießen.

«Wir sollten uns schnell einen Platz sichern, bevor alles besetzt ist», sagte jemand hinter ihr. Elizabeth drehte sich um. Vor ihr stand Leona Springer, die Bibliothekarin des Hotels und die Person, mit der Elizabeth am vertrautesten war. Es lag nicht nur daran, dass Leona Bücher genauso liebte wie sie, Elizabeth konnte auch mit ihr über fast alles reden, selbst über die Probleme, die sie zuerst selbst zu lösen versuchte, ehe sie damit zu Norbridge ging. Leona schien immer in der Lage zu sein, eine Sache aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, und Elizabeth hatte großen Respekt vor ihrer Meinung.

«Hallo Leona», sagte Elizabeth und umarmte ihre Freundin. «Geh voraus, aber pass auf, dass du dich in dieser Menschenmenge nicht verirrst.»

«Und du behalte meinen Dutt im Blick», sagte Leona, «damit wir uns in dem Gedränge nicht verlieren.» Sie lachte laut auf und ging an Elizabeth vorbei. «Komm, suchen wir deinen ehrgeizigen Lehrer, Mr. Crowley. Er hat während der letzten ein, zwei Stunden in meiner Bibliothek gedöst … ähm, studiert, meine ich natürlich, während ich dieses tolle Buch gelesen habe, das du mir empfohlen hast. Die Sterne unter meinen Füßen, ein echter Hammer!»

«Freut mich, dass es dir gefallen hat», sagte Elizabeth und dachte einmal mehr, wie schön es war, eine Freundin wie Leona zu haben. Sie entdeckte Hyrum an einem Tisch im vorderen Bereich des Saals, neben ihm Professor Egil P. Fowles und die beiden Puzzle-Männer mit ihren Ehefrauen. «Ich habe Hyrum heute beim Skilaufen getroffen», sagte Elizabeth.

«Das hat er mir erzählt», nickte Leona. Sie blieb stehen und bedachte Elizabeth mit einem ernsten Blick. «Dieser junge Mann ist wahrhaft ein Gelehrter. Heute hat er Herbert Munchglicks Chaos und Charisma aus dem Regal geholt, dazu noch Die Peruvianischen Salzseen – ein geschichtlicher Abriss von Shannon Okello, Perlowskis Berichte von seinen Reisen nach Uqbar, und er hat sogar Marshall Falls’ altes Tagebuch durchgeblättert. Eine sehr außergewöhnliche Auswahl!» Leonas Augen weiteten sich erfreut, und Elizabeth drehte sich um. «Schau, er winkt uns zu.»

Kurz darauf hatten Elizabeth und Leona Platz genommen und alle anderen an dem runden Tisch begrüßt. Mrs. Rajput und Mrs. Wellington trugen elegante Abendkleider und funkelnde Juwelen und freuten sich sehr, Elizabeth wiederzusehen. Und Professor Fowles war von ihrer Anwesenheit so begeistert, dass man hätte meinen können, er würde gleich in Jubelgeschrei ausbrechen, obwohl er Elizabeth an fünf Tagen die Woche in der Schule begegnete.

«Elizabeth! Elizabeth!», sagte er aufgekratzt. Er trug wie immer seinen braunen Tweedanzug, dessen Stoff so dick war, dass er draußen im Schnee kaum einen Mantel brauchte. «Wie wunderbar, dich zu sehen!» Er schüttelte erst Elizabeths und dann Leonas Hand. «Und unsere liebreizende Bibliothekarin!», setzte er hinzu, bevor er auf seine Armbanduhr schaute, «welche die Türen der Bibliothek täglich außer sonntags um Punkt neun Uhr öffnet. Ich freue mich sehr über Ihre Gesellschaft.»

Es dauerte nicht lang, da setzte sich auch Norbridge zu ihnen – der Elizabeth kaum merklich zuzwinkerte –, und dann wurden Teller mit köstlichem Fisch und Süßkartoffeln, grünen Bohnen und Maisbrot mit Körnern aufgetragen. Alle Anwesenden – bis auf den düster dreinblickenden Mr. Rajput – erfreuten sich an dem leckeren Essen, den angenehmen Gesprächen und dem fröhlichen Gelächter. Elizabeth genoss den Abend so sehr, dass sie beinahe den Vorfall an der Mine, ihre Sorge wegen Elana und ihren unerlaubten Besuch in Zimmer 333 vergaß. Mit einem leisen Schuldgefühl dachte sie an das Puzzleteil, das sie in ihrer Schreibtischschublade versteckt hatte.

«Ich weiß nicht, ob allen Anwesenden bekannt ist», erklärte Professor Fowles, nachdem die leeren Teller abgeräumt waren und der Nachtisch in Form von Brombeertörtchen und Vanilleeis serviert wurde, «dass unser fleißiger Mr. Hyrum Crowley» – bei diesen Worten legte Egil eine Hand auf den Rücken des jüngeren Mannes und strahlte ihn an – «sowohl seinen Abschluss als Lehrer anstrebt als auch gleichzeitig ein Studium in vergleichender Literaturwissenschaft betreibt. Hyrum, vielleicht können Sie den Anwesenden von ihren augenblicklichen Forschungen erzählen.»

Hyrum, der immer noch den blaugestreiften Pullover trug, den er beim Skilaufen unter seiner dicken Jacke angehabt hatte, wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab und legte die Arme auf den Tisch. Elizabeth dachte – nicht zum ersten Mal – dass er die geradeste Kinnlinie hatte, die sie je gesehen hatte, und dass sie noch nie erlebt hatte, wie jemand sich so zielgerichtet bewegte. Alle am Tisch sahen ihn erwartungsvoll an.

«Vielen Dank, Mr. Fowles», sagte Hyrum. «Es stimmt, während ich in Havenworth mein Referendariat mache, schreibe ich gleichzeitig an meiner Abschlussarbeit für die Universität, und zwar über Märchen, genauer gesagt, über alte Märchen. Die sind ziemlich furchterregend und … na ja, viel blutiger, als die meisten Leute wissen.» In gespieltem Entsetzen riss er die Augen auf. «Es ist sehr interessant, all die gruseligen Dinge zu erforschen, die hinter den angeblich so harmlosen Geschichten stecken, die wir alle aus Bilderbüchern und Filmen kennen.»

«Ein würdiger Erbe für das schauerliche Vermächtnis Ihres Großvaters», sagte Mr. Rajput mit ernster Miene. «Seine Bücher haben unzähligen Lesern schlaflose Nächte und fürchterliche Albträume beschert …»

«Mr. Rajput», sagte Mr. Wellington, «bitte, Sir. Sie sehen immer alles gleich schwarz. Das ist der Stimmung sehr abträglich. Sie sind mein guter und treuer Freund, aber ich möchte doch um etwas mehr Rücksicht bitten.»

Mrs. Rajput legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. «Mein Lieber», sagte sie freundlich und nickte zu Elizabeth hin. «Wir wollen doch niemanden ängstigen.»

«Ach, schon gut», sagte Elizabeth. «Ich habe schon viele Bücher von Damien Crowley gelesen. Colin Dredmares Kammer der Verzweiflung, Die Dunkelheit nach Mitternacht. Einen ganzen Haufen. Norbridge hat mir eins geschenkt, als ich das erste Mal im Winterhaus war.»

Vor ihrem inneren Auge sah Elizabeth das Anna Lux-Buch in der Schublade von Gracellas Zimmer. Sie hatte Norbridge nie danach gefragt – natürlich nicht –, aber es war ihr immer seltsam vorgekommen, dass Norbridge ihr ausgerechnet ein Buch von Damien Crowley geschenkt hatte, demselben Autor, der auch das Buch geschrieben hatte, das in Gracellas Zimmer lag.

«Damiens Werke waren früher bei den Gästen dieses Hotels sehr beliebt», sagte Leona. «Und bei vielen anderen Leuten ebenfalls. Aber ich fürchte, er ist aus der Mode gekommen. Die Leser von heute halten ihn für ‹ein bisschen zu makaber›. In Schulen und Bibliotheken findet man seine Bücher kaum noch.»

«Er ist in Havenworth aufgewachsen, wissen Sie», sagte Norbridge zu Mr. Rajput. «Ein echtes Original. Er ist oft im Winterhaus gewesen, als ich jung war.»

«So etwas wird heute nicht mehr geschrieben», sagte Egil P. Fowles. «Beunruhigend, aber mit Stil. Er hatte Geschmack!» Der Professor betrachtete seinen Nachtisch. «Er war mit Avery Dimlow befreundet, soweit ich mich erinnere. Mit dem alten Buchhändler in Havenworth.»

Ein Schauer durchzuckte Elizabeth. Sie war oft in Avery Dimlows Buchladen gewesen, auch wenn Avery selbst ein bisschen schrullig war. Aber sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es eine Verbindung zwischen ihm und Damien Crowley gab.

«Ich kannte meinen Großvater kaum», sagte Hyrum. Er senkte den Blick. «Meine Mutter sagte immer, je älter er wurde, desto wunderlicher wurde er auch.»

«Wunderlicher?»

Hyrum warf den anderen am Tisch einen verstohlenen Blick zu. «Nun, er interessierte sich für … na ja, für Magie. Echte Magie. Schwarze Magie, sagt man.»

«Vielleicht hat er Forschungen angestellt», mutmaßte Mr. Wellington, «für seine Bücher.»

Schulterzuckend widmete sich Hyrum wieder dem Brombeertörtchen auf seinem Teller. «Ich weiß es nicht. In unserer Familie wurde nicht darüber geredet. Alle haben ihn nur den ‹komischen alten Damien› genannt. Ich habe nicht alles von ihm gelesen, aber ich weiß, dass seine Bücher mit der Zeit immer merkwürdiger wurden. Die Geschichten hatten ständig irgendetwas mit Magie zu tun.» Hyrum schob sich die Gabel mit einem Stück Törtchen in den Mund und kaute. Dann sagte er: «Ich persönlich finde seine späteren Bücher eher langweilig. Da gibt es eins mit dem Titel Die abscheuliche Rache des elektrischen Dosenöffners, das so gut wie unlesbar ist.»

«Ich bin ihm einmal begegnet», ließ sich Mrs. Wellington leise vernehmen, und alle wandten sich ihr zu. Draußen heulte eine Windböe auf. «Hier im Winterhaus. Damals war ich elf Jahre alt.»

Das Interessante an Mrs. Wellington war, dass sie eine Menge über die Geschichte des Hotels wusste, weil sie einmal als Kind mit ihrer Familie geraume Zeit hier verbracht und sich in Winterhaus verliebt hatte. Dieser Vorliebe für das Hotel war es zu verdanken, dass sie und ihr Mann und ihre Freunde, die Rajputs, so oft herkamen.

«Vielleicht erinnern Sie sich noch, Norbridge», fuhr Mrs. Wellington fort. «Ich glaube, Damiens zweites Buch, Der Turm der Schatten und die unersättliche Schlinge, war gerade erschienen und er kam eines Tages zum Abendessen.» Ein unsicherer Ausdruck überzog ihr Gesicht. «Du liebe Güte, ob ich wirklich weitererzählen soll?»

Wieder durchlief Elizabeth ein Schauer; sie spießte ein Stück Törtchen auf und schob es sich schnell in den Mund, um ihr Unbehagen zu überspielen.

«Bitte, fahren Sie fort», sagte Professor Fowles. «Sie haben uns neugierig gemacht. Wir zappeln sozusagen am Haken!»

Mrs. Wellington schaute sich am Tisch um und blickte dann zu Hyrum. «Wenn ich mich an diesen Abend recht entsinne, hielt Ihr Großvater Norbridges Schwester Gracella für sehr charmant. Sehr reif für ihr Alter. Sie war elf und er fast dreißig. Aber er stellte ihr während des Abendessens eine Reihe von Fragen, und es war nicht zu übersehen, dass sie in seinen Augen außerordentlich intelligent war. Er sagte: ‹Nun, vielleicht werde ich eines Tages ein ganz besonderes Buch für dich schreiben›, woraufhin wir alle lachten. Ich glaube, ich war sogar ein bisschen eifersüchtig. Sie wissen ja, wie man in diesem Alter so ist.» Ihr Blick wanderte zu Elizabeth, und sie wiegte reumütig den Kopf. «Oder in jedem Alter! Wie auch immer, das war’s. Keine besonders aufregende Geschichte, fürchte ich.» Sie fingerte an dem glitzernden Stein an ihrem Ohrring herum. «Sie erwähnten, dass er ziemlich oft im Winterhaus war, Norbridge», sagte sie dann. «Können Sie sich noch an seinen letzten Besuch erinnern?»

«In der Tat», sagte Norbridge. Es war Elizabeth nicht entgangen, dass ein Schatten über sein Gesicht gewandert war, während er zugehört hatte. «Es war vor fast fünfundzwanzig Jahren, und er blieb nur eine Nacht. Es war ein völlig ereignisloser Besuch. Er schien sehr müde zu sein. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, war ich sehr überrascht, ihn als Gast begrüßen zu dürfen, weil er so lange nicht da gewesen war und ich ihn aus den Augen verloren hatte. Ich hatte tatsächlich gedacht, er sei gestorben.»

«Ich erinnere mich noch an den Besuch», sagte Egil P. Fowles. «Und ich kann bestätigen, dass wir alle der Meinung waren, der gute Mann sei längst in ein Spukhaus im Himmel umgezogen. Das war irgendwie passend, nicht wahr, Norbridge? Wo doch Crowley so oft über die Toten geschrieben hat, die aus den Gräbern wiederauferstehen.» Er schaute sich am Tisch um. «Ein Skarabäus, ein von den alten Ägyptern verehrter Käfer, kommt in mehreren seiner Romane vor.» Noch einmal ließ er den Blick in die Runde schweifen. «Der Skarabäus ist ein uraltes Symbol für das ewige Leben. Für die Auferstehung.»

Jetzt war Elizabeth hellwach. «Glauben Sie, er hat wirklich über diese Dinge geforscht?», fragte sie mit einem Seitenblick auf Norbridge. «Über echte Magie, meine ich.»

Professor Fowles zog das Kinn ein. «Ich kannte den Mann so gut wie gar nicht, aber ich habe mich ein bisschen über ihn schlau gemacht. Die ägyptologische Gesellschaft von ‹Northern South Dakota› pflegt eine Website mit dem Titel ‹Der blutrote Skarabäus›, wo er hin und wieder erwähnt wird.» Er drehte sich zu Hyrum um. «Haben Sie weitere Informationen darüber, Sir?»

Hyrum tupfte seinen Mund mit der Serviette ab. Mit einer verschmitzten Miene sagte er: «Ich kannte Großpapa Damien eigentlich gar nicht, aber – du meine Güte! – dieses ganze Gerede über ihn wird mir langsam richtig unheimlich!»

Alle am Tisch lachten, und die Anspannung schien zu verfliegen. Aber Elizabeth fiel auf, dass Leona merkwürdig geistesabwesend zu sein schien, obwohl sie in das Gelächter der anderen mit einfiel. An der Geschichte über Damien Crowley war noch mehr dran, da war sich Elizabeth sicher.

«Es ist doch jedem klar, dass ich bei diesem Wetter niemanden vor die Tür lasse», sagte Norbridge und deutete dabei auf Egil und Hyrum. «Die Straßen sind unpassierbar, also müssen Sie über Nacht bleiben. Das wird ein Spaß! Um acht gibt es das Konzert, und danach eine Runde heiße Schokolade für alle! Eine Nacht, die man nicht so schnell vergisst!»

«Wir müssen uns um ein Puzzle kümmern», sagte Mr. Wellington und zwinkerte Mr. Rajput zu. «Musik und Belustigung, alles schön und gut, aber …»

Die Erde rumpelte.

Nicht nur diejenigen an Elizabeths Tisch, sondern alle im Speisesaal erstarrten und rissen die Augen auf. Der Wintersaal bebte etwa fünf Sekunden lang, und als das Rumpeln aufhörte, saßen die Menschen ängstlich da und warteten, was wohl als Nächstes geschehen würde.

Norbridge stand auf. «Wir haben wohl eine ganz außergewöhnliche Wettersituation, eine Kombination aus Schneesturm und Gewitter, ein Schneewitter, sozusagen!», rief er und blickte sich im Saal um. «So etwas passiert nicht oft, aber wenn, dann kann es ziemlich beängstigend sein.» Er legte die Handflächen gegen die Rippen, als wollte er noch mehr sagen, doch dann zögerte er. «Lassen Sie sich Ihren Nachtisch schmecken. Ich werde etwas überprüfen und bin gleich wieder da.»

Er beugte sich zu den anderen an seinem Tisch und sagte: «Ich habe unten in der Nähe der Airhockey-Tische in einem Schrank einen Seismographen. Ich will mir die Auswertungen nur kurz anschauen. Erstaunlich! Ein Schneewitter! Wer hätte das gedacht? Das ist zum letzten Mal vor achtzehn Jahren vorgekommen.»

Er wirbelte herum und rauschte aus dem Saal, wobei ihm alle nachschauten. Ein beunruhigtes Gemurmel erhob sich.

Professor Fowles war sprachlos, und Mr. Rajput schien so verstört zu sein, dass Elizabeth fürchtete, er würde anfangen zu weinen. «Schneewitter?», murmelte er.

«Gibt es so etwas wirklich? Ein Gewitter mit Schnee?», fragte Mrs. Rajput.

«Hätten wir dann nicht zuerst einen Blitz gesehen?», setzte Mr. Wellington hinzu.

Genau das hatte Elizabeth auch gedacht. Aber jetzt galt ihre Sorge Hyrum, der benommen wirkte und so kreidebleich geworden war, als würde er jeden Moment sein Abendessen wieder von sich geben.

«Geht es Ihnen gut, junger Mann?», fragte Leona.

Er zuckte zusammen und wandte sich ihr dann zu. «Bestens», sagte er schwach. Er straffte die Schultern und atmete tief durch. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und der muntere Ausdruck kehrte auf seine Miene zurück. «So eine Erschütterung macht mich einfach nervös», sagte er und zuckte peinlich berührt mit den Schultern. Dann schaute er Elizabeth an. «Möchtest du vielleicht später eine Runde Airhockey spielen?»

Entspannt lachten die anderen auf, und der merkwürdige Moment war vergangen. Man wandte sich wieder dem Nachtisch zu. Aber Elizabeth ging einfach der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass sie auch vorhin, als unter der Mine die Erde gerumpelt hatte, keinen Blitz gesehen hatte.

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